Heldentod und trauernde Frau – Fritz Klimsch und die Seinen

Heldentod und von ganz oben verordnete kollektive Kriegs-Trauer ist in Deutschland seit Afghanistan wieder „zeitgemäß“! Da sollte man sich einige Stunden nehmen und über histoische Friedhöfe schlendern – wegen der historischen Nähe!

Der Alte Garnisonfriedhof an der Linienstraße in Berlin-Mitte bietet sich an, er ist Kunsthistorikern und Preußen-Verehrern vor allem bekannt wegen seiner wertvollen Grabmale aus der Zeit zwischen 1780 und 1848.

Vereinzelt finden sich auch Eisenkreuze und steinerne Monumente zum Gedenken an gefallene junge kaiserliche Offiziere des Ersten Weltkrieges, an Opfer der letzten Straßenkämpfe vom April 1945 und einzelne Werke aus den Perioden des Jugendstils, der Reformkunst und des Historismus. Besucher gehen schnell vorüber, widmen sich mehr den Zeugnissen der Bildhauerkunst eines Friedrich Tieck oder des Designs eines Karl Friedrich Schinkel.

Dieser Gedenkstein im Nordosten des Friedhofs (Feld I) jedoch lädt zum längeren Betrachten ein – erschreckend die eingravierten Daten und bewundernswert die künstlerische Gestaltung, vermutlich entworfen von einem der bekannten Berliner Künstler des Jugendstils.

Der junge Leutnant der 1. mob. Ersatz-Eskadron von Schlotheim, Jägerregiment zu Pferde Nr. 1, Curt von Kruge, verstarb zwei Tage nach seiner tödlichen Verwundung aus den Gefechten in der Nähe des polnischen BLASKI im Krankenhaus von Sieradz am 21. September 1914 – ein Opfer der ersten Wochen des Krieges.

Die Inschrift auf dem Stein verklärt sein sinnloses frühes Sterben zum heiligen Opfer:

Da sein Vater Generalleutnant der kaiserlichen Armee war, konnte ich die Einzelheiten seines Todes in den relevanten Militärunterlagen ohne Schwierigkeiten finden. Die Suche nach den Details des künstlerischen Entwurfs und der handwerklichen Ausführung gestaltete sich jedoch komplizierter. Meine Recherchen verliefen anfangs ins Leere, da am Stein selbst kein Hinweis auf den Bildhauer, auf die Werkstatt oder auf das Datum der Anfertigung des Gedenksteines angebracht ist. Von den Nachfahren des Offiziers war lediglich zu erfahren, dass der Bildhauer zu den bedeutenden Künstlern Deutschlands gehört hatte. Dokumente zur Herstellung des Steines waren nicht mehr vorhanden.
Erfolgreicher war die Suche nach vergleichbaren Darstellungen jenes Motivs der trauernden Frau, herausgeschlagen aus dem schwarzen Marmor.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit zeigten die Vergleiche im deutschen Raum für jene Periode in der ersten Hälfte des 20. jahrhunderts, dass es sich um ein Werk aus der Werkstatt des bekannten Bildhauers Fritz Klimsch (1870 – 1960) handeln könnte.

Zum Lebenslauf und zum Gesamtwerk Fritz Klimsch existiert eine reichhaltige Literatur, nirgends jedoch findet sich ein ausdrücklicher Hinweis auf den Offizier Curt Kruge oder auch nur eine Bemerkung zu einer Arbeit auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof.

Also suchen wir nach Verweisen, Hinweisen, Fingerzeigen, anderen Mitteilungen in jener umfangreichen Literatur, die uns die Richtung angeben könnten, wann und in welchem Kontext diese Skulptur möglicherweise enststanden ist.

Eine Publikation aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, herausgegeben von Herbert Wolfgang Keiser und eingeleitet vom Kunsthistoriker Dr. Werner Rittich:

Interessant für unsere Untersuchung ist der folgende Hinweis bei Werner Rittich (S. 9): „Fritz Klimschs Beziehung zu seinem Werkstoff ist besonders eng. Sehr früh schon kam er zu der Überzeugung, daß er auch seine Stein- und Holzbildwerke selbst aus dem Material herausschlagen oder -schnitzen muß, um den Ausdruck erreichen zu können, der er anstrebt.“

Durchgehend zeigten sich in den Publikationen zwischen 1924 und 1952 eine Vielzahl von Ähnlichkeiten der porträtierten Haltung der trauernden Frau, der optimistischen Aussage, der über das Individuelle hinausgehenden Stimmung der Trauer. Bestärkt wurde ich nach dem Studium der Publikation der bekannten Berliner Museumspersönlichkeit Wilhelm von Bode, des starken Widerparts Kaiser Wilhelm II. in den Auseinandersetzungen um das Kaiser-Friedrich-Museum (heute Bode-Museum).

Wilhelm von Bodes Würdigung der besonderen Art der Gestaltung von Grabmalen durch Fritz Klimsch ist auch heute noch gültig, deshalb sei sie hier im Wortlaut wiedergegeben (W. v. Bode, Fritz Klimsch, Berlin 1924, S. XVI):

Nach einem ersten, vorläufigen Abschluss der vergleichenden Studien zu den Frauenfiguren und Grabmonumenten konnte ich vor einigen Jahren mit „an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ konstatieren, dass Fritz Klimsch der Gestalter jener Figur der trauernden Frau auf dem Marmorblock zum Gedenken des Leutnants von Kruge war. Unzufrieden mit dem Ergebnis der Recherchen jener Jahre, begann ich vor einigen Monaten eine neue Phase der Vergleiche und des Heranziehens weiterer Publikationen – und konnte fündig werden.

Zum Vergleich seien hier noch einige Skulpturen aus dem Gesamtwerk von Fritz Klimsch angeführt, deren Gestaltung des knieenden Frauenkörpers Ähnlichkeiten mit jener Trauernden des schwarzen Marmorblocks auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhofs aufweisen:

Bevor ich das endgültige Resultat dieser jüngsten Studien darstelle, sei es erlaubt, noch einige Worte zur Biographie des Bildhauers Fritz Klimsch vor und nach dem Erscheinen jener Publikation des großen Museumsmannes Wilhelm von Bode anzufügen.
Geboren 1870 in einer wohlhabenden Familie von Künstlern und Unternehmern zu Frankfurt/Main konnte er sich sorgenfrei dem Kunststudium in Berlin incl. Auslandsaufenthalten widmen. Bekannt wurde er als Mitbegründer der Berliner Secession von 1898. Zu seinen ersten Werken gehören „Gefesselter“ aus dem Jahre 1891 und „Tänzerin“ von 1898.

„Tänzerin“

1907 erhielt er eine Goldmedaille auf der Großen Berliner Kunstausstellung, wurde 1912 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, war ab 1921 Professor an den Vereinigten Staatsschulen in Berlin.

Kommen wir zurück zu jenem Gedenkstein für den Leutnant Curt Kruge auf dem Alten Garnisonfriedhof.: schwarzer Marmor, das Relief gekehlt aus dem Block herausgeschlagen, eine trauernde Mädchenfigur, geschaffen in der Periode ab Herbst 1914. Die Figur des knieenden Mädchens mit einer Art Toga bekleidet, in der Hand eine Rose, den Kopf leicht gesenkt, das Werk nicht signiert. Die gewählte Frisur? Langes Haar, im Nacken zu einem Knoten gebunden.

Für einen Vergleich auf der Suche des Schöpfers jenes Steins ziehen wir bemerkenswerte Skulpturen von Fritz Klimsch aus der Periode zwischen 1900 und etwa 1930 heran: Mädchen beim Ankleiden (1905), In der Sonne (1912), Badende (1913), Charis (1921-23),

„Mädchen beim Ankleiden“
„Badende“
„In der Sonne“

Und – wir vergleichen nochmals Arbeiten von Fritz Klimsch zum Thema Trauer, Kriegsopfer und entdecken auf einem Friedhof in Frankfurt am Main eine von Fritz Klimsch signierte Arbeit, die für einen sehr hohen Grad der Wahrscheinlichkeit der Autorenschaft Klimschs zur Berliner Skulptur spricht, die fast alle Elemente der Werkbeschreibung vereint: Motiv, Körperhaltung, „Zeitgeist“.

Diesen Anforderungen wird jenes Frankfurter Grabmal aus dem Gesamtwerk des Bildhauers Fritz Klimsch aus dem Jahre 1902 gerecht:

Das Grabmal für den Mediziner Alois Alzheimer ist durch Fritz Klimsch signiert (sein Name erscheint zwischen den beiden dargestellten Figuren), wurde vermutlich 1902 geschaffen und auf dem Frankfurter (Main) Hauptfriedhof schon 1902 aufgestellt und durch die Todesdaten der Ehefrau Cecilie Ende 1915/Anfang 1916 ergänzt. Das letzte Datum erscheint im Kontext der Todesdaten auf dem Grabmal Kruge (September 1914) als bedeutender Hinweis für eine zeitliche Übereinstimmung in der Biographie von Fritz Klimsch.

Den kunsthistorischen Beleg für die Autorenschaft des Frankfurter Grabmals von Fritz Klimsch lieferte Hermann Braun im Ausstellungs-Katalog für die Galerie Koch im Jahre 1980 (S. 131), nochmals bestätigt in seiner Publikation „Fritz Klimsch: eine Dokumentation“ vom Jahre 1991 im Kontext der Ausstellung zu Fritz Klimsch im Kunsthaus am Museum Köln (Abb. 27, S. 68, der dazugehörige Text S. 313f).

Der relevante Text von Hermann Braun (1980):

Aktualisiert erschien 1991 folgender Text:

„GRABDENKMAL CECILIE UND ALOIS ALZHEIMER 1902

Frankfurt a. M. Hauptfriedhof, Eckenheimer Landstr. 194 Gewann an der Mauer, Nr. 447 a

Cecilie Alzheimer geb. Wallerstein vorverehel. Geisenheimer

* 6. Juli 1860 Frankfurt a. M.
+28. Februar 1901 Frankfurt a. M.

Alois Alzheimer

*14. Juni 1864 Marktheit
+14. Dezember 1915 Breslau

Muschelkalkstein Höhe 297 cm, Breite 172 cm, Tiefe 27 cm.
Signatur zwischen den Figuren: F. KLIMSCH.

Hermann Braun. Fritz Klimsch. Werke S. 131, Abb. VI

Basisstein ober gekehlt. Hochrechteckiger Hauptstein mit vorkragender Verdachung. Übergang vom Steinblock zur Bildebene seitlich und ober gekehlt. Links eine knieende Trauernde, ihr gegenüber, auf einen Steiun gestützt, ein kleins Kind, unbekleidet. In seiner Linken hält es eine Rose.
Die Zeihnung zum Grabmal wurde im November 1901 bei der Friedhofskommission eingereicht. Ausführung im folgenden Jahr. Von Klimsch der Hauptstein, das übrige von dem Steinmetz Johann Hössbacher, Frankfurt.
Alois Alzheimer war Ordentlicher Professor in Breslau. Besondere Verdienste auf dem Gebiet der Histopathologie des Gehirns. Nach ihm benannt die Alzheimersche Krankheit.“

Grabmal Alzheimer, aktueller Zustand

An dieser Stelle sei abschließend der Hinweis auf das Motiv der Rose gestattet: Fritz Klimsch verwendete dieses Element (Rose in der Hand der trauernden Frau) beim Grabmal Löffler auf dem Berliner Friedhof der Dorotheenstädtischen Gemeinde II,

beim Grabmal Kruge auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof (Rose in der Hand der knieenden Trauernden):

und am Grabmal Alzheimer (der Junge neben der knieenden Trauernden hält eine Rose in der Hand):

Dr. Dieter Weigert Berlin Prenzlauer Berg 22. Juli 2023

Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder Leutnant Heinrich und Generalsuperintendent Folge 3

Im Nonnenwinkel

schwarzweiß nach einem Holzschnitt von R. H. Höder Das Geburtshaus Heinrich von Kleists wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.

Einige Tage später in meinem eigens für mich zum Studium der neuen Papiere eingerichteten Nebenraum des Archivs mit unzureichender Beleuchtung – die denkmalgeschütze Dachschräge verhindert den Einbau eines ordentlichen Fensters, so fällt das Tageslicht nur durch die kleine Luke über dem Schreibtisch – kommen mir Bedenken über das bisherige Vorgehen der letzten Wochen. Ich klebe zu stark an der Chronologie, das geschichtliche Nacheinander kann zu einer Beschränkung werden, zu einem geistigen Gefängnis. Wie kann ich einen Mann begreifen, wie kann ich Josias Löffler verstehen wollen, der in seinen Gedanken eine Zeitspanne von 80 Generationen umfasste, für den es keine ideellen Barrieren zwischen der Gedankenwelt der jüdischen Lehrer und Forscher der Zeit von Mariae Verkündigung und dem Heute gab, wenn ich federfuchsend über ihn ein Netz von Tagen, Wochen, Monaten und Jahren spannen möchte, in dem sich neue Ideen verfangen, steckenbleiben.
Edda, der mir zugeordneten jungen Mitarbeiterin, gefiel dieser Gedanke – der Raum für das Spontane, von der Norm Abweichende, manchmal schmerzhaft unter die Haut Gehende, Lebendige, war gerade bei einem solchen Charakter wie Josias Löffler – so meinte sie schon nach wenigen Wochen Beschäftigung mit seiner Biographie – bei unseren Recherchen und Bestreben nach Ordnung ein notwendiges methodisches Werkzeug. Auf Anhieb regte sie an, sich als Zwischenspiel, sozusagen zur Auflockerung der monotonen, chronologischen Abläufe sich einer wichtigen, späteren Lebensperiode  zuzuwenden und von dort rückblickend mit den so gewonnenen Erfahrungen und Sichtweisen in seine Jugendjahre hineinzuleuchten. 

Also, ließ sie mich aufhorchen,  warum nicht schon hier einen Ausflug an die Oder in das Jahr 1777 wagen, dem Geburtsjahr von Kleist, dem Jahr, das vor der ersten Bekanntschaft des jungen Josias Löffler mit der Stadt, ihrer Hauptkirche St. Marien und der Universität Frankfurt an der Oder liegt. Zurück nach Halle und Berlin, den nächsten Stationen des Lebenslaufs des Josias Löffler – in Gedanken, im Geiste könnte ich das jederzeit.

Ich entscheide mich – dankbar für diese Anregung – nun für den niedrigen Stapel von Papieren als Ergebnis meines vorläufigen Sortierens, eingebunden in einen normierten Aktenordner mit der Aufschrift: DER JUNGE HEINRICH (HEINZ). Vier Stücke harren meiner Aufmerksamkeit – eine Predigt, eine Bestallungsurkunde, ein ministerielles Schreiben, ein Privatbrief an die Ehefrau und noch einige einzelne Blätter ohne Bezug. Das, was sie verbindet, ist ein vorerst für mich mystischer Begriff – der „Nonnenwinkel“. Überraschend naiver Einwand Eddas – das sei doch eindeutig ein Wort mit feministische Anklängen !

Für einen neugierigen Archivar sind einzelne Blätter ohne Datierung, ohne Paginierung, ohne lesbare Siegel und manchmal sogar ohne Namen eine Herausforderung. Also beginne ich mit dem bisher anonymen Blatt 01. Es ist die Einlage eines Briefes, beidseitig beschrieben, eng und zierlich, ohne Adresse aber mit eindeutigem Hinweis auf das Datum des Schreibens:  Karfreitag, aber vom Datum durch einen dicken Tintenklecks ausgelöscht der Monat und die ersten drei Zahlen vom Jahr, nur eine 28 für den Tag und eine 7 für das Jahr sind noch lesbar. Was ergibt der ewige christliche Kalender? – im Jahr 1777 fiel der Karfreitag auf den 28. März!

„Mein liebster Freund! Auf dem Weg nach Züllichau mußte ich leider in Frankfurth ein Quartier suchen, der Wagen verlor eine Meile vor der Stadt das linke Hinterrad, am Abend ist keine Abhilfe zu schaffen. Ich nahm das Pferd, hing mir die Wertsachen um den Hals und ließ den Burschen zurück zur Bewachung. Er ist ein gedienter Soldat, hat ein geladenes Pistol, kennt die Beschwernisse des nächtlichen Biwaks.

In der Nähe einer großen mittelalterlichen Kathedrale fand ich Quartier und reichliches Abendessen bei einfachen Leuten.  Der Mann war an der Universität beschäftigt, er gab mir den Rat, die morgige Karfreitagspredigt in der Marienkirche anzuhören, da könne ich mir selbst ein Bild von dem umstrittenen Simonetti machen, ordentlicher Professor für Theologie und Pfarrer an St. Marien. Auf meine Bitte, mir doch etwas mehr über diese auch in Berlin viel diskutierte Persönlichkeit bekannt zu machen, wurde er munter und gab im Plauderton einiges preis, das ansonsten verschwiegen wurde.

Simonetti, der aus Berlin stammte, hat eine schillernde Vergangenheit. Er war Reitlehrer und Stallmeister auf der Universität Göttingen gewesen, brach sich beim Sturz vom Pferd ein Bein und studierte daraufhin Theologie ! – Sein rastloser Fleiß, sein Selbstbewußtsein und seine vortrefflichen Geistesgaben überwanden die Hemmnisse, die eine ungenügende Schulbildung bei ihm hinterlassen hatte, absolvierte das Studium und wurde Prediger im Anhaltischen und hier überwarf er sich durch seine harsche Kritik am Soldaten-Anwerbesystem mit dem preußischen König. Friedrich Wilhelm ließ ihn arretieren und auf der Zitadelle von Magdeburg einsperren. Nach geraumer Zeit erlangte er seine Freiheit wieder, wurde aber aus Preußen verwiesen. Man hatte ihn im Ausland als Kritiker des menschenunwürdigen preußischen Drills durchaus als interessanten Prediger gemocht, gab ihm verschiedene Einstellungen und sogar die Würde eines Konsistorialrats.

Der große König Friedrich holte ihn zurück nach Preußen, und machte ihn zum Universitätsprofessor und Prediger in Frankfurt.

Seine grobschlächtige Art und Streitsucht führten dazu, dass der Magistrat nicht gut auf ihn zu sprechen war und ihm die milde Art des Inspektors Milo vorhielt. Man hat auch von vielen Streitigkeiten gehört mit dem Prediger des in Frankfurt liegenden Regiments.

Einen besonderen wissenschaftlichen Ruhm hat er in Frankfurt niemals genossen. Das führte dazu dass die Oberkirche – St.  Marien – in der Frankfurter lutherischen Gemeinde Ruf und Ansehen immer mehr verlor. Streitigkeiten innerhalb der Lutheraner, Streitigkeiten vor allem finanzieller Art mit der sogenannten Unterkirche waren an der Tagesordnung. das Oberkonsistorium und der Magistrat waren sich uneins über den Methoden wie man diesem Missstand abhelfen konnte.

Manche Prediger hielten sehr viel von der Einführung einer Beichte, um hinter die Geheimnisse der inneren Verfassung der Prediger und der Gläubigen zu kommen. Simonetti aber ist ein scharfer Kritiker an dieser Vorgehensweise. Er sucht das Bündnis mit einem erzorthodoxen Pfarrer und Diakon, dem Herrn Nathaniel Friedrich From und predigt öffentlich gegen die aufklärerischen Positionen, so daß viele der Gläubigen die Gemeinde verließen und sich der Unterkirche zuwandten. 

Nach dieser sehr offenen und parteiischen Beschreibung des Simonetti durch meinen Wirt war ich nun gespannt darauf, wie der über 70jährige Simonetti in seiner Karfreitagspredigt die Geduld seiner Zuhörer strapazieren würde

Ich war nicht überrascht, daß die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt war

Es war eine Theateraufführung. Simonetti sprach von einer kleinen Erhöhung vor dem Altar, er machte sich nicht die Mühe, die Stufen zur Kanzel hochzugehen, er hätte es wahrscheinlich in seinem Alter auch gar nicht mehr geschafft. Seine Stimme war noch kräftig und vernehmbar auch im hinteren Raum der Kirche. Man lauschte aufmerksam, keine Zwischenrufe unterbrachen ihn, kein demonstratives Stühlerücken, keiner verließ den Raum – auch nicht, als er einige aus seiner Sicht sündige Kinder der Gemeinde anzählte. Am Ende gab es aber auch keinen Beifall.

Die Leute saßen still auf ihren harten Stühlen, manche stießen den Nachbarn in die Seite wenn ihnen eine Textpassage besonders gefiel oder zeigten mit dem Finger auf einen in der Predigt wegen unmoralischen Verhaltens wegen Unsittlichkeit wegen sündhaften Lebens und dergleichen mehr Gerügten. Die Leute gingen auseinander, sie hatte ihr Schauspiel gehabt – aber ohne Höhepunkte, ohne Krawall – gemessen an Simonettis Ruf nichts Besonderes.“

Abrupte bricht der Gedankengang ab. Der Rest des Blattes ist abgerissen. Anlass für mich, Fragen zu stellen: Wer war der Verfasser? An wen war das Schreiben gerichtet? Warum hatte es Josias aufgehoben? Oder hat es eine andere Person in dieses Papierbündel geschoben?

Es hilft ein Handschriftenvergleich – und der geht aus zugunsten des Berliner Vertrauten Löfflers, des jungen Juristen Karl Ludwig Amelang. Wie ich aus anderen Briefen Amelangs weiß, war er trotz seiner Jugend ein ausgezeichneter Anwalt, hatte sich in Auseinandersetzungen mit den preußischen Zensurbehörden Freunde unter den Verlegern und Autoren – auch in Thüringen – gemacht und war als Vermittler und Überbringer vertraulicher Texte oft zwischen Berlin und den Universitätsstädten in der Mark, Sachsens und den Verlagen und Druckereien der Neumark unterwegs.
Wenn der Verfasser des Schreibens der junge Amelang war und Josias Löffler der Adressat, dann ergibt sich schon aus diesem persönlichen Zusammenhang des Jahres 1777 eine klare politische Brisanz, obwohl der bisherige Text diese Schlussfolgerung kaum zulässt.

Also lesen wir auf dem neuen Blatt nach dem Abriss weiter: „… Meine Enttäuschung war riesig, lieber Freund, als ich am Samstagmorgen das Spektakel noch einmal an mir vorbeiziehen ließ – warum machte der Kämpfer Simonetti so wenig aus seinen politischen Möglichkeiten? Man munkelt in Berlin von einem bevorstehenden Krieg gegen Österreich, da wäre doch ein emotionaler Appell für Frieden, für diplomatische Lösungen angebracht. Ist der Löwe zahnlos geworden? Hat ihn die Furcht vor Repressalien des Königs beschlichen? Er kennt aus seiner Jugend die Kälte und Feuchtigkeit der Kasematten von Magdeburg, er weiß was Exil bedeutet – das hatte er dem Vater der heutigen Majestät zu verdanken. Hatte er mit dem jungen König 1740 ein Stillhalteabkommen geschlossen? Predigerstellen und Professorentitel, freie, gesunde Luft und die Rückkehr ins preußische Vaterland für Loyalität und öffentliches Wohlverhalten?

Als ich am Ostersonntag in aller politischen Vorsicht mit meinen Wirtsleuten über den enttäuschenden Auftritt Simonettis sprach, spürte ich eine gewisse Zurückhaltung bei ihnen. Sie schienen die Haltung der Mehrheit der Frankfurter lutherischen Gemeinde in ihrer Zerrissenheit zu repräsentieren – verschlossen nach außen, streitsüchtig und intolerant im Inneren – das Ganze aber ohne die nötige theoretische Tiefe, daher oberflächlich und sehr oft in persönliche Zänkereien ausartend. Welch ein Bild des Jammers! Was ist aus dieser ehemals so bedeutenden Universität und städtischen Hauptkirche St. Marien geworden! Es besteht die reale Gefahr, daß Leute wie der böswillige besonders orthodoxe Prediger From sich der Führung der Gemeinde bemächtigen und im Bunde mit den Orthodoxen der Reformierten Gemeinde die Schulbildung und das Universitätsleben der Zukunft bestimmen werden. In Berlin sollte man sich ernsthafte Gedanken im Umkreis Seiner Majestät und des Ministers von Zedlitz um eine personelle Verstärkung der Lage im akademischen und kirchlichen Bereich machen und Menschen nach Frankfurt entsenden mit lauterem Charakter und theoretischer Stärke.“

An diesem Punkt beginne ich zu verstehen: Josias Löffler in Berlin war der Adressat des schonungslosen Berichts über die Zustände in Frankfurt. Der Absender, Karl Ludwig Amelang, beabsichtigte den drei Jahre älteren Freund für eine Tätigkeit in Frankfurt zu begeistern – an der Universität und im kirchlichen Bereich!

Sorgfältig untersuche ich nunmehr das Blatt auf weitere Spuren, die meine Neugierde auf die Stadt, die Kirchen und die Universität Frankfurt befriedigen könnten. Kein Erfolg – also durchwühle ich das Bündel nochmals und werde fündig! Ein halbes Einlegeblatt mit der gleichen Handschrift, auch ohne Namen aber mit dem Hinweis auf die gleichen Wirtsleute und den vorigen Besuch zu Ostern des Jahres 1777. Diesmal aber geschrieben aus Crossen an der Warthe, datiert vom 30. Oktober, ohne Bezug auf einen Grund der Reise.

Die interessanteste Passage: „Erinnerst du dich, liebster Freund, an meine Beschreibung der Karfreitagspredigt? Ich besuchte die braven Leute am letzten Wochenende und übernachtete wiederum bei ihnen, um Neuigkeiten über Stadt, Kirche und Universität zu erfahren, blieb dann bis Dienstagmorgen. Sie wohnen im Nonnenwinkel, im Haus neben der Stadtkommandantur mit Blick auf die Kirche St. Marien und dem anschließenden Gebäude des Superintendenten. Am Montag hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis. Beim Durchblättern der neu angeschafften Bücher aus der Buchhandlung am Markt sah ich aus dem Fenster meiner Unterkunft eine sehr feierliche Bewegung aus dem Portal eines der Gebäude aus jenem Nonnenwinkel kommen, festliche gekleidete Menschen, einige in Uniform, eine Frau trug ein Neugeborenes im Arm, eingewickelt gegen die doch nun schon empfindliche Herbstkühle in eine farbige Decke. Ich vermutete eine Kindstaufe, was mir meine Wirtsleute bestätigten – der Herr Major habe ein Knäblein beim Regimentsprediger in der Garnisonkirche am Oderufer taufen lassen.

Was die Entwicklung an der Kirche St. Marien beträfe, sei die erbärmliche Lage unverändert, Simonettis Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, man spräche am besten nicht darüber, antwortete er auf meine diesbezügliche Frage.

Da ich keine dringlichen Verpflichtungen für den nächsten Tag in Berlin hatte, bat ich meine Wirtsleute, mir doch am nächsten Morgen das Kircheninnere von St. Marien zu zeigen – ohne Publikum, ohne Predigt und mir den Hintergrund des mystischen Begriffs Nonnenwinkel zu erklären.

Es war ein sonniger Morgen, wir betraten das Innere vom Markt aus durch ein Seitenportal – und ich konnte einen Schrei des Entzückens nicht unterdrücken – links vor mir lag geöffnet bis zum Halbrund des Chores der riesige, weite Raum des Kirchenschiffes, beeindruckend die Erhabenheit der Säulen, die Kühnheit des Gewölbes, durchleuchtet von den Farben, die die Sonne hervorzauberte im Wechselspiel mit den Dutzenden mittelalterlichen, in Blei eingefaßten Szenen der hohen gotischen Fenster hinter dem Altar.  Die Bilderstürmer der Reformationswirren hatten weder dem Altar noch den Fenstern dauernden Schaden zugefügt.

Der schmale halbrunde Gang zwischen dem Altar und den fünf Fenstern war durch eine bronzene Gittertür verschlossen, die aber für meinen Wirt, der sich gut mit dem Küster der Kirche verstand, kein Hindernis darstellte. Er versuchte eine Erklärung, die für mich „Nonnenwinkel“ und die Darstellung der Legenden des Lebens Christi, des Alten Testaments und der verschiedenen Historienbilder zum Thema Sünde und Vergebung miteinander verbanden: im tiefen Mittelalter, lange vor Baubeginn der Kirche St. Marien hatten die heiligen Sabinen die günstige Lage am Oderufer erkannt und von Prenzlau kommend, eine geräumige Anlage errichtet, die sie durch eine starke Mauer nach Süden und zum Flußufer abzuschließen begannen, so daß sich ein toter Winkel ohne Durchfahrt- und Durchgangsmöglichkeit ergab. Den „Nonnenwinkel“ gibt es damit vermutlich schon seit dem 12. Jahrhundert in Frankfurt. Der hohe Grundwasserspiegel in diesem Gebiet von 16 Fuß machte die heiligen Schwestern unabhängig von jeder äußeren Bedrohung, so daß für die Frankfurter Bürger Nonnenwinkel jahrhundertelang ein Symbol für Sicherheit und Unabhängigkeit war. Die Theologen Frankfurts jedoch, setzte mein Begleiter und Erklärer genüßlich hinzu, konnten sich schwer mit dem Makel abfinden, daß wie schon in Prenzlau die Sabinen ihre Novizinnen nicht nur unter den Töchtern und Witwen der Patrizier der Stadt und der Adligen der Umgebung suchten, sondern ihre Türen auch Huren, anderen gefallenen Mädchen und armen Bauerntöchtern offenstanden, wie es deren Idol, die heilige Maria Magdalena, verkörperte. Während aber in Prenzlau der Besitz des Klosters sich mehrt, ganze Dörfer und die Patronatsrechte über ländliche Kirchen dazu kommen, die frommen Schwestern neben beträchtlichen Einnahmen auch über einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die kirchlichen Belange in Prenzlau und dessen Umgebung verfügen, bleiben in Frankfurt die heiligen Schwestern eine arme Randgruppe und verschwinden mit der Reformation und Säkularisierung. Nur der Name bleibt – Nonnenwinkel.“

Edda steht hinter mir, klopft auf meine linke Schulter – da wären doch noch einige Fragen, auf die man vielleicht in Frankfurt eine Antwort finden könnte. Chef, was halten wir von einer Studienreise ?

(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)

LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663

LINK zu Folge 2: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33899

Dieter Weigert, Berlin 21. Juli 2023

Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder Leutnant Heinrich und Generalsuperintendent Josias: Folge 2

An der Saale – Josias Löfflers Oma Margarete   

Saalfeld – Rathaus mit Wohnhaus der Familie Löffler

Fragende Blicke von Edda ! Sie kannte bis gestern den Josias Löffler nicht.

Kleist hatte sie 1-mal im Weimarer Theater getroffen – Titel, Akteure, Regisseur und Thema vergessen. Den Rest des Frankfurter Poeten mal in der Schule recht und schlecht hinter sich gebracht.

Also war da ein starkes Bedürfnis nach Aufklärung: Umstritten ist das Erbe des Josias Friedrich Christian Löffler bis heute, wie das aller Rebellen. Und ein Rebell war er, der Prediger und Superintendent, den Gotha, Frankfurt/Oder und Berlin für sich reklamieren, der Spuren hinterlassen hat in Saalfeld, Halle/Saale, Züllichau, heute auf Polnisch: Sulechow.  Eines der merkwürdigsten Steinchen im farbenfreudigen, strahlenden Mosaikbild, auf das alle Wege hinlaufen, auf das Motive und Interessen der meisten handelnden Figuren unserer Suche  gerichtet sind, findet sich in der gotischen Kirche St. Marien in Frankfurt an der Oder, eines der protestantischen Gotteshäuser, für das der Theologe, Kirchenpolitiker und Lehrer Löffler im Laufe seiner jahrzehntelangen Tätigkeit Verantwortung trug. Um präzise zu sein – nicht der Kirchenbau, nicht die theologischen Debatten, nicht die personellen Auseinandersetzungen Löfflers innerhalb der Stadt und an der Universität von Frankfurt an der Oder zwischen 1779 und 1787 stehen im Zentrum unserer Aufmerksamkeit, sondern jene biblischen Szenen der drei gewaltigen Chorfenster von St. Marien, der „Oberkirche“ am Markt von Frankfurt, gerichtet gen Osten, entworfen und gestaltet in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.

Bisher kenne ich nur sehr wenige wissenschaftliche Hinweise auf die Chorfenster und besonders jene Darstellungen zum Thema Antichrist, bezogen auf Josias Löffler und Heinrich von Kleist, obwohl es eigentlich auf der Hand liegt – oder besser gesagt: beim Eintreten in das Gotteshaus sofort in die Augen springt -, dass die Nachbarn aus dem „Nonnenwinkel“ sich im angrenzenden Kirchenschiff Anregungen für ihre literarischen und theologischen Auseinandersetzungen geholt haben könnten. Der Gegenstand wird uns in den weiteren Folgen begleiten – beim „Käthchen von Heilbronn“, bei der „Hermannsschlacht“, bei den kirchengeschichtlichen Studien des Josias Löffler. Und es wird sich uns auch immer wieder die bedrückende und erschreckende Frage aufdrängen, warum dieser Zusammenhang jenen „kleistologischen Weisen“ keine Zeile in ihren weitschweifigen Darstellungen untersuchenswert erscheint – weder als Frage, noch als Hypothese, nicht einmal als Fußnote.

Josias Löfflers gesamtes Leben und Wirken war geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen liberalen, progressiven Kräften in der Theologie der Periode der Spätaufklärung und den konservativen Gruppierungen und Personen. Er hatte sich während seiner Zeit als junger Prediger und Theologe in Berlin aus der Anonymität des Rebellen hervorgewagt und war seitdem jahrzehntelang theoretischen und politischen Anfeindungen ausgesetzt, die auch nach seinem Tod anhielten, wie die scharfen Auseinandersetzungen um eine öffentliche Ehrung in Gestalt eines Denkmals in Gotha belegen.

Josias Löffler – wohin er kommt – wo er tätig ist findet er Gleichgesinnte – im schwarzen Rock des Predigers manchmal im bunten Rock des Königs so auch in Frankfurt an der Oder den herzoglichen Prinzen abgemahnt durch Den König wegen seiner Konzeption des militärischen Vorgehens Wegen seiner Vorstellung von der militärischen Disziplin vielleicht sogar war er Vorbild gleich für den homburgischen Prinzen?

Sie sind Nachbarn sie sind Nachbarn im Geistigen und auch im real Materiellen und vermutlich auch im Träumen – der Offizierssohn im gleichen Haus im Frankfurter Nonnenwinkel der Professor und Generalsuperintendent im Gemeindehaus hinter der Marienkirche 25 Jahre älter als der aufgeweckte junge aus dem Haus über der Straße. Im dritten Haus dazwischen residiert die andere Erwachsene Bezugsperson des Jungen, das fürstliche Idol Prinz Leopold von Braunschweig Chef des Infanterieregiments und Stadtkommandant, dem der Vater des Jungen als Major diente.   

Wie im weiteren Gang der Darstellung detailliert zu sehen sein wird, ist im 19. Jahrhundert im deutschen Protestantismus ein deutlicher Nachhall des theoretischen Erbes Löfflers zu hören – aber auch bis in die Gegenwart ist bei Historikern und vor allem Theologen das Bedauern herauszulesen, dass die Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Erbe Löfflers noch manche Lücken aufweist. Als aktuelles Beispiel sei die Studie von Malte van Spankeren genannt, der im Kontext seiner umfassenden Würdigung des Hallenser Universitätslehrers Johann August Nösselt (1734-1807) beklagt: „Aus der Vielzahl  der Schüler Nösselts erscheint insbesondere eine intensive Beschäftigung mit dem bislang kaum erforschten Josias Friedrich Christian Löffler instruktive Aufschlüsse zu versprechen. Dieser übte nicht nur fast drei Jahrzehnte in Kirchen leitender Position als Superintendent des Gothaer Herzogtums wichtigen Einfluss aus, sondern stimulierte darüber hinaus eine kritische Sichtung der traditionellen Trinitäts- und Genugtuungslehre.“

Der Blick der letzten Tage aus dem Fenster der Dachetage des Saalfelder Schlosse verrät: Ein heißer Sommer ist über uns in Thüringen hereingebrochen, der Fluss verschafft kaum Kühlung, der Wasserstand ist auf ein Minimum gesunken, so dass selbst das Paddeln im althergebrachten Holzboot mir Segeltuchhaut nur mit äußerster Mühe möglich ist. Es ist Sonntag, an der Saaltorbrücke habe ich mein Boot vom Fahrradanhänger gelöst und lasse mich nun treiben – vorbei am Schloss hinter der Uferstraße, unter der Carl-Zeiss-Brücke durch, die Weiden und Pappel am Ufer leiden unter der Hitze, die Blätter beginnen sich schon gelb zu färben und zum Schutz gegen die Sonne und als natürliche Barriere gegen zu schnelle Verdunstung zusammenzurollen, die Villa Weidig und der Festplatz sind hinter den Bäumen und der Uferbepflanzung zu erkennen, nach zwei Brücken unter den Bundesstraßen in Richtung Rudolstadt und Bad Blankenburg kehre ich um. Auf der Rückfahrt – flussaufwärts – muss ich mich etwas mehr  ins Zeug legen, die Strömung ist bei dem Niedrigwasser kaum zu spüren. Auf der rechten Seite sehe ich nun auch das Hinweisschild in Gestalt eines breiten Holzpfeiles in den schwarz-weißen preußischen Farben für historisch interessierte Wassersportler: „400 m: Wöhlsdorf – Gedenkstein Louis Ferdinand von Preußen 1806“ und hinter den Büschen die Häuser des Dorfes, inzwischen in die Stadt Saalfeld eingemeindet.

Da hat mich die Geschichte wieder und insbesondere jene Periode um 1790, illustriert durch die Biographien der Personen meines Konvoluts: Josias Löffler, Herzog Ernst von Gotha, Herder, Heinrich von Kleist, Bertuch, Zedlitz, Semler (ebenfalls aus Saalfeld stammend). Die tiefhängenden Äste der Weiden, deren Zweige oft das Wasser berühren, die Ruhe des träge mir entgegenkommenden klaren Wassers lassen eine Stimmung aufkommen, die mich in die Zeit vor 200 oder gar 250 Jahren zurückversetzt. Sehr viel anders wird sich der schmale Flusslauf im 18. Jahrhundert dem Wanderer, dem Flößer, dem Fährmann zwischen zwei größeren Orten an den bedeutenden Handelsstraßen auch nicht geboten haben als mir heute. Ich lenke mein Boot unter eine Weide und lasse das erfrischende Wasser an Füßen und Händen vorbeiziehen. Ich träume nicht, aber ich lasse das Heute für eine Stunde nicht an mich heran, versinke in die romantische Saalelandschaft des Jahres 1752.

*

Am nächsten Tag, gegen neun Uhr: „Chef, wann geht es denn richtig los?“ – „Guten Morgen, liebste Edda, es ist schon losgegangen, in meinem Kopf …“ – „Kann ich nicht – Gedanken lesen“

JOSIAS war der Name der Saalfelder Fürsten aus dem Geschlecht der Ernestiner. So lässt also im Januar jenes Jahres der Saalfelder Bürger Johann Christoph Löffler den Sohn, den ihm die eheliche Gemahlin Magdalene Susanna, geb. Mahn, geboren hatte, auf den ersten Namen Josias taufen, dazu noch Friedrich und Christian, die Namen der beiden Großväter.

Man hat standesgemäß eine Wohnung unmittelbar neben dem Rathaus, der Status erlaubt die Anmietung einer Stube nebenan für Oma Margarete, der Witwe des Großvaters väterlicherseits.

Der den sächsisch-thüringischen Wettinern zugetane Vater, dessen Stand als „Stadtsyndicus“ und „Hofadvocat“ angegeben wird, lässt dem Sprössling eine solide Schulbildung angedeihen – Syndicus bedeutete ja immerhin der oberste Jurist der Stadtverwaltung dieser reichen herzoglichen Residenz mit ihren etwa 15 000 Einwohnern und die ihren Wohlstand dem Bergbau und dem Fernhandel verdankte.

Ein Glücksfall, dass Vater Löffler mit einem „gelahrten“ Universitätsprofessor befreundet ist, Johann Salomo Semler, der aus Saalfeld stammt, aber saaleabwärts in Halle einen Lehrstuhl für protestantische Theologie innehat. Die Saale – wie der Main, der Neckar, die Oder – hat eine herausragende Bedeutung als Lebensader für die wirtschaftliche, politische und geistige Verbindung der Territorien des zersplitterten deutschen Reiches – neben den dominierenden Strömen Rhein, Donau und Elbe. Die Saale durchfließt im 18. Jahrhundert weltliche und geistliche Fürstentümer Frankens, Thüringens, Sachsens, Anhalts, fügt fürstliche Residenzen, städtische kirchliche, geistige und Universitätszentren zusammen wie Saalfeld, Rudolstadt, Jena, Naumburg, Weißenfels, Merseburg, Halle und Bernburg.
Das Saaleabwärts gelegene Halle ist die letzte größere brandenburgisch-preußische Siedlung  an der Grenze zu Sachsen, empfängt nicht nur den akademischen Nachwuchs, sondern vor allem das edle Bauholz aus den thüringischen Wäldern in großen Flößen, sendet es weiter ins Anhaltinische, auf der Elbe nach dem sächsischen Wittenberg und auch zu den Schiffswerften nach Hamburg und Dänemark. Das preußische Halle wird den jungen Josias prägen, wird ihm Freunde und strenge akademische Lehrer bieten und die moralischen Werte einer pädagogischen und theologischen Laufbahn vermitteln.

Noch aber lernt der aufgeweckte, neugierige Josias fleißig an der Saalfelder Schule. Jahre später schreibt Josias Löffler an den Freund Philipp Lieberkühn in Neuruppin:

„Mein gestrenger Herr Vater wollte aus mir einen ebenso strengen Beamten machen; es setzte zwar keine Prügel, aber in der Wirkung ebenso demütigende moralisierende Sprüche, tägliche Vorträge über die hohen Werte der Sittlichkeit des Soldaten, des Beamten, des von Gott auserwählten Fürsten. Oma Margarete war meine eigentliche Erzieherin, sie lehrte mich heimlich Lesen und Schreiben lange bevor ich in die gestrengen Hände der bestallten Lehrer fiel. Sie lies mir Papiere zukommen, weggeworfene Briefe, Rechnungen des Weinhändlers, Spielkarten mit den Köpfen und Palästen der einheimischen und fremdländischen Königen sowie den dazugehörigen Jahreszahlen. Sie fragte mich ab, ob ich auch alles richtig verstanden habe – im zarten Alter von 4 bis fünf Jahren. Ich wünsche jedem Kind eine solche Oma.

Saalfeld prägte meine Kindheit. Aber da ist schon die erste Korrektur fällig – nicht die Stadt, nicht die herzogliche Residenz habe ich in Erinnerung, sondern Garnsdorf, ein paar verschlafene Bauernhäuser an der Straße nach Schmiedefeld und Sonneberg.  Das Haus des Großvaters mütterlicherseits, gelegen am Hang, gab den Blick frei in Richtung Osten, auf Saalfeld, auf den gewundenen Lauf der Saale, auf die Hügel hinter der Stadt, die mittelalterlichen Burgen der fränkischen und thüringischen Raubritter. Die Großmutter Else schickte uns fünf Kinder auf Futtersuche für die beiden Ziegen im Stall, das Dutzend Hühner im Hof. Eines Tages, ich war als Ältester der Geschwister mit 10 Jahren von der Mutter schon eine Woche vorher eingeweiht, zog unsere Tante Lisbeth mit drei weiteren Kindern in unser Haus. Ihr Mann war als Soldat in Böhmen gefallen, so blieb nur die Zuflucht zur Großmutter. Nun waren wir zu acht im Kinderzimmer, neben mir hatte sich im großen Bett für die Älteren die dreizehnjährige Cousine Dorothea einquartiert, die mich nachts im Schlaf an die Wand drückte. Aber tagsüber konnte ich mit ihr über mein Seelenleid sprechen, über mein Fernweh, über meinen Wunsch als Flößer auf der Saale heimlich nachts bis aufs große Meer zu fliehen und als Schiffsjunge nach China zu segeln. Wir übten schon mal auf dem Holzstapel hinter dem Haus – ich oben auf der Brücke, sie unten auf Deck. Wir waren glückliche Kinder. So ertrug ich auch die nächtliche Enge zwischen der kalten Wand und dem warmen, erregenden Körper von Charlotte.

Meine Mutter verstand unter Glück etwas anderes, die Familie, das Wohnen bei den Großeltern, die Stadtschule für die Kinder. Dann traf uns das Schicksal hart – der Vater starb und wir mussten ein Stadt- Haus ziehen – neben der Kirche, ohne Aussicht, ohne Ziegen und Hühner, aber von morgens bis abends mit dem Geläut der Glocken. Wir wohnten neben der Poststation, wir Kinder lernten die Klänge aus dem Horn des Postillons lieben, wir bewunderten die bunten Röcke der Reisenden, ihre Koffer und Kisten auf dem Dach der schweren Kutsche. 

Dennoch traf ein anderes Glück mich, den Jungen nunmehr ohne Vater, aber immer unter Beobachtung eines väterlichen Freundes, des ebenfalls aus Saalfeld kommenden Professors Semler in Halle, der mir einen Platz an der Lateinschule der Franckeschen Stiftungen sicherte – einen letzten Freundesdienst für meinen verstorbenen Vater. Ich verstand selbst mit 11 Jahren diese Güte des Hochgelehrten Professors, ich war vorbereitet auf die höhere Bildung durch das Lyzeum in Saalfeld in den Grundlagenfächern Latein, Religion, Lesen und Schreiben und durch die liebe Betreuung durch Oma Margarete.

Das Weitere kennst du aus eigenem Erleben – ich erwies mich meinem Gönner außerordentlich dankbar, erwählte den Freund der Familie zu meinem akademischen Vorbild, strebt ihm nach in wissenschaftlicher Neugier, Ehrlichkeit, Akuratesse.“

Philipp Lieberkühn,  der Adressat des Briefes, gehörte zusammen mit Johann Stuve zum engsten Freundeskreis von Josias Löffler während der Studienzeit in Halle. Sie hatten protestantische Theologie gewählt – auf Empfehlung Professor Semlers. Löffler war 16 Jahre, als er von der Lateinschule der Franckeschen Stiftungen an die Universität wechselt. Sprachbegabt, historisch interessiert, humanistischem Engagement zugeneigt, so studiert er Theologie, Kirchengeschichte, Geschichte des Protestantismus, wissenschaftlich begründet auf dem Verständnis des Hebräischen, des Griechischen, des Lateinischen.

Da ist noch eine andere Sache, die Josias in dem Brief nicht nennt – die besonderen Umstände jenes Jahre 1763, in dem er in die Franckeschen Stiftungen aufgenommen wird: das Ende des schrecklichen mehrjährigen Krieges, in dem die Stadt Halle in regelmäßigen Abständen von den durchziehenden gegnerischen Sachsen, Franzosen, Österreichern und Russen zerbombt und geplündert, die öffentlichen und privaten Kassen bis auf den letzten Heller geleert wurden, wobei die Bürger oftmals für die „Eigenen“, die Preußen, bei deren gelegentlichen Durchmärschen und Biwaks auch bluten mussten.

Lieberkühn und Stuve, die beiden Freunde, kamen erst lange nach Josias nach Halle – noch waren alle Kriegswunden nicht verheilt, die Lethargie nicht überwunden, von Gewerbefleiß konnte lange Jahre nicht wieder die Rede sein, die Handelsbeziehungen in die benachbarten sächsischen und thüringischen Städte und Dörfer immer noch am Boden.

Davon liest man nichts in den Briefen. Das Leiden in Frieden und Krieg, das Intime vom Körperlichen und Seelischen, die Zweifel, die täglichen Ungerechtigkeiten … das vertraut man den Briefen nicht an, zu viele Unbefugte lesen mit.

(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)

LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663

Dieter Weigert, Berlin 19. Juli 2023

Redaktion von „STERNBERLIN“: Hinweis zu Folge 1 der Serie zu Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz …

HEINRICH und JOSIAS

Redaktioneller Hinweis: Über diesen LINK

https://http://www.wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663

kommen Sie zur Folge 1 der Serie „Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz …“

Mit freundlichen Grüßen

STERNBERLIN

Kopie:

https://http://www.wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663

Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant Heinrich und Generalsuperintendent Josias

FOLGE 1: Das Konvolut

Es ist geschafft. Die Uhr zeigt 0:35, der Samsung-Drucker schiebt das letzte Blatt in die Ablage – unter dem einsam in der Mitte der Zeile prangenden Wort ENDE erscheinen mein Name und das Datum des neuen Tages. Der automatisierte Seitenzähler unten rechts präsentiert eine schockierende 525. Zeitlebens habe ich mich um Kürze meiner Texte bemüht, die ausufernden Zeilen gezähmt, aus Mitleid mit dem Leser das Unwesentliche dem Kern der Aussagen geopfert. Nun das – ein Archivar, ein dem Gehalt der historischen Dokumente verpflichteter Historiker verzettelt sich, kommt ins Schwatzen, verbreitet sich in unerheblichen Details, vermengt die notwendig verknappte, verdichtete Darstellung der Sache aus Eigenliebe des Langen und Breiten mit der Weitläufigkeit von Einzelheiten, die vielleicht seine eigene Neugierde und Darstellungssucht befriedigen, aber für die intellektuelle Welt um ihn herum keinerlei Gewicht haben. Weg mit dem ketzerischen Zweifel, mit Spinoza und Descartes: Ich habe der Welt etwas zu sagen und wenn ich dazu 525 Seiten brauche, dann muss man sich eben die Zeit nehmen für diese Menge an Druckseiten.

Edda kommt mit der Flasche Rotkäppchen trocken und den Gläsern, das Feiern im kleinen Kreis gehört zur Arbeit wie der Schäferhund Alf zum Hof meiner Kindheit. „Auf unseren Erfolg!“ – „Auf deine Beharrlichkeit und dein Verständnis für unseren Josias!“ erwidere ich und küsse die kluge, schöne und sehr weibliche Kollegin auf die Stirn. Die Freudentränen in ihren Augen übersehe ich wohlweislich.

Aber beginnen wir an jenem sonnigen, trockenen Juni-Morgen, als in meiner Heimatstadt etwas geschah, was mein bisher so geruhsames Leben aus der Bahn warf.  Zwischen der alten Stadtapotheke und der Johanniskirche im südthüringischen Saalfeld waren einige Arbeiter dabei, den Boden des historischen Stadtkerns aufzubaggern mit dem Ziel, zusätzliche Tresore sowie eine nötig gewordene geräumige Tiefgarage für den Erweiterungsbau der Stadtsparkasse zu schaffen, als sie auf eine schwere metallene mit Eisenbändern umschlossene Kiste stießen. Dieser Fund sei in der genannten Region nichts Besonderes, versicherte der leitende Ingenieur, wäre da nicht die verwunderliche Lage des Objektes – nicht waagerecht, nicht senkrecht, sondern irgendwie völlig windschief auf einer plattgedrückten Ecke stehend präsentierte sich das brandgeschwärzte Stück im Erdreich. Es muss wohl beim verheerenden Brand in der Apotheke damals aus den Wohnräumen in den Keller und von dort in eine Art Höhle abgestürzt sein, vergessen von den Bewohnern, überlagert durch den Straßenschutt, nun aber der Vergessenheit plötzlich entrissen.

Die Mitarbeiter der zuständigen Abteilung der Bodendenkmalpflege des Landratsamtes in der dritten Etage des ehemaligen herzoglichen Schlosses, denen die Baufirma aus dem fränkischen Kronach den kostbaren Fund ins Chefzimmer bugsierten, erklärten sich nach einigem Zögern bereit, den Inhalt der Kiste inspizieren zu wollen – obwohl sie sich hinter vorgehaltener Hand nicht viel davon versprachen, man habe ja wichtigere Aufgaben auf den Tischen und in den Rechnern zu liegen.

Ein erster Blick ins Innere des schwarzen Ungetüms bestätigte ihre zögerliche Haltung – Papierkram, aber ohne amtliche Siegel, halbverbrannte Fetzen von Pappschachteln, … und dann doch zwischen dem Plunder ein zwei intakte schwere Pakete, verschnürt mit grünschwarzer gedrehter Kordel, die Aufschrift des ersten oben und auf den vier Seiten noch lesbar – Geheim! Eigentum der Generalsuperintendentur des Herzogtums Gotha (1787 – 1817), auf dem zweiten Packen ein Verlags-Stempel „Frommann-Erben – JENA.

Jetzt endlich kommt meine Person ins Spiel!  Ich – der nun aber doch eiligst herbeigeholte Stadtarchivar! Ich kann mein Glück bis heute noch nicht fassen – da war es also – das seit Jahrzehnten gesuchte Konvolut von Papieren des großen Sohnes Saalfelds, des gothaischen Oberkonsistorialrats und Generalsuperintendenten, des rechtschaffenen, über die Grenzen Thüringens hinaus bekannten kämpferischen Theologen und Pädagogen Löffler, dem einige – aber leider nur sehr wenige – Kenner der Literaturgeschichte nachsagen, eine der interessantesten, vom Schleier des fast Mystischen verhangenen Personen im Umkreis des Dichters Heinrich von Kleist gewesen zu sein !

Dem Chef des Amtes für Bodendenkmalpflege gelingt es nur mit großer Mühe, mich in meinem Glückstaumel von der Einberufung einer sofortigen Pressekonferenz abzubringen, man solle doch erstmal einen ernsthaften Blick ins Innere des Konvoluts werfen, sich von der Authentizität der Papiere überzeugen, bevor man sich selbst und die gesamte Behörde im Falle eines Fehlschlages dem Gespött der Zeitungen und lokalen Fernsehstationen aussetze! Im Zeitalter der FAKE-NEWS durchaus vergleichbar mit dem Prager Fenstersturz von 1618!

Er, der Amtsleiter, mache nun von seinen Befugnissen Gebrauch, versiegele eigenhändig sein Büro doppelt und dreifach und lade die relevanten Beamten des Landratsamtes und auch mich als Amtsperson für den nächsten Morgen, 10 Uhr, zu einer Sondersitzung ein. Einziger Tagesordnungspunkt: die Papiere des Josias Friedrich Christian Löffler! Bis dahin außerordentliches Stillschweigen – auch in den Familien der hier Anwesenden!

Zu Beginn der morgendlichen Sitzung im kleinsten Kreis der höchsten Würdenträger des Landratsamtes fühle ich mich doch gedrängt, einige einführende Worte zur Bedeutung dieser Besprechung zu sagen. Wenn alles so verlaufe, wie ich als Ergebnis meiner jahrzehntelangen wissenschaftlichen Studien vermute, würden die Anwesenden in den nächsten Minuten Zeugen des erstmaligen Anblicks von Dokumenten aus der Feder des Theologen und Politikers Löffler, eines bedeutenden Sohnes unserer geliebten Stadt Saalfeld, sein, die ein neues Licht auf die Geschichte nicht nur der thüringischen Herzogtümer Weimar und Gotha am Ausgang des 18. Jahrhunderts werfen, sondern die nunmehr Fragen beantworten könnten, die seit langem europäische Historiker von Rang bewegten – die Fragen nach dem endgültigen Schicksal des deutschen Fürstenbundes. Aber auch Kirchenhistoriker und thüringische Heimatforscher hatten immer wieder in Briefen angemahnt, auf den Spuren dieses Mannes nach Belegen für sein Wirken zu suchen. Neuerdings aber auch Germanisten, Regionalhistoriker aus Frankfurt an der Oder, aus Berlin und Halle an der Saale meldeten sich bei mir. Ich war inzwischen auf das meisterhafte Formulieren von Absagen, Vertröstungen, Hypothesen, sogar abenteuerlichen Spekulationen stolz. Die erwähnten Orte hatte ich besucht, mit den fleißigen Frauen und Männern in den Kirchen, Stadt- und Universitätsarchiven viele Stunden verbracht – erfolglos. Ich ersparte es mir und den vermutlich im Labyrinth der mannigfaltigen persönlichen Beziehungen Löfflers, vor allem dem „Irrweg“ Kleist, nicht heimischen Landratsbeamten, zu sehr ins Detail zu gehen.

Nun liegt es auf dem Tisch vor uns – enthält das versiegelte dicke Bündel die Antworten auf die vielen Fragen?

Ich werde gebeten, das Konvolut zu öffnen und einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen auf den Tisch zu legen. Den habe ich schon im Kopf – Zeit gewinnen und unserem Archiv die Bearbeitung zu übergeben – unter strikter Wahrung des Dienstgeheimnisses, den Medien nur das Allernötigste mitzuteilen, um auswuchernden Spekulationen Einhalt zu gebieten. Ein entsprechendes lapidares Press Release steckt schon in meiner Tasche – zweisprachig selbstverständlich!

Die Knoten der Verschnürung und die Siegel lassen sich leicht lösen – die Papiere scheinen in gutem Zustand. Obenauf ein Blatt, das säuberlich nummeriert eine Liste von 217 Positionen enthielt: Briefe, Urkunden, Rechnungen, Quittungen, auch einige gebundene Bücher und Zeitschriften, Tagebuchnotizen, ein gesondert eingepacktes dünnes Päckchen in größerem Format und sehr viele bekannte und mir auf den ersten Blick fremde Namen. Ich schlage der Versammlung vor, diese Liste vorzulesen und mir das Paket aus konservatorischen Erwägungen für die weitere Bearbeitung in unserem Archiv zu übergeben. Bedingung des Vortrags der Liste aus meiner Sicht: es wird nichts mitgeschrieben und kein Wort vom Inhalt an Außenstehende weitergegeben. Ein mehr oder minder vernehmliches Murren wird durch den Landrat unterbunden, der meine Bedingungen protokollieren und zur Unterschrift herumgehen ließ, dann darf ich die Liste verlesen.

Zu meiner Verblüffung tauchen Namen auf, die ich im Zusammenhang mit Löffler nicht vermuten würde: die Brüder Humboldt, die Herzogin von Sachsen-Gotha, Friedrich Wilhelm Gotter, die Berliner Oberkonsistorialräte Silberschlag und Spalding, der preußische Minister von Zedlitz, Münter, General von Prittwitz, … Nach dem Verlesen lege ich das Blatt wieder auf den Papierstapel, klappe das Packpapier wieder zu, verschnüre es sachgemäß und bitte den Landrat um die Versiegelung – sicher ist sicher im Medienzeitalter! Die Presseerklärung lasse ich auf dem Tisch liegen.

Am Nachmittag sitze ich nun spannungsgeladen vor dem Stapel Papiere an meinem Schreibtisch. Noch darf keiner meiner Mitarbeiter einen Blick auf den Schatz werfen.

Meine Philosophie des Umgangs mit der Schatzkiste ist noch unvollkommen: Wir wissen nicht alles, wir können nicht alles wissen, aber da sind die Indizien, die Spuren der Begegnungen jenes geheimnis-umwitterten Theologen Josias Löffler, geboren hier in Saalfeld, gestorben in einem Nest bei Gotha, mit Zwischenstationen in Halle an der Saale, Berlin an der Spree und Frankfurt an der Oder – Briefstellen, die Topographie von benachbarten Wohnungen, einige wenige Reiseberichte.

Es klopft, zögerlich und verhalten. Edda, die graue Maus mit der zierlichen Gestalt einer Ballerina und dem passenden Pferdeschwanz, die Chefin der Tourismus-Abteilung, studierte Diplom-Journalistin, steht in der Tür: „Hallo – es war nicht mein Wunsch, es war die verrückte Idee des Chefs! Er meint, du brauchst jetzt kräftige Hilfe! Meine Abteilung könne mich einige Wochen entbehren, meint er!“ – Ich sinke zurück in die Tiefe meines antiken Schreibtischsessels – „Er meint wohl, er braucht eine vertrauenswürdige Spionin, damit er aus erster Hand erfährt, was hier oben unterm Dach ausgegraben wird?“

Noch lachen wir, nicht ahnend was vor uns liegt und uns nicht etwa einige Wochen, sondern ein volles Jahr an Gemeinsamkeiten bringen wird. Der nächste Morgen bringt „zuvörderst“ – das Lieblingswort meines verehrten Professors aus der Studienzeit in Leipzig – eine Blumenvase und dem dazu gehörigen farbenfreudigen Vorgarten-Gemisch für meinen Tisch, sowie einen Schreibtisch für Edda mit eigenem Rechner.

Die erste Beratung, die erste Festlegung: alles muss säuberlich protokolliert werden! „Muss das sein? Schade um die Zeit, das bleibt ja an mir hängen, aber so Gott will gibt es dafür schon eine passende Software“ murrt Edda, kuscht aber unter meinem zurechtweisenden Blick.

Was und wo suchen wir zuerst? Wollen wir mit Frankfurt an der Oder beginnen.? Finden sich in jenem Papierbündel eindeutige Belege, die unsere Annahme stützen und wasserdicht machen, dass der Prediger und Oberpfarrer der protestantischen Kirche St. Marien in Frankfurt an der Oder Josias Friedrich Christian Löffler in den Jahren zwischen 1783 und 1788 dem neugierigen Nachbarsjungen Heinrich von Kleist die Botschaft der Chorfenster seiner Kirche St. Marien aus dem 14. Jahrhundert vermittelt hat? Die Zeit ist so schnell-lebig, dass ich schon vergaß, wer mir gestern oder vorgestern diese Frage bei einem der Pausengespräche in der Kantine zugeflüstert hatte. War es die theaterbeflissene Ute? War es die Zugezogene aus Frankfurt – wie hieß sie doch gleich ? Oder war es der Kulturredakteur des Weimarschen Tageblättchens ? Ich bleibe vorsichtig, nüchtern, zugeknöpft. Zu Hause frage ich mich –  ist die Stadt, ist die Universität, ist die Marienkirche an der Oder wirklich der Beginn? Liegt der nicht an der Saale, in Halle oder doch schon saaleaufwärts hier in Saalfeld?

Vielleicht sollten wir den Beginn am Ende des Lebens unserer beiden Antipoden suchen – des Dichters und des Predigers? Was ich schon aus anderen Quellen wusste: So wie sie lebten sind sie gestorben – der eine auf der Kanzel einer lutherischen Kirche, der andere schon fünf Jahre vor ihm in dramatischer Geste mit der Pistole in der Hand – der thüringische Prediger, Theologieprofessor, Bildungspolitiker, Familienmensch Josias Friedrich Christian Löffler (1752-1816) und der märkische Dichter, Offizier, Journalist Heinrich von Kleist (1777-1811).

Dieter Weigert, Berlin, 17. Juli 2023

(In unregelmäßigen Abständen wird der Verfasser weitere Folgen der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars an dieser Stelle erscheinen lassen – wie in den guten alten Zeiten die Zeitungsredakteure in täglichen Fortsetzungen im „Keller“ von Seite 3 die Spannung eines guten Romans dem Publikum zum Frühstück servierten)

Wie die Sekte der grünen Selbstgerecht:Innen dem „Türkenlouis“ den Bierhahn austrocknete

Die Geschichtslos:Innen verraten sich in Sprache und Schrift, sie greifen nach unserem Privatleben:

Eine historisch gewachsene Stadt im deutschen Südwesten, ein Kleinod mit Schloss und Bierkneipen, benannt nach einem ehemaligen adeligen „Landesvater“, der als Sieger mit reicher Beute aus einem Feldzug gegen die Osmanen heimkehrte und Louis (Ludwig) hieß.

Soweit, so gut. Oder nicht gut – der letzte große Krieg hinterließ eine Ruine, der Name blieb als die Bierkneipe im gesichtlosen und geschichtslosen Bau neu eingerichtet wurde. Keiner der nun zugewanderten Arbeiter aus dem ehemaligen Osmanenreich stieß sich an diesem Namen, man traf sich eben beim TÜRKENLOUIS !

Ich trank mein Bier zum ersten Mal beim Türkenlouis im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts, als wir aus dem preußischen Norden uns mit „denen“ aus dem Südwesten zum Gedankenaustausch über demokratische deutsche Traditionen trafen und sehr viele Gemeinsamkeiten entdeckten.

Dann kamen die großen Fragezeichen, freundlich zuerst: Ich als Thüringer – aufgewachsen in einem Dorf, das stolz auf seine merowingische Herkunft verweisen konnte – war doch etwas erstaunt, wie unsere Schwestern und Brüder so leichtfertig uns als die aus den „Neuen Ländern“ begrüßten – sie, die ALTEN, die Lehrer, manche auch OBER-LEHRER, deren Geschichtsbewußtsein mit Mühe bis zum Bauernkrieg zurückreichte. Wie gesagt, alles noch freundlich.

Die Jahre vergingen, wir im Norden und Osten passten uns den Sitten, Gesetzen, Gewohnheiten der neuen Herrschaften an, sie gaben uns das Papier, wir gaben ihnen Fabriken, Bodenschätze und Chefsessel und für die im Süden und Westen blieb alles beim Alten – bis die Sekte der Selbstgerechten „übernahm“, sich nun in die „SELBSTGERECHT:INNEN“ verwandelte und auch den Dingen um sie herum neue Namen gab, die Menschen verblüffte mit erschreckenden Worthülsen, den zugewanderten Türken erklärte, dass doch „Türkenlouis“ rassistisch sei und sie ab sofort ihr Franz-Bier im „Markgraf“ zu schlürfen hätten.

Verwirrt fuhr ich zurück. Wo war im Süden und Westen der gesunde Menschenverstand abgeblieben? Das Unheil folgte mir auf den Fersen – Die Selbstgerecht:Innen übernahmen auch hier im Norden und Osten. Aus jeder neuschaffenen, gekünstelten Worthülse schlüpften aalglatte Vorschriften, Dogmen, Normen, lebensgefährliche Gesetze. Wahlversprechen wurden gebrochen, politische Widersacher:Innen ausgegrenzt, Medien gleichgeschaltet, Zwangsgebühren erhoben für auch nicht genutzte Medien und billigsten Schund im „öffentlich-rechtlichen“ Fernsehen. Meine links-liberale politische Landschaft hatte sich verändert – Opposition war zum Wagnis geworden, ich hatte keine Ansprechpartner:Innen mehr. Meine Argumente wurden verlacht, später in die rechte, populistische, extreme Ecke gedrückt.

Das Schlimmste aber, eingeworfen in meinem Briefkasten:

Es tauchen Flugblätter auf, in denen „GÄST:INNEN“ (!!! – welche Verhöhnung der Sprache) zum Boykott von „faschistisch“ deklarierten Gaststätten aufgefordert werden – mit Begriffen wie „Austrocknen“ oder „dicht machen“. Das ist strafrechtlich relevant ! Das ist schon kein Druck mehr zur Umbenennung der Kneipe, das ist selbst schon autoritäre Politik der „Selbstgerecht:Innen“ – Wehret den Anfängen !

Ein preußischer Hauptmann (+ 1941), ein sowjetrussischer Diplomat (+ 1923) und ein Kardinal – Wilhelm von Braun im Fadenkreuz brauner Mörder

Gedenken an Dr. Wilhelm von Braun

Der Fernsehsender 3sat strahlte am 4. Mai diesen Jahres eine historische Dokumentation unter dem Titel „Die Affäre Conradi“ aus. Nichtssagend die Produktion des Schweizer Fernsehens SRF auf den ersten Blick, aber überraschend aktuell für mich, da ich mich seit Jahrzehnten mit dem Schicksal des preußischen Hauptmanns Wilhelm von Braun beschäftige und bei diesen Recherchen auf den Namen des sowjetrussischen Diplomaten Worowski gestoßen war, der 1923 durch einen rechtsextremen schweizerisch-russischen Offizier in Lausanne ermordet worden war.

Während einer Veranstaltung auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof hatte ich im August 2011 Gelegenheit, in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Fördervereins an das Schicksal jenes preußischen Hauptmanns zu erinnern.

Ich erlaube mir, aus dieser Rede zu zitieren – mit wenigen Aktualisierungen:

„Wir gedenken heute eines Mannes, dessen Lebens- und Leidensweg mehrfach die überkommenen Leitlinien des königlich-preußischen Offiziers des 19. /20. Jahrhunderts durchbricht.

Das Leitbild, wie es die Knesebecks, Brauchitschs, Holzendorffs, Lützows hier auf diesem Berliner Offizierskirchhof an der Linienstraße verkörpern, wird durch die vier Eckpunkte bestimmt:

erstens – Offizier von der Wiege bis zur Bahre,

zweitens – protestantisch,

drittens – normgerechtes Familien- und Sexualverhalten und schließlich

viertens – politisch neutral, passiv  und loyal gegenüber der staatlichen Obrigkeit.

Hineingeboren 1883 in eine typische ostelbische Offiziersfamilie – Vater Regimentskommandeur, einer der Ahnen sogar Stadtkommandant Berlins am Ende des 18. Jahrhunderts – nimmt Wilhelm von Braun schon in jungen Jahren, kurz nach der Beförderung zum Artillerie-Leutnant im Jahre 1904,  den Abschied, um sich der Wissenschaft und der Rechtsprechung zu verschreiben. Er promoviert 1910 an der Universität Heidelberg zum Dr. jur. und promoviert nach Aussagen seines Neffen Ralph von Gersdorff (Brief an mich vom 2.Oktober 1995 und mündliche Aussage bei einem Besuch im Jahre 1996) zum Dr. theol. wie auch zum Dr. rer. pol. , was wir bisher nicht nachweisen können.  Der erste Ausbruch muss inkonsequent bleiben, da ihn der erste Weltkrieg holt – an die Ostfront, die er zwar überlebt, und in türkischen Diensten.  Er beendet den Krieg in russischer Gefangenschaft.

Der zweite Ausbruch, das Verlassen der protestantischen Gemeinschaft, der Übertritt zur römisch-katholischen Kirche, erfolgte vermutlich schon im Jahre 1912, wie der Journalist Hansjakob Stehle nach Recherchen in den Archiven des Vatikan schreibt. Es war die Freundschaft mit dem katholischen Priester Giuseppe Pizzardo, dem späteren Unterstaatssekretär im Vatikan und Kardinal, die ihn zu diesem Schritt führte.  

Pizzardo war ab 1909, also während der Studienzeit Brauns, in München Mitarbeiter der dortigen päpstlichen Nuntiatur. Über geistige, weltanschaulich-philosophische Beweggründe für diese Entscheidung ist nichts bekannt. Der Übertritt zum Katholizismus manifestiert sich vermutlich auch durch die Freundschaft zu dem polnischen Ingenieur Worowski, den er in München kennenlernt, während des Exils, in das Worowski als Sozialdemokrat (Bolschewiki) durch das Zarenregime gezwungen wurde.

Vaclav V. Worowski

Den dritten Bruch mit der Tradition, das offene Bekennen zur Homosexualität, vollzieht Braun auch schon in der Zeit vor dem Weltkrieg. Um den Verfolgungen auf der Grundlage des § 175 im Kaiserreich zu entgehen, geht Braun in das in dieser Hinsicht liberale  und tolerante Italien.

Und schließlich der endgültige Bruch – unmittelbar nach den Erlebnissen des Krieges der Eintritt in die praktische Politik, der Einsatz für die Ziele des Humanismus, des Friedens, der internationalen Zusammenarbeit. Es ist wiederum der befreundete Giuseppe Pizzardo, der die Fäden zum Vatikan knüpft. Der Vatikan versucht, die mit der Neuen Ökonomischen Politik Lenins verbundene Öffnung zum Westen zu nutzen und  bemüht sich um Kontakte zur Sowjetregierung, deren offizieller Vertreter als Chef einer Handelsmission in Rom der aus einer polnischen Familie stammende Ingenieur, Ökonom und Publizist, der Katholik Worowski ist, den der rechtsextreme Terrorist Conradi zwei Jahre später in der Schweiz erschießt. Worowski und Wilhelm von Braun kennen sich aus der gemeinsamen Zeit in München in den Jahren vor 1910 – Worowski, einer der wichtigsten Vertreter der Auslandsorganisation der Bolschewiki  in Deutschland und der Schweiz und Braun, der Jura-Student. Die erste Aufgabe Brauns in der Zusammenarbeit mit Pizzardo und Worowski im Jahre 1921 ist die Vermittlung von Hilfslieferungen der westlichen Staaten über den Vatikan für die hungernde russische Bevölkerung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese intensiven, aber informellen Kontakte Berlin – Moskau – Vatikan sich in jener Periode festigen, in der der Katholik Joseph Wirth Reichskanzler ist.

Aus diesen ersten Kontakten entwickelt sich eine Kette diplomatischer Aktivitäten, die schließlich in die Konferenz von Rapallo und die enge Zusammenarbeit des Deutschen Reiches mit Sowjetrussland ab 1921 führt. Dr. Wilhelm von Braun hat aktiven Anteil an dieser Entwicklung durch die Herstellung von Kontakten von deutschen Großunternehmen wie z.B. Siemens & Halske und Banken mit Sowjetrussland und daraus folgenden Angeboten von joint ventures zwischen dem Vatikan, Deutschland und Sowjetrussland.

In diese Periode fällt die Ermordung seines Freundes Worowski durch jenen schweizerischen Rechtsextremisten Moritz Conradi am 10. Mai 2023 in Lausanne.

Nach 1924 lebt Braun in verschiedenen Ländern, vermutlich in China, Italien, Deutschland – meist bei den Benediktinern.  Die politischen Hintergründe liegen im Dunkel, auch die weiteren Kontakte zu Moskau, geben aber Anlass zu Spekulationen – ebenso wie der überraschende Eintritt in die Nazipartei 1933.

braun1a

Die vier Ausbrüche enden 1935 mit der Verhaftung durch die Gestapo und die Einlieferung in das Konzentrationslager Dachau. Damit beginnt der Leidensweg durch die Gefängnisse und Konzentrationslager des NS-Regimes – Dachau, Mauthausen, Buchenwald. Nichts bleibt ihm erspart, der Status als politisch Prominenter wird sein Leiden noch verschärft haben, wie der Vermerk „Steinbruch“ auf einer Karteikarte der SS vom Jahre 1940 belegt.

In den KZ-Unterlagen wurde er als „prominenter Häftling“ geführt.

Was hatte es mit dem sogenannten Prominentenblock im KZ Buchenwald auf sich? Im Archiv Arolsen gibt es zwei undatierte Listen, jeweils überschrieben: „Prominente Häftlinge im K.L. Buchenwald“. Eine ist mit Sicherheit nach dem Februar 1940 angelegt worden, sie enthält Namen, darunter auch den des Dr. Wilhelm von Braun mit folgender Personenbschreibung: „Theologe, § 175, Hauptmann a.D., Polizei-Agent, Verbindungsmann zum Vatikan, Sowjetbotschafter in Rom“.  Die zweite Liste ist zwar auch überschrieben mit „Prominente Häftlinge im K.L. Buchenwald“, wurde aber in den Unterlagen des KZ Dachau gefunden. Die Eintragungen zu einzelnen Namen zeigen, dass die Liste von Mitte April 1940 stammt. Die Eintragung zu Braun ist gestrichen mit dem Vermerk 14.4.40.

Zur „Prominenz“ dieser Listen zählen u.a. Funktionäre der KPD auf Landesebene der Weimarer Republik, Hohe Staatsbeamte, katholische Priester, Militär und Gendarmerieoffiziere der ehemaligen Republiken Österreich und Tschechoslowakei.

Am 29. August 1941 wird Wilhelm von Braun durch eine Gift-Injektion ermordet. Die Schwester Bertha erhält im Winter 1941 die Habseligkeiten ihres ermordeten Bruders. Offiziell schreibt der zuständige SS-Offizier auf die Rückseite der Karteikarte mit der Auflistung des Eigentums.  „Der Nachlaß wurde am 19. Dezember 1941 der Kripo-Leitstelle Berlin zur Aushändigung an die Schwester des Verstorbenen übersandt.

W. v. Brauns Schwester Bertha

Seine Schwester, selbst dem Widerstand gegen das NS-Regime verbunden und später  vor dem „Volksgerichtshof“ angeklagt, setzte mutig durch, dass die Urne mit der Asche des Ermordeten im Familienbegräbnis auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof im Oktober 1941 ihren Platz fand.

Die Mutter Geros von Gersdorff, Bertha Friederike von Gersdorff-Büttikofer, geb. von Braun, wurde durch das NS-Regime nach dem 20. Juli 1944 festgenommen, da sie in Verbindung zu einer Widerstandsgruppe stand. Sie wurde vom „Volksgerichtshof“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und am 23. April 1945 durch die angesichts der sich nähernden Roten Armee verunsicherten Wärterinnen des Gerichtsgefängnisses in Berlin-Charlottenburg freigelassen.

Für die Verbindung der Familie Wilhelm von Brauns mit dem antifaschistischen Widerstand sprechen auch die Aktivitäten des Sohnes der Schwester Bertha, des Offiziers der Wehrmacht Gero von Gersdorf, der nach Aussagen von Familienangehörigen in Kontakt zu der Gruppe um von Tresckow stand, bei einem Einsatz für die Gruppe Ende 1941 an den Folgen eines Flugzeugabsturzes ums Lebens kam und auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof in der Familiengruft Braun/Gersdorf beigesetzt wurde.

Das Familienarchiv (Texte, Dokumente und Fotos) wurde uns freundlicherweise in den 90er Jahren durch den in Washington, D.C. (USA) lebenden Bruder des Rittmeisters Gero von Gersdorff und Neffen Wilhelm von Brauns, Dr. Ralph von Gersdorff, zur Verfügung gestellt. Er ist im Jahre 2006 verstorben, wie aus einem Nachruf der Washington Post hervorgeht.

Leider ist die Grabanlage der Familie von Braun mit den Grabdenkmalen des Vaters und der Mutter Wilhelm von Brauns, die noch 1978 in der von Peter Rohrlach angelegten Liste der auf dem Garnisonfriedhof vorhandenen Grabstätten aufgeführt sind (Platz 4, 3. Reihe, Nr. 299), abgeräumt worden.

Gedenken gilt ebenfalls der polnischen Widerstandskämpferin Sonia Horn, die während der Straßenkämpfe in Berlin ums Leben kam sowie zwei deutschen Soldaten, die noch in der letzten Kriegswoche bei den Kämpfen im Stadtzentrum dem Wahn der NS-Führer zum Opfer fielen – dem 18-jährigen Toni Feller (getötet am 2. Mai 1945) und dem 50-jährigen Johannes Volkmann (getötet am 27. April 1945), beide in Einzelgräbern auf dem Friedhof beigesetzt.“

Soweit die Gedenkrede aus dem Jahre 2011 – heute angesichts der zunehmenden Militarisierung unseres Landes und der kriegtreiberischen Aktivitäten führender Mitglieder der gegenwärtigen Regierung aktueller denn je.

Dr. Dieter Weigert, Vorsitzender des Fördervereins Alter Berliner Garnisonfriedhof e.V., 18. Juni 2023

Wehrdienstverweigerer – Wer hat Angst vor … Adolf Sydow ?

NO WOKE

NO WAR

Vor den Toren Berlins wurde dem Charlottenburger Bürgermeister Otto Ferdinand Sydow und dessen Ehefrau Karoline Sophie Henriette geb. Müncheberg am 23. November 1800 ein Sohn geboren und in der Berliner Nikolaikirche  getauft. Als Geburtsort ist nicht Charlottenburg, sondern Berlin angegeben, weil die Mutter – obwohl sehr königstreu und voller Verehrung für Königin Luise – ihre fünf Knaben in Berlin bei ihren Eltern zur Welt brachte, um sie wegen der „Kantonfreiheit“ der Residenz Berlin dem preußischen Militärdienst zu entziehen.

Schon als Kind kam Sydow in enge Berührung zum preußischen Offizierskorps, wurden doch seine Schwestern gemeinsam mit der Tochter des preußischen Stadtkommandanten, General von L ‚Estocq, erzogen. Durch Privatlehrer gut vorbereitet, konnte der Knabe Adolph ab 1812 das bekannte „Gymnasium zum Grauen Kloster“ in Berlin besuchen.

(Wer unter den getreuen Lesern meint, er habe diese Zeilen vor einiger Zeit schon einmal gelesen, kann durchaus seinem Gedächtnis vertrauen ! Im August 2021 hatte ich mich mit einem blog der Öffentlichkeit gestellt – lange vor den „heißen“ Ukraine-Ereignissen vom Frühjahr 2022. Da sich seitdem die Dinge in unvorhergesehenem Tempo und Qualität veränderten, sei eine Wiederaufnahme des Themas nicht nur erlaubt, sondern dringlich und nötig!)

Ein Stipendium versetzte ihn in die Lage, an der Berliner Universität bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Theologie zu studieren. Wegen der Teilnahme an burschenschaftlichen Aktivitäten wurde er 1819 verhört, durfte aber das Studium fortsetzen. 

Schon während des dritten Studienjahres war der  Chef des Berliner Kadettenkorps, General von Brause,  auf Sydow aufmerksam geworden und hatte ihm auf  Empfehlung der Lehrer vom Gymnasium zum Grauen  Kloster das Angebot einer Repetentenstelle, eine Art  Hilfsprediger, an der Kadettenanstalt gemacht. General von Brause gehörte zum engeren Kreis der Offiziere um Scharnhorst und Boyen, die sich nach 1806 energisch um die Reformierung der preußischen Armee, um die Qualifizierung des Offizierskorps bemühten. Es ist daher nicht zufällig, dass er den durch beste Studienleistungen aufgefallenen Sydow für die Tätigkeit im reformierten Kadettenkorps ausgewählt hatte.  Mit 21 Jahren trat Sydow damit in den Staatsdienst, studierte nachts und legte seine Abschlussprüfungen an der Universität erst im Jahre 1827 ab – mit vorzüglichem Erfolg, was ihm die zweite theologische Prüfung ersparte. Diese Zeit an der Kadettenanstalt brachte ihn in engen Kontakt zu jungen Offizieren, die später bekannte Generale der preußischen Armee wurden – von Roon und von Scheliha.

Die ausgezeichneten Prüfungsergebnisse und die Protektion durch General von Brause bewogen das Konsistorium, dem jungen Sydow schon 1828 eine reguläre Predigerstelle an der Kadettenanstalt zu übertragen. Bis 1837 hat er diese Stelle ausgefüllt, geschätzt von den Kollegen, beliebt bei den Militärschülern und stets im Blickfeld des Königs. König Friedrich Wilhelm III. hatte 1836 beim Besuch einer seiner Predigten in der Berliner Garnisonkirche den Entschluss gefasst, ihn an die Garnisonkirche von Potsdam zu versetzen – eine Rangerhöhung im militärischen Sinn und eine Auszeichnung auch unter kirchenpolitischen Gesichtspunkten. Seine Probepredigt hielt er am 6. November 1836 in der Berliner Garnisonkirche.

Sie fiel positiv aus, und der anwesende Prinz Wilhelm schrieb die positive Beurteilung als Kommandeur der Gardedivision an das Königliche Konsistorium. Er bezeichnete die Anstellung Sydows als „einen wahren Gewinn für die Militärgemeinde“.  Sydow war der Abschied von Berlin nicht leicht gefallen, musste er doch einen Freundeskreis und eine in den Jahren gewachsene Personalgemeinde zurücklassen.  In Potsdam gelang es Sydow relativ schnell, enge Kontakte zu führenden zivilen und militärischen Persönlichkeiten aufzubauen, aber auch seelsorgerische Aufgaben in den unteren Schichten der Gesellschaft zu erfüllen. 1840/41 erreicht er durch eine öffentliche Vortragsreihe zu theologischen und kulturellen Themen einen breiten Kreis von literarisch und philosophisch Interessierten.

Dem Regierungsantritt König Friedrich Wilhelms IV. sah Sydow wie viele seiner Zeitgenossen hoffnungsvoll entgegen, die ersten Kontakte und Diskussionen mit dem König bestätigten seine Erwartungen. Sydow erhielt in diesen Jahren den Auftrag, die anglikanischen Kirchenverhältnisse in England zu studieren, um den König in der Frage zu beraten, inwieweit Möglichkeiten der Übertragung dieser Verhältnisse auf Preußen bestünden. Der ablehnende Bericht Sydows 1844 nach  eineinhalb Jahren Vor-Ort-Untersuchung enttäuschte  den König ebenso wie Sydows kritisches Auftreten in  der Provinzialsynode von 1846, das wesentlich dazu  beitrug, Friedrich Wilhelms IV Projekt einer konservativen Kirchenreform in Preußen zu Fall zu bringen.  1846 wird Sydow Pfarrer an der Neuen Kirche (heute sog. „Deutscher Dom“, Museum, Gendarmenmarkt) in Berlin, dabei in die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen des Vormärz hineingerissen – und entwickelt sich zu einem ihrer führenden Akteure. 

Doch gehen wir zurück in das Frühjahr 1840, Friedrich Wilhelm, der preußische Kronprinz, verfasste ein Konzept für die Erneuerung der Kirche – eine apostolische Kirche sollte es sein, vom patriarchalischen Verständnis über Staat und Gesellschaft ausgehend, ohne Rationalismus und Pantheismus. Gott sei nicht rational erklärbar, Gott sei nicht nach menschlichen Vorstellungen messbar.  Es ging dem späteren König Friedrich Wilhelm IV.  um die Wiederherstellung der reinen Verfassung der primitiven Kirche, angepasst an die Zustände des christlichen Staates des 19. Jahrhunderts. So wie die Apostel neue Kirchen gestiftet hatten, sollte nun in Preußen eine neue apostolische Kirche gestiftet werden. An der  Spitze des kirchlichen Systems sollte ein König von  Gottes Gnaden stehen, ihm untergeben ein Erzbischof  nach dem Vorbild der anglikanischen Kirche in England  – eine katholische Struktur mit evangelischen Lehren.  Der König ist 45 Jahre, das Konzept ist das eines poetischen Charakters, illusionär, romantisch – aber es schließt Toleranz gegenüber anderen Strömungen ein – aber außerhalb der Kirche. Die Kirche soll rein bleiben.  1845/46 trägt der nunmehrige König seine Vorstellungen einer Kirchenreform in zwei Aufsätzen noch-mals vor – mit Änderungen in der Struktur der Kirchenleitung. Eine letzte Niederschrift stammt von der Jahreswende 1847/48, schon pessimistisch gehalten, das Scheitern dieser Ideen war offensichtlich.  Der Ablauf der auf Weisung des Königs seit 1840 einberufenen Synoden zeigte, dass sich die evangelischen Pfarrer Preußens mit den Ideen Friedrich Wilhelms IV nicht anfreunden konnten und wollten. Die liberalen, weltoffenen Pfarrer hatten besonders in der Provinz Brandenburg die Mehrheit. Auf der Brandenburgischen Provinzialsynode vom 8. November 1844 wurde eine vom Staat unabhängige Kirchenverfassung gefordert. Der Bericht der Verfassungskommission verwarf explizit alle Ideen einer Ordination oder Weihe der Pfarrer im Sinne einer ununterbrochenen Abfolge seit den Aposteln, also genau der Lieblingsidee des Königs. Als führender Kopf der liberalen Mehrheit trat in Berlin der Pfarrer an der Nikolaikirche, Ludwig Jonas (1797-1859), Anhänger und später Herausgeber des Nachlasses Schleiermachers, hervor. Seit 1845 hatte er gemeinsam mit Sydow die „Zeitschrift für die unirte evangelische Kirche“ herausgegeben, das publizistische Zentrum der evangelischen Linken. Jonas war 1844 Mitbegründer des großen Berliner Handwerker- Vereins, wurde 1848 in die Verfassungsgebende Preußische Versammlung gewählt, gehörte ihr bis November 1848 an, war 1858/59 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.  Auf der konservativen Seite heißen die Führer Otto  von Gerlach, Pfarrer mit großem sozialen Engagement,  ab 1833 im Berliner Vogtland (Elisabethkirche in der  Invalidenstraße) und Ernst Wilhelm Hengstenberg,  Theologie-Professor an der Berliner Universität, der ab  1827 die Evangelische Kirchenzeitung herausgab.  Scheitelpunkt der Auseinandersetzungen war die vom König einberufene Pfingstsynode der evangelischen Kirche Preußens, die so genannte Generalsynode von 1846. Sie setzte sich aus geistlichen und weltlichen Würdenträgern zusammen, Vorsitzender war Kultusminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn, Stellvertreter der von der Synode gewählte Bischof  Daniel Amadeus Neander.  Auch in dieser Versammlung dominierten die Liberalen der Schleiermacher-Richtung (59 von 75 Mitgliedern), der führende Kopf der Linken innerhalb der  Liberalen war Adolph Sydow. Obwohl die Synode in einem Gesamtkompromiss bezüglich der Kirchenverfassung endete, war sie doch eine Niederlage für den König und die Konservativen. Sie wurde am 29. August 1846 vertagt und nicht wieder einberufen.Die wichtigste Erkenntnis: Die Synode hatte gezeigt, dass die Kirche ebenso wie die gesamte Gesellschaft im Vormärz politisiert und polarisiert war.

In diese explosive Situation fliegen die Funken des März 1848.  Am Nachmittag, Abend und in der Nacht des 18.  März (Samstag) liegt die Garnisonkirche unmittelbar im Frontbereich. Sie wird zwar noch vom Militär verteidigt, ist aber ringsum von Demokraten belagert; Barrikaden stehen an der Herkulesbrücke, der Spandauer Brücke, in der nördlichen Burgstraße zwischen Herkulesbrücke und Neuer Friedrichstraße.  Weiterhin haben die Aufständischen Barrikaden am Hackeschen Markt, an den Zugängen zum Schloss Monbijou, innerhalb der Neuen Friedrichstraße an der Kreuzung Klosterstraße errichtet. Das Militär in Bataillonsstärke hat Posten gefasst in der Nähe der Marienkirche und in der Klosterstraße, an der Kreuzung Königstraße.  Garnisonpfarrer Ziehe ist einer der Verteidiger der Kirche, wie uns Georg Goens berichtet: „Und in der That, einen königstreueren Mann hat’s wohl gegeben.  Als die Flut revolutionärer Gedanken und Thaten im Jahre 1848 auch durch Berlin rauschten, da stand der alte Ziehe mit dem Volke in Waffen, wie eine Säule zu dem ,Königthum von Gottes Gnaden‘. In unmittelbarer Nähe der Garnisonkirche, an der Ecke der Spandauer Straße, hatten die Aufrührer eine Barrikade gebaut, und da Droschken und Fässer nicht mehr zur Stelle  waren, machte man sich daran, die Kirche zu erbrechen, um mit den Bänken die Lücken auszufüllen. Da  eilte der Pfarrer mit seinem Töchterchen hinab auf die  Straße und deckte mit seinem Leibe die Kirchenthür,  und das Bild des hünenhaften, greisen Geistlichen und  neben ihm das des tapferen jungen Mädchens machte  auf den Pöbel einen solchen Eindruck, daß sie die  Kirche beschämt verließen.“  Das Militär wird zurückgezogen, auf beiden Seiten wird die Bilanz aufgemacht und es werden die Toten bestattet – mit und ohne militärischen Ehren, aber mit religiöser Feier.

Die Aufbahrung der Toten erfolgt in Sydows Neuer Kirche.

HISTORIALE

Nach einem feierlichen Marsch durch die Stadt erfolgt die Beisetzung der 183 Barrikadenkämpfer am 22. März 1848 im Friedrichshain, an der auf Befehl des  Königs die gesamte Berliner Geistlichkeit im Ornat teilzunehmen hatte!  Die Leichenpredigt an den Gräbern  hält Adolph Sydow für die Evangelischen. Der Eindruck der Rede ist so gewaltig, dass Sydow zur Kandidatur für die Wahlen zur Preußischen Verfassungsgebenden Versammlung gedrängt und im Mai 1848 für den 5.  Berliner Bezirk im ersten Wahlgang zum Mitglied gewählt wird. Adolph Sydow ist einer von den 50 Geistlichen, die eines der 395 Abgeordnetenmandate erringen?  In den parlamentarischen Sitzungen zeigte sich bald, dass Sydow kein Revolutionär war. In wichtigen Fragen stimmte der königstreue Prediger mit den Konservativen, so dass er auf dem Platz vor dem Parlament im  „Kastanienwäldchen“ am 9. Juni 1848 durch aufgebrachte Demonstranten aus Enttäuschung und Wut vor  der Tür der Tagungsstätte beschimpft, bedroht und tätlich angegriffen wurde.

Am Kastanienwäldchen – Heinrich Heine an der Berliner Universität – dahinter das erste Berliner Parlamentsgebäude von 1848 – die „Singakademie“

Die konservative Haltung Sydows zeigte sich auch im Juni 1848 während des Zeughaussturms und im November 1848, als er und Jonas der Aufforderung des Königs folgen, nach Verkündung des Ausnahmezustandes nach Brandenburg zu ziehen, während die revolutionäre Minderheit des Parlaments dem König die  Stirn bietet und in Berlin bleibt. Das Kapitel Revolution ist abgeschlossen. Sydows parlamentarisches Mandat war erloschen, um ein neues hat er sich – trotz mehrfacher Aufforderung – nicht beworben.

Noch zweimal gerät er in politische Turbulenzen. Im Jahre 1859 begeht Berlin den 100. Geburtstag Friedrich Schillers. Der Magistrat beauftragt Sydow mit einer Gedenkrede zur Grundsteinlegung eines Denkmals auf dem Gendarmenmarkt. Die konservative Hofpartei und persönlich Wilhelm I., Prinzregent, später preußischer König und deutscher Kaiser, haben das Denkmal zu Ehren des Dichters der „Räuber“ nicht verhindern können, nun aber wollen sie wenigstens die Feierlichkeiten in ihrer Wirkung begrenzen.

Aufnahme von Sammlungsgut 2015

Wenn schon der populäre Sydow Redner sein soll, dann aber in „Zivil“, nicht im Talar eines Pfarrers der Landeskirche, an deren Spitze eben der Regent stand. Sydow  antwortet auf die Provokation mit den Worten: „Sagen Sie Sr. Königlichen Hoheit, der Talar sei meine Uniform, und er würde doch keinem Offizier eine Handlung zu vollziehen gestatten, zu der er genöthigt sei,  seines Königs Rock vorher auszuziehen.“  Wie Menzels Zeichnung dokumentiert, hat Sydow  seine Rede im Talar gehalten. Wilhelm, der Prinzregent, zog es vor, in Abänderung des vereinbarten Programms, sich nicht öffentlich zu zeigen. Hinter den Gardinen eines Gebäudes mit Sicht auf den Gendarmenmarkt (Preußische Seehandlung) hat er die Zeremonie beobachtet.

links im Bild der „Deutsche Dom“

Der zweite Anlass, der ihn nochmals in Widerspruch zum Hof bringt, ist ein öffentlicher Vortrag am 12.  Januar 1872 zum Thema „Die wunderbare Geburt Jesu“ in einer Veranstaltungsreihe des Berliner Unionsvereins.

Sydow weist nach, dass die jüdische Vorstellung der Gottessohnschaft oder Messianität eine andere gewesen sei als die später aufgekommene christliche Lehre. Er lässt die Quellen des Neuen Testaments sprechen, die Jesus als den Sohn Josephs bezeichnen?  Der Vortrag erregte Aufsehen, die Zeitungen berichteten darüber – das Königliche Konsistorium der Provinz Brandenburg forderte Sydow zur Stellungnahme auf – es habe Proteste gegeben. Angesichts des öffentlichen Interesses der Debatte in den Berliner Zeitungen und der starken Unterstützung für Sydow in der Stadt bis zum Magistrat und zur Stadtverordnetenversammlung statuierte die Kirchenleitung auf Druck des Hofes ein Exempel: Sydow wurde des Amtes enthoben. Als der Druck der Öffentlichkeit zunahm, wandelte das Konsistorium die Strafe in einen scharfen Verweis um.  Schließlich ergeht es Adolph Sydow wie Johann Friedrich Walther und anderen historischen Gestalten – sie sind entweder vergessen oder nur den Experten mit einer Seite ihres Wirkens bekannt. Im Biographisch- Bibliographischen Kirchenlexikon von 19969 ist er zwar als Theologe mit einer Doppelspalte vertreten – aber ohne Bezug zu seinen politischen Aktivitäten 1848 – und natürlich auch ohne Bezug zu den besonderen Umständen von Geburt und Taufe. 

Ebenfalls gibt es keinen Bezug im der Gedenktafel an Sydow Kirche am Gendarmenmarkt  zu seiner Person – leider!

Grab Adolf Sydows auf dem Friedhof am Mehringdamm (Berlin-Kreuzberg)

SYDOW, der

WEHRDIENSTVERWEIGERER

(wenn es nach dem Vater, einem braven preußischen Kommunalpolitiker, gegangen wäre)

wäre angesichts der aktuellen Kriegshysterie der AMPEL-Fanatiker

ein

VORBILD !!!

ALSO wie 1982:

Gegen die aktuellen Wokisten !

Dieter Weigert, Berlin  Juni 2023

Meinst du, die Franzosen wollen diesen Krieg?

NOWAR !!!

NOWOKE !!!

ist das Motto, der Kampfruf meiner von nun an in unregelmäßigen Abständen erscheinenden BLOGS: kein Krieg, kein woke !

Auf gut Deutsch: FRIEDEN, DIPLOMATIE, Respekt gegenüber historisch gewachsenen familiären Werten, Achtung vor der Lebenserfahrung der Älteren, politische und kulturelle Toleranz !

Aktuelle Symbole der blogs:

Paris – damals und heute:

Den Franzosen blieb im letzten Weltkrieg das Schicksal Berlins, Warschaus, Dresdens erspart, ihre Haupstadt Paris nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus in Ruinen zu finden.

Der in London erscheinende ECONOMIST vom 18. Februar 2023 titelte auf Seite 24 -also nicht ganz vorne – recht missverständlich: „Charlemagne – France’s fatal Russia fascination“. Untertitel: „A long history helps explain why Paris found it hard to break fully with Moscow“, gekoppelt mit einer bluttriefenden Karikatur:

Es soll also der Eindruck vermittelt werden, dass von der Zeit Karls des Großen bis in die Gegenwart der fränkisch-gallische Hahn und der russische Bär miteinander flirteten, dass zwei europäische Großmächte voneinander fasziniert waren, dass Kriege und Gewalt zwischen ihnen letztendlich überlagert wurden durch gegenseitige kulturelle Zuneigung. Als historische Zeugen treten u.a. Voltaire, Diderot, Präsident Chirac, Ministerpräsident Fillon auf.

Die Karte des Mittelalters demonstriert die französische Atlantikküste als westliche und das russische Uralgebirge als östliche Begrenzung des europäischen Kontinents, wobei der Ural Europa nicht nur von Asien trennt, sondern den Übergang zum russischen Sibirien, damit zum asiatischen Kontinent bildet.

Unter dem Dach der gegenseitigen Bestrebungen der französischen und russischen Herrscher nach Dominanz des europäischen Kontinent seit dem Mittelalter sind Kriege, unterschiedliche Militärkoalitionen, gewaltsame Interventionen auf dem Territorium des anderen Staates („regime change“ im WOKE-jargon), ebenso an der Tagesordnung wie wechselnde dynastische Verflechtungen und Bündnisse, Verschmelzungen oder aktive Störungen wirtschaftlicher und kultureller Kontakte.

Was die in London ansässige Redaktion des „ECONOMIST“ nicht kennt oder bewusst verschweigt, sind die differenzierten Beziehungen zwischen russischen und französischen Akteuren, gesellschaftlichen Gruppen, privaten Zirkeln, geschäftlichen Interessenvertretern, dynastischen Kreisen und natürlich familiären Cliquen seit der frühen Neuzeit.

Die einseitige, zum Teil haarsträubend polemische Darstellung des Lebens und des politischen Wirkens des ersten starken Zaren der Neuzeit, Iwan IV, („Iwan Grosny“) in Westeuropa ist ein Musterbeispiel für die sich ausbreitenden Russenfeindlichkeit.

Nehmen wir dieses 16. Jahrhundert – Westeuropa durchlebt grausame Bürgerkriege, in denen Tausende Menschen auf Befehl der herrschenden Dynastie abgeschlachtet werden, in Paris steht dafür exemplarisch die sogenannte Bartholomäusnacht.

Wurde der französische König der „Schreckliche“ genannt oder ging seine Mutter, die verwitwete Königin Katharina von Medici, mit dem Beinamen „die Schreckliche“ in die Geschichtsbücher ein ? Sie stammte aus Italien, nicht aus Russland, da verdient sie ein anderes zivilisiertes Attribut !

Aber Zar Iwan IV., der seine innenpolitischen Gegner zur gleichen Zeit, aus den gleichen politischen Motiven terrorisierte, wurde durch die Gegner und deren ausländische Verbündete zum „Schrecklichen“, obwohl das russische „Grosny“ durchaus auch andere Übersetzungen anbietet.

Englische Historiker der Gegenwart lassen seitenlange „Narratives“ drucken, auf denen sie die Handelswege zwischen Westeuropa und Russland über die Nutzung der Häfen Nordrusslands detailliert darstellen (16. Jahrhundert), betonen dabei die zivilisatorische Rolle der britischen Kaufleute, Entdecker und Seeleute, verschwenden aber kein Blatt ihrer Publikationen zur Beschreibung des historischen Platzes des russischen Reiches in den Jahrhunderten zuvor als Mittler zwischen Europa und den mongolischen, chinesischen und anderen ost- und zentralasiatischen Gesellschaften und deren hochentwickelten wirtschaftlichen und politischen Strukturen. Westeuropäische Historiker und Geschichten-„Erzähler“ verwenden das Attribut „Retter Europas“ zur Kennzeichnung eines russischen Zaren erstmals für das 19. Jahrhundert – für Alexander I., als habe es in den vorhergehenden historischen Perioden die durch Kiew, Moskau, Wladimir, Nowgorod dominierten Staatengebilde und ihre Abwehrkämpfe gegen die Nomadenheere des Ostens nicht gegeben.

Der Helden-suchende Blick des britischen Kaufmannes muss sich notwendigerweise auf jenen Zaren Alexander verengen, der gemeinsam mit dem österreichischen Kanzler Metternich und dem preußischen Friedrich Wilhelm III. nicht nur den ökonomischen Konkurrenten Frankreich niederhielt, sondern hauptsächlich alle demokratischen Bestrebungen, manche noch eine Erbschaft der französischen Revolution, durch brutale Repression über drei Jahrzehnte ausschaltete.

Was den britischen „Erzählern“ auch abgeht in ihrer Geschichten- Sammlung, ist die starke französische demokratische und revolutionäre Tradition, die die liberale und proletarisch-sozialistische Jugend Russlands in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Emigrationsort – fliehend vor dem Terror der Zarenherrschaft – Frankreich wählen ließ. Man lese wieder einmal die Memoiren Ilja Ehrenburgs ! Ob die Redakteure und Schreiberlinge des ECONOMIST diesen Namen überhaupt kennen ?

Alles kann man bei ihm finden: den Brand von Moskau 1812

an der Beresina – den Untergang der Grande Armée im gleichen Jahr:

die Intervention der Engländer und Franzosen im Krimkrieg (in Paris wird man beim Schlendern über die „PONT DE L’ALMA“ daran erinnert):

und schließlich die Intervention gegen Sowjetrussland: die Franzosen nutzen die Niederlage der Türkei und landen Ende 1918 in Odessa, erleiden aber nach Anfangserfolgen strategische Niederlagen.

Legende:

Bürgerlich-nationalistische Kräfte kollaborierten in der Ukraine eng mit den französischen Interventionstruppen zusammen, am 27. Februar 1919 stellte das sogenannte ukrainische „Direktorium“ in einer diplomatischen Note die Ukraine „unter den Schutz Frankreichs“. Schon im Januar/Februar 1919 schlugen die „roten Regimenter“ die vereinten weißgardistischen und französischen Truppen und befreiten Charkow und Kiew.

Lage 1919/1920:

Legende:

Alles sehr aktuell im Jahre 2023 !!!

Für akribische Nicht-WOKISTEN zum Nachlesen:

Dieter Weigert, ANTI-WOKIST, Berlin-Prenzlauer Berg – 16. Juni 2023