Bemerkenswert

„HUMVEE“, die Herren Steinmeier und Röttgen

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Das ist ein „Humvee“, produziert seit dem Irak-Krieg beim US-amerikanischen Industrie-Giganten General Motors. In und auf diesem hässlichen, wüstensandfarbenen Ungetüm fahren seit vorgestern die TALIBAN durch KABUL und andere Städte Afghanistans spazieren. Sollten die TALIBAN die Vorstellung hegen, eine Siegesparade zur Machtübernahme in der Hauptstadt durchzuführen, würden die Fernsehbilder in aller Welt Hunderte solcher Kisten zeigen – fabrikneu aus den USA eingeflogen – besetzt von Kämpfern in variantenreichen „Uniformen“, bewaffnet mit allem, was die Arsenale von Uncle Sam hergaben. Bei geschichtsbewussten Menschen stellen sich Erinnerungen ein – Peking im Sommer 1949, Saigon im Frühjahr 1975. Damals gab es noch keine HUMVEEs, aber amerikanisch ausgerüstete „Regierungstruppen“, die regimentweise zu den Siegern überliefen – samt ihren Waffen, Panzern, Jeeps.

Was hat das mit dem Herrn Steinmeier u tun? Vor einigen Stunden formulierte er: „Die Bilder der Verzweiflung am Flughafen Kabul sind beschämend für den politischen Westen.“ Und ??? Er war seit Jahrzehnten an führender Position in Berlin mitveranwortlich an der Seite von Schröder und Fischer für die Beteiligung der Bundesrepublik an den Kriegen der USA und der NATO. Wenn er von „Mitverantwortung“ spricht, dann sollte er die Konsequenz ziehen und als Bundespräsident das Schloss Bellevue noch heute verlassen, bevor der Schleier der Vergessenheit die Schreckensbilder des Flughafens Kabul zudeckt – für die nicht die TALIBAN, sondern die USA-Streitkräfte verantwortlich sind ! Und wenn das Wort „beschämend“ schon benutzt wird, dann bitte an der richtigen Stelle: es ist beschämend, wenn ein Herr Röttgen reflexartig nach einem Eingreifen der Bundeswehr schreit, bevor überhaupt Klarheit über die Lage am letzten Sonntag in Kabul herrschte- ein Herr Röttgen ist – und das ist wahrlich beschämend für unser politisches System – Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages! Auch er könnte sich ehrlich machen und den Rücktritt einreichen.

Dr. Dieter Weigert, Berlin Prenzlauer Berg

Benjamin Koppe

(1750-1791)

Martin Mulzer

(erstellt: Dez. 2019)

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1. Leben

Abb. 1 Johann Benjamin Koppe (Stich von J.G. Schmidt, 1791).

Johann Benjamin Koppe wurde am 19. August 1750 in Danzig als Sohn eines Tuchbereiters geboren. Er stammt somit aus einer städtischen Handwerksfamilie. Nach dem Besuch des Danziger Akademischen Gymnasiums studierte er ab 1769 in Leipzig und wechselte 1771 nach Göttingen. Seine akademischen Lehrer waren insbesondere Johann August → Ernesti (1707-1781) in Leipzig und Christian Gottlob Heyne (1729-1812) in Göttingen. 1772 wurde er Repetent in Göttingen und 1774 Professor des Griechischen am Akademischen Gymnasium im kurländischen Mitau. Im Jahre 1776 kehrte er als Theologieprofessor nach Göttingen zurück. Kurze Zeit danach erhielt er auch das Amt des Universitätspredigers und des Direktors des Predigerseminars. 1784 trat er eine Stelle als Oberkonsistorialrat und Generalsuperintendent in Gotha an. Aber schon 1788 ging er als Konsistorialrat, Erster Hofprediger an der Schlosskirche und Generalsuperintendent für die Generaldiözese Hoya-Diepholz nach Hannover. Verheiratet war er mit Johanna Charlotte Conradi (1759-1832), der Tochter des Hofrats und Obersekretärs am Oberhofgericht in Mitau, Johann Friedrich Conradi (1720-1803), und seiner Frau Agnesa Dorothea Schwander (1733-1805), einer Kammerbuchhalterstochter. Von den sechs Kindern Koppes erreichten zumindest drei das Erwachsenenalter (zwei Töchter starben jung). Ein Sohn, Carl Wilhelm Koppe (1777-1837), war preußischer geheimer Regierungsrat und Generalkonsul in Mexiko. Johann Benjamin Koppe starb am 12. Februar 1791 in Hannover. Das Grabdenkmal auf dem Gartenfriedhof ist bis heute erhalten. Eine von Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745-1804) aufgestellte Gedenksäule für Koppe steht im Garten des Schlosses Friedenstein in Gotha.

2. Bedeutung

In der Epoche der aufkommenden historisch-kritischen Bibelauslegung in Deutschland war Koppe einer der Vorbereiter der Deuterojesajahypothese (s.u. 3; → Deuterojesaja). Er beteiligte sich auch an der Diskussion über das Verhältnis der drei synoptischen Evangelien zueinander (s.u. 4). In Hannover erneuerte er das Schullehrerseminar (vgl. Müller 1877), gab ein Gesangbuch für die Privatandacht heraus (1789) und wirkte am hannoverschen Landeskatechismus von 1790 mit (vgl. Hammann 2000, 87.306). Die beabsichtigte Berufung von Johann Gottfried Herder (1744-1803) an die Universität Göttingen unterstützte er 1788 durch ein positives Gutachten (vgl. Smend 1997, 126f.). Er war Mitglied der Geheimgesellschaften der Freimaurer und der Illuminaten (vgl. Grolle 1963, 33-47; Schüttler 1981, 88; Schaubs 2005, 189-192; Wirkner 2019, 464-468.503f.; The Gotha Illuminati Research Base).

3. Jesaja

Koppe hat seine Überlegungen zum Jesajabuch nicht in einem eigenständigen Werk, sondern in Anmerkungen zur deutschen Übersetzung des Jesajakommentars von Robert → Lowth (1710-1787) geäußert (4 Bände, 1779-1781). Zum Autor des Jesajabuches merkt er an, es könne nicht erwiesen werden, „daß jeder Ausspruch, der in Jesaias Weissagungsbuch steht, auch von ihm nothwendig herkommen müsse“ („Jesaias“ II, 233f.; vgl. II, 1). Als nicht jesajanisch betrachtet er die Kapitel Jes 15f. und 50 („Jesaias“ II, 234; IV, 43). Möglicherweise gingen diese Texte auf die späteren Propheten Jeremia (Jes 15f.) bzw. Ezechiel (Jes 50) zurück (ebd.). Zweifelhaft sind ihm auch Jes 19,18-25Jes 21,1-10Jes 30,1-26 („Jesaias“ III, 20f.31f.130). Eine Zusammenschau seiner Beobachtungen gelingt Koppe noch nicht (vgl. dazu „Jesaias“ IV, Vorrede). Allerdings veranlassten seine Anmerkungen Johann Christoph → Döderlein (1746-1792) zu weitergehenden Überlegungen über die Eigenständigkeit von Jes 40-66 (vgl. Mulzer 1989, 20).

4. Neues Testament

Koppe bestreitet die Abhängigkeit des Markus-Evangeliums vom Matthäus-Evangelium und erklärt die Übereinstimmungen beider mit der Aufnahme von mündlich oder schriftlich überlieferten Einzelerzählungen („Marcus“ 1782, XXII; vgl. de Lang 1993, 273-277). Er zählt damit in der synoptischen Frage zu den frühen Vertretern der Diegesen- oder Fragmentenhypothese (vgl. W. Schmithals in: TRE 10, 1982, 578; Schnelle 2017, 207f.). Die Bergpredigt hält er für eine Sammlung moralischer Grundsätze Jesu, die dieser zu unterschiedlichen Zeiten, u.a. auch bei seinem Aufenthalt in den Bergen, äußerte (vgl. „Predigten“ 1793, II, 71-73 [Predigt von 1781]; Hammann 2000, 299). In dieser Abkehr von einer historisierenden Auslegung folgt ihm sein Schüler David Julius Pott (1760-1838; vgl. Pott 1789, V; und zur Forschungsgeschichte Betz 1995, 13-25). Eine von Koppe begonnene neutestamentliche Kommentarreihe (Gal, Eph, 1 und 2 Thess 1778; Röm 1783) wurde noch bis 1826 fortgeführt.

Literaturverzeichnis

Literatur-Recherche Index Theologicus

Literatur-Recherche Biblische Bibliographie Lausanne

1. Lexikonartikel

  • Allgemeine Deutsche Biographie, München 1875-1912
  • Deutschbaltisches Biographisches Lexikon 1710-1960, Köln / Wien 1970 (Art. Conradi, Johann Friedrich)
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004 (Art. Evangelien, Synoptische)
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992 (Art. Isaiah, Book of [First Isaiah])
  • Hannoversches Biographisches Lexikon. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Hannover 2002
  • Stadtlexikon Hannover. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Hannover 2009
  • Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (im Internet: http://www.bautz.de/bbkl/)

2. Werke (in Auswahl)

  • [Bibliographie: Meusel, J.G., Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. 7, Leipzig 1808, 270f.]
  • Commentatio philologica de limitando criticae conjecturalis usu, Danzig 1769
  • Vindiciae oraculorum a daemonum aeque imperio ac sacerdotum fraudibus, Göttingen (F.A. Rosenbusch) 1774
  • Genauere Bestimmung des Erbaulichen im Predigen. Zur Ankündigung des von Sr. Königl. Majestät auf der Georg Augustus Universität gnädigst gestifteten Prediger Seminariums, Göttingen (J.C. Dieterich) 1778
  • Novum Testamentum graece perpetua annotatione illustratum, Vol. I complectens epistolas Paulli ad Galatas Thessalonicenses Ephesios, Göttingen (Dieterich) 1778 (2. Aufl. als Vol. VI Epistulae Pauli ad Galatas Ephesios Thessalonicenses, bearb. von T.C. Tychsen, Göttingen 1791; 3. Aufl. Göttingen 1823); Vol. IV complectens epistolam Paulli ad Romanos, Göttingen (J.C. Dieterich) 1783 (2. Aufl. complectens epistolam Pauli ad Romanos, bearb. von C.F. Ammon, Göttingen 1806; 3. Aufl. Göttingen 1824)
  • D. Robert Lowth’s … Jesaias neu übersetzt nebst einer Einleitung und kritischen philologischen und erläuternden Anmerkungen … Mit Zusätzen und Anmerkungen von J.B. Koppe, 4 Bände, Leipzig (Weidmanns Erben und Reich) 1779-1781
  • Marcus non epitomator Matthaei, Göttingen 1782 (auch abgedruckt in: D.J. Pott / G.A. Ruperti [Hgg.], Sylloge commentationum theologicarum, Bd. 1, Helmstedt [C.G. Fleckeisen] 1800, 35-69)
  • Christliches Gesangbuch, hg. von J.B. Koppe, Göttingen (J.C. Dieterich) 1789
  • Predigten. Nach seinem Tode hg. von L.T. Spittler, 2 Bände, Göttingen (J.C. Dieterich) 1792.1793

3. Sekundärliteratur

  • anonym, Johann Benjamin Koppe, in: Allgemeines Magazin für Prediger nach den Bedürfnissen unserer Zeit, hg. von J.R.G. Beyer, Bd. 5,3, Leipzig 1791, 323-329g
  • anonym [= Hoppenstedt, A.L.], Ueber den verstorbenen Königl. Churfürstl. Consistorialrath und ersten Hofprediger D. Johann Benjamin Koppe. Ein biographisches Fragment, Hannover 1791
  • Betz, H.D., The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, Including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3-7:27 and Luke 6:20-49) (Hermeneia), Minneapolis, MN 1995
  • Dannenberg, K., Geschichte und Statistik des Gymnasiums zu Mitau. Festschrift zur Säcularfeier des Gymnasiums am 17. Juni 1875, Mitau 1875
  • Grolle, J., Landesgeschichte in der Zeit der deutschen Spätaufklärung. Ludwig Timotheus Spittler (1752-1810) (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 35), Göttingen u.a. 1963
  • Hammann, K., Universitätsgottesdienst und Aufklärungspredigt. Die Göttinger Universitätskirche im 18. Jahrhundert und ihr Ort in der Geschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus (BHT 116), Tübingen 2000
  • Heeren, A.H.L., Christian Gottlob Heyne. Biographisch dargestellt, Göttingen 1813
  • Lang, M.H. de, De opkomst van de historische en literaire kritiek in de synoptische beschouwing van de evangeliën van Calvijn (1555) tot Griesbach (1774), Diss. Leiden 1993
  • Lanz, E., Der ungeteilte Jesaja. Neues Licht auf eine alte Streitfrage (BWM 13), Wuppertal 2004
  • Meusel, J.G., Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. 7, Leipzig 1808
  • Meyer, G.W., Geschichte der Schrifterklärung seit der Wiederherstellung der Wissenschaften, Bd. 5, Göttingen 1809
  • Möller, B., Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 1 Herzogtum Gotha (Schriftenreihe der Stiftung Stoye 26), Neustadt a.d.Aisch 1995
  • Moser, C., Umstrittene Prophetie. Die exegetisch-theologische Diskussion um die Inhomogenität des Jesajabuches von 1780 bis 1900 (BThSt 128), Neukirchen-Vluyn 2012
  • Müller, H., Leben und Streben im Seminar zu Hannover während der Jahre 1790-94. Als Beitrag zur Geschichte des Seminarwesens nach Acten und Tagebüchern dargestellt, Hannover 1877
  • Mulzer, M., Döderlein und Deuterojesaja, BN 66 (1993), 15-22
  • Ossa-Richardson, A., The Devil’s Tabernacle. The Pagan Oracles in Early Modern Thought, Princeton, NJ / Oxford 2013
  • Pott, D.J., Dissertatio theologica inauguralis de natura atque indole orationis montanae et de nonnullis huius orationis explicandae praeceptis, Diss. Helmstedt 1788 (auch unter dem Titel: Commentatio de natura atque indole orationis montanae, et de nonnullis huius orationis explicandae praeceptis, Helmstedt 1789)
  • Pütter, [J.S.], Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen, 2. Theil von 1765 bis 1788, Göttingen 1788; 3. Theil (von F. Saalfeld) von 1788 bis 1820, Hannover 1820
  • Rotermund, H.W., Das gelehrte Hannover, Bd. 2, Bremen 1823
  • Schaubs, C., Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal im Umfeld geheimer Sozietäten. Ein Beitrag zum Leben und Werk Christian Gotthilf Salzmanns, Nordhausen 2005
  • Schlichtegroll, F., Nekrolog auf das Jahr 1791, 1. Band, Gotha 1792
  • Schmidt, F.A. (Hg.), Neuer Nekrolog der Deutschen, Bd. 15,1, Weimar 1839 (zu Carl Wilhelm Koppe)
  • Schnelle, U., Einleitung in das Neue Testament, 9. Aufl. (UTB 1830), Göttingen 2017
  • Schüttler, H., Die Mitglieder des Illuminatenordens 1776-1787/93 (Deutsche Hochschuledition 18), München 1991
  • Sehmsdorf, E., Die Prophetenauslegung bei J.G. Eichhorn, Göttingen 1971
  • Seitz, C.R., Prophecy in the Nineteenth Century Reception, in: M. Sæbø (Hg.), Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation, Bd. 3 From Modernism to Post-Modernism (The Nineteenth and Twentieth Centuries), Part 1 The Nineteenth Century – a Century of Modernism and Historicism, Göttingen 2013, 556-581
  • Seuberlich, E., Stammtafeln deutsch-baltischer Geschlechter, Leipzig 1924
  • Smend, R., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989
  • Smend, R., Lowth in Deutschland, in: Ders., Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien, Bd. 3 (BEvTh 109), München 1991, 43-62 (auch in: Ders., Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 51-70)
  • Smend, R., Herder und Göttingen, in: Ders., Bibel. Theologie. Universität (KVR 1582), Göttingen 1997, 108-134
  • Smend, R., Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017
  • Stansell, G., The Poet’s Prophet: Bishop Robert Lowth’s Eighteenth-Century Commentary on Isaiah, in: Mathews McGinnis, C./Tull, P.K. (Hgg.), “As Those Who are Taught”. The Interpretation of Isaiah from the LXX to the SBL (SBL Symposium Series 27), Atlanta, GA 2006, 223-242
  • Steinmetz, R., Die Generalsuperintendenten von Hoya-Diepholz, Zeitschrift der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 16 (1911), 148-264, hier 188-201
  • Wirkner, C., Logenleben. Göttinger Freimaurerei im 18. Jahrhundert (Ancien Régime. Aufklärung und Revolution 45), Berlin Boston 2019
  • The Gotha Illuminati Research Base: Johann Benjamin Koppe (im Internet: https://database.factgrid.de/wiki/Item:Q612)

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1 Johann Benjamin Koppe (Stich von J.G. Schmidt, 1791).

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz -oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 20 von Schlotheim

Endlich – ein milder Märzmorgen – der leichte Aufwind vor meinem Fenster wirbelt vom Park zwischen den Schneeflocken ein froststarres, hellgelbes Lindenblatt auf meinen Schreibtisch hoch, die Erinnerung daran, wie lange ich nun schon an Josias Löfflers „Erbe“ sitze. Die immer noch fahle Wintersonne scheint mir zuzurufen: Ab in die Wälder, es ist Zeit für die Suche nach den Schneeglöckchen!

Da schiebt der Wirbelwind ein einsames Blatt aus dem Konvolut auf den Boden unterm Fenster, gerad noch kann ich es greifen, bevor es den Weg zum Schloßteich wählt. Auf den ersten Blick ziemlich fremd für unseren Theologen – gezeichnete Fossilien. Ein Anruf in Gotha beim Kollegen im Staatsarchiv – er konnte sofort helfen – ich möge doch in den Annalen des großen Schlotheim das Jahr 1823 aufschlagen, da seien die Vorarbeiten aus der Frühzeit des Mineralien- und Fossilien-Forschers abgedruckt – und schon könne ich mich glücklich über diese Entdeckung schätzen. Also zwischen 1810 und 1812, noch zu Lebzeiten von Josias, er müsse ja den großen Meister gekannt haben und er habe ihm vermutlich die Vorab-Skizze geschenkt – Beipiel für Gottes Schöpferkraft in Mutter Natur!

Ich entscheide mich für eine Woche Auszeit: eine Reise durch die partnerschaftlichen historischen Archive Thüringens. Sie sollte mich zuerst nach Weimar und Gotha führen. Das Ergebnis war gemischt. Obwohl die Person Löfflers nicht unbekannt war, zählte sein Nachlass nicht zu den gesuchtesten der Forschergemeinden außerhalb Thüringens. Überraschend für mich war, dass die Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt an der Oder und in den kirchlichen Einrichtungen Berlins Josias Löffler wenig Interesse entgegenbrachten. Ja, den Namen kannte man, aber er sei doch nur ein Mann der zweiten Reihe gewesen! Die Beziehung zu Kleist war auch in Frankfurt nur für Wenige des Nachdenkens wert. Selbst mein Hinweis auf die Nachbarschaft der Familie Kleist zu Löfflers „Hauskirche“ St. Marien im Nonnenwinkel schien sie nicht vom Hocker zu reißen – es gäbe nichts Neues zu suchen, alles sei schon geschrieben. Also zurück in den selbst gesetzten Rahmen der im Konvolut überkommenen Papiere und zum Vergleich mit den Schätzen in Weimar und Gotha, den ich Edda in einer ruhigen Stunde vortrage:

Anhand der überkommenen und im Goethe-Schiller-Archiv  aufbewahrten Briefwechsel Löfflers mit Herzog Ernst und der Herzogin kann man ohne Übertreibung sagen, dass zwischen dem Herrscherpaar und ihrem obersten Kirchen- und Schulpolitiker ein echtes Vertrauensverhältnis, wenn nicht gar eine sehr enge Bindung bestand, deren Grundlage gegenseitige Achtung und wohl auch Sympathie füreinander gewesen sein muss.

Mit dem erzwungenen Weggang aus dem königlich-preußischen Frankfurt verliert Josias Löffler seine Professur, damit seinen unmittelbaren Einfluss auf Studenten, aber die Stellung als Generalsuperintendent in Gotha bringt ihm den Gewinn des direkten Kontaktes zum Souverän – ohne Vermittlung eines Ministers und einer ihm nicht immer wohlgesinnten Bürokratie und Zensur. In Frankfurt hinterlässt er Freunde und Vertraute, Plothe berichtet ihm regelmäßig über die neusten politischen, kirchlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen. Er verliert den familiären Kontakt  zu den Kleists im Nachbarhaus, er gewinnt in Gotha neue Freunde – den Literaten  Friedrich Wilhelm Gotter und dessen Ehefrau Luise, seit Kindstagen eine Vertraute der Göttinger Professorentochter Caroline Michaelis, spätere Böhmer, Schlegel, Schelling. 

Zurückgekehrt in meine Dachstube: Da liege nun die Mengen an Papieren, Fotos, Scans – beginnen wir mit den Jahren nach 1806!

Ich zwinge mich zur sachlichen Niederschrift: Das Herzogtum und die Residenz beginnen sich von den Schrecken des Krieges zu erholen, ein geregelter Alltag zieht ein in die Tätigkeit des Generalsuperintendenten, auch die Post hat zu ihrem Vorkriegsrhythmus gefunden. Am Montag nach dem vierten Advent des Jahres 1811 sitzt Josias Löffler am Schreibtisch vor dem Fenster zum verschneiten Schlosshof. Morgen ist Heiligabend, da wird er den Schlitten vom Boden holen, mit den Kindern im Park unterhalb des Friedenstein einen Schneemann bauen und am Nachmittag Lieder singen.

Jetzt aber noch vor ihm der übliche Stapel Briefe, sorgsam sortiert durch den emsigen Secretarius. Da fällt sein Blick auf zwei abseits liegende Schreiben, die Siegel noch nicht erbrochen – der Sekretarius hatte respektvoll den Schriftzug „Persönlich“ beachtet; die Briefe waren auch nicht mit der regulären Post gekommen, sondern ein Freund hatte sie aus Berlin privat befördert – die beamteten Schnüffler der Post mussten ja nicht alles erfahren, was man sich so unter Freunden austauschte.

In den versiegelten Umschlägen lagen jeweils ebenfalls versiegelte Schreiben – beide aus Frankfurt, einer vom Professor Wünsch und der andere vom Pfarrer Carl Samuel Protzen, seinem Nachfolger im Amt an der Marienkirche.

Carl Protzens Umschlag, etwas umfänglicher als der des Kollegen Wünsch,  trug auf der Rückseite das Datum vom 7. Dezember, dessen Siegel brach er zuerst. Die Nachricht – schon im ersten Satz schonungslos mitgeteilt – traf ihn hart: Plothe war gestorben. Josias Löffler zwang sich zum Weiterlesen: Johann Christoph Plothe, derjenige unter den Kirchenmännern in Frankfurt, dem er am meisten vertraute und dessen politische Einschätzungen er in den monatlichen Briefen seit dem Weggang aus Frankfurt vor über zwanzig Jahren sehr schätzte, war lange krank gewesen. Den „treuen und rechtschaffenen Plothe“ hatten ihn die Frankfurter genannt, ein Märker aus Lagow auf der Ostseite des Oderlandes, der Neumark, ausgebildet an der Viadrina, verströmte auch im reifen Alter noch die Gefühle der heimischen Wälder und Seen, man meinte in seiner Gegenwart das Rauschen der Blätter von Birken, Pappeln und Linden zu hören, das Tschirpen der Spatzen auf der Dorfstraße, das Quaken der Frösche an den Bächen.

Plothe war vier Jahre jünger als Löffler, in ihren Gesprächen spürten beide diese Differenz kaum, von Anfang an waren sie offen im Umgang – wie leibliche Brüder, Löffler ließ den Jüngeren das Untergebenenverhältnis nicht anmerken. Sie waren einander so ähnlich, auch in ihrer Neigung zum Lehrerberuf. Plothe hatte den Vorteil, dass er die praktische Arbeit in der Schule kannte – er war schon mit 21 Jahren Subrektor an der Oberschule, hatte neben der Lehrtätigkeit wegen der zusätzlichen Thaler Privatunterricht gegeben, bei dieser Gelegenheit hatten sie sich schon getroffen als beide das Berliner Brüderpaar Humboldt in den antiken Sprachen Griechisch und Latein unterrichteten.

Josias hatte Mühe, sich in die Gegenwart zurückzuholen. Gedankenlos kramte er in den von Pfarrer Protzen beigelegten Papieren – Briefe, Briefentwürfe, Namenslisten, Notizen über Gespräche in Frankfurt und Züllichau. Der gute Protzen hatte vermutlich beim Ausräumen von Plothes Arbeitszimmer den Inhalt einer Schreibtischschublade unsortiert eingepackt, da obenauf ein an ihn, Josias, gerichtetes Schreiben von Plothe auf blauem Papier lag, die Tinte begann schon zu verblassen. Das Wort Teufelsfratzen schon auf der ersten Seite ließ ihn stutzig werden – das war kein Alltagskram, warum sollte Plothe ihn auch mit Nichtigkeiten behelligen? Josias sucht nach einem Datum, da war es, zierlich unten rechts plazirt – Frankfurth, Samstag, d. 23. November 1799  – warum hatte Plothe den Brief nicht abgeschickt?

Aber sehen wir uns den Text an, vielleicht erledigen sich ein einige Fragen beim Lesen von selbst:

Mein lieber ferner Freund, verehrter herzoglicher Generalsuperintendent! Außer der Reihe und auch per nichtöffentlicher Sendung durch einen Vertrauten schreibe ich mir etwas von der Seele, was ein Erdbeben in mir ausgelöst hat – die Teufelsfratzen erschienen mir mehrfach im Traum! Erinnern Sie sich an jenen Brief aus dem Jahre 93, als Sie mir den Besuch des Soldaten-Knaben von Kleist in Gotha beschrieben? Aus dem Knaben ist nun ein Mann geworden, reife Gesichtszüge, körperlich gerundet, kaum aber an Höhe gewonnen. Er hat nun den Armeedienst als Gardeleutnant quittiert und ist – Student an der VIADRINA !!!! Retour in die Heimat, in das Haus im Nonnenwinkel !!!

Da ich nur sehr wenig mit der Universität in contact bin und auch kaum Gelegenheit und Not hatte, das Kleistsche Haus nebenan zu besuchen, war mir die Rückkehr des Nachbarsohnes entgangen. Doch er selbst fand zu mir, kam eines Morgens in unsre Oberkirche. Ich sah ihn versunken in Gedanken vor dem Altarbild sitzend – in unscheinbarer Civilkleidung, ein Heft in der Linken, den Stift in der Rechten. Ihn nur aus den Augenwinkeln wahrnehmend, wollte ich unerkannt vorübergehen, da sprach er mich an und bat um Hilfe beim Verständnis der dargestellten Personen. Nun erkannten wir einander wieder – es waren ja sechs Jahre vergangen seit der letzten Begegnung, seit jenem denkwürdigen Gespräch über die Teufelsfratzen in den Chorfenstern. Heute aber war sein Interesse auf die beiden Heiligenfiguren neben der Gottesmutter im zentralen Altarbild gerichtet – links der Märtyrer Adalbert, den die Heiden in Preußen vor 700 Jahren erschlagen hatten und rechts Hedwig mit dem Modell einer Kirche auf dem linken Arm.

Während er die Namen in ein Heft notierte, beschrieb mir der nunmehr erwachsene Kleist in kurzen Worten die Stationen seines Lebens der letzten Jahre und auch den Grund seiner Rückkehr in die Vaterstadt – die Aufnahme eines Studiums an der Viadrina.
Er nahm mich schließlich am Ärmel und zog mich zu den wohlbekannten Chorfenstern – da würde ich ihn wohl besser verstehn!

Er zeigte mir im rechten Fenster eine Szene, die er „brennendes Fleisch“ nannte – Flammen schlagen aus dem weit aufgerissenen Rachen eines Ungeheuers, in den nackte Menschen an einer grünen Kette hineingezerrt werden durch teuflische Gestalten. Die Menschen versuchen sich zu schützen, indem sie die Hände vor ihr entsetztes Gesicht heben.

Er habe das gesehen im Krieg! In einem Dorf in der Nähe von Mainz, Bäuerinnen waren zwischen die Artilleriefeuer geraten und in einer Scheune schreiend verbrannt, den Geruch brennenden Menschenfleisches werde er wohl niemals los werden. Vor Erregung stotternd wies er mit der Hand auf eine Szene im gleichen Fenster, in der zwei freundlich erscheinende Männer dargestellt sind, die einen Jüngling  mit einer dicken Stange mitleidlos in ein loderndes Feuer stoßen.

Mich zum nun mittleren Fenster ziehend, erklärte er unter Thränen, hier fände ich den endgültigen Beweggrund dafür, weshalb der dem König weiterhin den Dienst im bunten Offiziersrock verweigere: Mitten im tiefsten Frieden habe er als Gardeleutnant seinen Leuten die erbarmungslose Verprügelung von zwei Grenadieren befehligen müssen, denen bei der Alarmierung auf dem Kasernenhof ein Knopf an der Uniform gefehlt habe!

Hier nun sehe er in zwei religiösen Geißelungsszenen, dabei zeigte er nach oben auf die drastisch dargestellte Auspeitschung des Heilands und des Jeremias, die Unmenschlichkeit des preußischen Militärwesens. Die seelischen Schmerzen könne er nicht mehr aushalten!

Verehrtester Freund, Sie können ermeßen, wie aufgewühlt ich nach dieser Confeßion unseres Studiosus war. Er hatte mir mein seelisches Gleichgewicht gestört, dass ich brauche in Ansehen all des Elends in unseren Straßen,  des Leids der Frauen und Mädchen unter der Schwere der familiären Lasten, der drückenden Armut in den Dörfern, des jämmerlichen Zustands unsere Schulen. Seither verbringe ich jede freie Minute vor den Fenstern, dringe ein in die Gefühlswelt jener Künstler des Mittelalters, die den Schrecken ihrer Zeit, den Kriegen, der Pest, dem Ausgeliefertsein der Willkür der Herrschaften, nur Beten entgegensetzen konnten. Selbst das Beten, das keine Grundlage in den Texten der Bibel fand, da die Massen nicht lesen konnten, brachte keine Erlösung.

Gestern nun fand ich eine Szene im rechten Fenster, die über das hinausging, was den Studiosus so sehr ergriffen hatte: ein Mann, der kopfüber an den Beinen aufgehängt ist, wird von einem Jüngling, der durch ein freundliches Gesicht, fast kindlich noch, characterisirt ist, mit einem Rutenbündel gnadenlos ausgepeitscht.

Hinter dem peitschenden Jüngling steht eine Person, die ihm Befehle gibt, von einer zweiten Figur hinter ihm sind nur die Teufelshörner, die Kuhgehörn ähneln, zu sehen. Es war die biblische Umsetzung der täglichen Erfahrung des preußischen Leutnants – hunderte Jahre zuvor durch einen Künstler in unserer Kirche gestaltet!!! Ein nochmaliger Blick zeigt ein weiteres biblisches Thema – der Befehlsgeber mache sich nicht die Hände schmutzig, er schaut gelassen auf die brutale Szene, so wie es der preußische König von seinen Offiziers verlangt!

Als der Studiosus zum nächsten Gespräch kam, hatte ich nicht die Kraft, ihm diese Szene zu zeigen, sondern orientierte ihn auf ein mehr „friedliches“ Geschehen – die Macht des Goldes. Im rechten Fenster gibt es dazu drei Bildnisse, in denen besonders deutlich auch Teufelsfratzen gestaltet sind: die teuflische, dämonische Macht der Verführung der Menschen durch das Gold.

Er meinte dazu trocken, daß ihm diese Illustrationen helfen würden, die finanz-ökonomischen Lehrsätze des Professors Wünsch zu verstehen.

Lieber treuer Freund, bester verehrter herzoglicher Generalsuperintendent! Unser Herrgott beschert uns doch manchmal mehr Überraschungen als wir menschliche Wesen verkraften können – meinen wir. So geschehen gestern morgen gegen 9 Uhr, gerade hatte ich im Amtszimmer die Diakons-Angelegenheiten auf dem Tisch ausgebreitet, da stürzt polternd ohne zu klopfen unser Herr Studiosus herein, zerzaust, wilden Blickes, nahm mich am Arm und führte mich Zaudernden kraftvoll in das Kirchenschiff, vorbei am bronzenen Leuchter hin zum Hochaltar. Ich konnte ihn kraftvoll davon abhalten, auf das Podest zu steigen und mit Fingern auf jenen Bildausschnitt zu zeigen, der die heilige Hedwig – barfuß – mit den blau-weißen halbhohen Schuhen in der rechten Hand dargestellt war. Er meinte, ich solle mir das Bild gut einprägen, denn er würde in einigen Minuten ein Ratespiel mit mir veranstalten. Dann zog er mich zu den uns inzwischen wohlvertrauten gläsernen biblischen Szenen und wies im linken Fenster auf die Wiedergabe eines sehr weltlichen Themas hin – drei junge Männer bei der Feldarbeit, mit eisernen Hacken, angebracht an langen Holzstielen, bearbeiten sie den steinigen Boden!

Soweit er die alttestamentarische Erzählungswelt kenne, meinte unser Studiosus, müsse es sich um die Söhne von Noah handeln, denn in den benachbarten Szenen sei die Trunkenheit Noahs wie auch In den vorangegangenen Bildern der Bau der Arche und die Rettung von Mensch und Getier vor den Wellen der Sintflut dargestellt.

Was ich davon halte? Das sei nun das Rätsel für mich. Und was ich davon halte, wenn man diese drei jungen Bauern im Zusammenhang mit der barfüßigen Heiligen vom Altarbild betrachte. Das sei das Ratespiel, das er mit mir vorhabe. Er lachte hämisch und ich war verwirrt. Was soll ich darauf antworten? Ich hatte mich mit diesem Bilde und auch mit der Heiligen Hedwig nun nicht so im Detail beschäftigt, dass ich sofort eine Antwort darauf hatte. Unser Studiosus war richtig erfreut und stolz, dass er mich bei einer Unkenntnis ertappt hatte. Und begann eine, wie er meinte, sehr wissenschaftliche Erklärung., die er bei der nächsten Disputation dem Professor Wünsch präsentieren wolle. Ich nickte zum Zeichen des Einverständnisses und lauschte aufmerksam. Wir seien nun also nach den Kriegszeiten zurück in eine friedliche Welt gekommen. Da brauche man keine Schuhe – wie Hedwig demonstriere – und da müsse man sich durch harte Arbeit sein täglich Brot verdienen. Die Gesichter der drei Noah-Söhne zeigten keine Unzufriedenheit, sie haben sich mit Gott versöhnt, die Arbeit schein für sie sogar eine Art Befreiung, eine Art menschlicher Schöpfungsakt zu sein. Hedwig zeige aber auch noch eine andere Tugend, die der leidenschaftlichen Liebe! Ob ich das auch an der Figur erkenne? Erkennen Sie die Verzückung, die Leidenschaft in den Gesichtszügen, das Stürmische im Faltenwurf des blauen und goldenen Gewandes?

Die Sinnlichkeit selbst im nackten Fuß, der erregt unter dem Saum des Kleides sich nach draußen wagt? Kräftig zog er mich am Rock zum linken Chorfenster, streckte wie ein Ertrinkender beide Arme nach oben zum nackten Bauch der Eva in der Verlobungsszene, unterdrückte mit Mühe einen Schrei der Verzückung – lieber Plothe, verehrungswürdiger Lehrer, fühlen Sie nicht die Leidenschaft, die uns Männer hin zu diesem Angebot der Hingabe zieht? Ist es nicht der Quell alles Lebens, der Drang zur innigen körperlichen Vereinigung, den Bauch und Schenkel der Eva uns darbieten? –

Im Innersten erschreckt wage ich einen Blick in das Gesicht des jungen Studenten: wie von Sinnen gestikuliert er, schreit er die Worte laut in den leeren Kirchgenraum, die Augen geweitet, das Wams geöffnet, die Haut krankhaft gerötet, die Mütze vom Haupt gerissen. Lieber Plothe, fleht er mich an, verstehen Sie, warum der Künstler den Busen der Frau hinter den schützenden Armen versteckt? Die Sinnlichkeit der Brüste soll uns nicht ablenken vom eigentlichen Mittelpunkt des Menschlichen, vom Schoß des Weibes, dem Brunnen, aus dem Alles kommt und zu dem Alles strebt.
Der Studiosus fällt auf die Knie, schlägt mehrmals mit der Stirn auf den Boden, rollt zur Seite, erhebt sich schwankend und stürzt zum Portal. Einige Wochen ließ er sich nicht blicken, dann bat er um ein ausführliches Gespräch, wenn es mein Zeitplan erlaube, um mit einem – wie er meinte – erfahrenen Pädagogen und Theologen seinen „Lebensplan“, den Weg zur Vollkommenheit“ zu beraten. Mit Professor Wünsch habe er es versucht, der sei aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Bevor ich zusage, suche ich eine Schrift heraus, die Sie, bester Freund und Lehrer, mir vor Jahren zugeschickt hatten mit der Bitte um eine Meinungsäußerung und deren Thema die bildliche Vorstellung der Schöpfung und der Geschichte des Falles der ersten Menschen ist. Ich glaube, Sie waren damals dem ehrenwerten Dr. Teller verpflichtet, der an einer längerdauernden Arbeit zu einigen alttestamentarischen Fragen saß und gern auf Ihre Erfahrungen als Pädagoge und Kanzelredner zurückgreifen würde.“
Der Text bricht unvermittelt ab, vermutlich ist ein Blatt verloren gegangen. Da Edda inzwischen an ihren Platz zurückgekehrt ist, führen wir eine Debatte über die Schwierigkeiten, die Jahre nach der Demission des Leutnants von Kleist und seine Versuche des „Heimischwerdens“ als Ziviler an der Viadrina zu verstehen. Kleist ist nun Student, beginnt nach der Sommerreise im Riesengebirge ernsthaft bei Professor Wünsch u.a zu studieren, sucht innere Ruhe auch bei St. Marien, seiner „Heimatkirche“ – dort kam es wahrscheinlich zu mehreren Zusammentreffen mit dem Theologen Plothe.
Plothe hofft auf weitere Gespräche, deshalb sind die Notizen und Briefentwürfe unvollendet, abgebrochen – Kleist jedoch ist verunsichert, geht auf Reisen, bricht das Studium ab, es kommt zu keinen weiteren Treffen.
Edda bemüht sich um eine psychologische Erklärung – Plothe registriere beim Zivilisten, beim Studenten Kleist eine erhöhte Verletzlichkeit, eine tiefe seelische Verwundung durch die Kriegserlebnisse und die emotionalen Qualen des regulären Militärdienstes. Er läßt die dargestellten Qualen in den Szenen der Chorfenster lange auf sich wirken, er saugt sie ein, er wendet sich nicht ab, sondern wendet sich ihnen zu! Sie sprechen darüber – der Diakon und der junge Student. Und zur Überraschung Plothes spricht Kleist vom Erlebnis des Überirdischen auf den Gipfeln der schlesischen Berge. Plothe wußte nichts von den Ausflügen, Kleist berichtete davon.

Edda bringt uns in das heute zurück. Es sei Freitagnachmittag im Amt, wir sollten uns dem wöchentlichen Aufräumen widmen, das ich so gut beherrsche, wie sie aus meinen Jugendbeichten wisse. Nichts sei mir doch so sehr verhasst wie Chaos am Montagmorgen; sie glaube dieser Charakterzug sei mir von den Handwerksgesellen in der Reihe meiner Ahnen in die Gene gepresst und während meiner eigenen dreijährigen Lehrzeit (nicht das Technokraten-Wort-Ungetüm AZUBI !, sondern stolzer, aktiver, sehr neugieriger Lehrling !) in der gediegenen Möbeltischler-Werkstatt von Meister Pfeiffer in Unterwellenborn veredelt worden. Das Werkzeug musste Freitagnachmittag geschärft, auf der Hobelbank durfte kein Span oder gar Sägemehl liegen geblieben sein, die Schürze nicht hingeschmissen, sondern säuberlich am Haken angehängt. Mein Schreibtisch eine Hobelbank – ein schöner schöpferischer Gedanke. Daher mein anerzogener i8nnerer Drang zum Sortieren der Ergebnisse der letzten Tage, um am Montagmorgen mit Freude und frischer Neugierde die Woche beginnen zu können. Wir nehmen uns die verschiedenen Stapel der Papiere vor und gruppieren nach Fertigem, Halbfertigem und noch nicht Angesehenem.

Das letzte Häuflein nehme ich mir vor – es war auf ein Drittel seiner ursprünglichen Höhe abgeschmolzen, ich rücke es gerade, sauber die Blätter an der unteren und linken Kante ausgerichtet. Ein Blatt etwa in der Mitte sperrte sich meinen Bemühungen, kein rechter Winkel! Instinktiv sehe ich nach, denn so mit der chaotischen Montagmorgen-Perspektive konnte ich nicht aus dem Büro gehen. Der Störfaktor erweist sich als ein einzelnes Kunstblatt, es war mir bisher noch nicht aufgefallen.


Ein colorierter Steindruck, die Farben hell und teilweise leuchtend, der Titel unter dem Bild zweisprachig, links Französisch, rechts Deutsch; Künstler- und Druckerhinweise winzig klein, aber mit der Lupe lesbar: A. Adam, Augsburg und v. Schlotheim, Gotha! Ich zucke zusammen – ein jedem Thüringer wohlbekannter Name: SCHLOTHEIM! Nach ihm war das monumentale Museum in Gotha unterhalb des Schlossparks benannt.   Vermutlich war das Blatt in der Museumsdruckerei entstanden – oder auch nicht. Denn in Fachkreisen munkelt man schon eine Ewigkeit, dass es innerhalb der weitverzweigten Schlotheim-Familie noch andere gebildete Männer gegeben haben soll, denen man durchaus derartige Fabrikate zutrauen durfte.

Ich suche nach einem verwertbaren Datum – da springt es schon ins Auge – 1809! Mit dem Text des Titels kann ich nicht viel anfangen, ich lasse die Worte einzeln auf der Zunge zergehen: „Treffen bei Ebersberg d. 3. May 1809. Nachdem die K. K.  französische Armee bis an die Traun vorgedrungen war, setzte sich derselben bei Ebersberg das Corps des Kayserlich Oesterreichischen Generals von Hiller entgegen und vertheidigte diesen wichtigen Posten auf das Tapferste, so dass es dem Kayserlich Königlich französischen General Claparede nur mit der größten Anstrengung gelang sich der Brücke zu bemächtigen. Drey muthvolle Angriffe wurden zurück gewiesen und nur durch die angestrengteste Tapferkeit der Schützen vom Po konnte endlich diese Position von der französischen Armee genommen werden.“

Nun hatte es mich auf dem falschen Fuße erwischt – da war ich nicht zu Hause: Napoleonische Kriege zwischen 1806 und 1813, also zwischen dem unrühmlichen Tod des Prinzen Louis Ferdinand bei Saalfeld und der Völkerschlacht von Leipzig! Dunkel beginnen sich Fetzen des historischen Erinnerns unter der Schädeldecke aneinander zu fügen – im Jahre 1809 gab es da nicht Aspern und Wagram? – jedem Franzosen ein Begriff. Was tun? Anstelle eines ruhigen gemächlichen Wochenendes mit Hund, Kindern und Frau heißt es nun den bis oben hin zu packenden Rucksack mit militärgeschichtlicher Literatur durchzuarbeiten – Orte, Offiziere, Künstler – ich kenne meine spontane Natur: die Neugierde hat mich voll an der Leine.

Zu Hause schlage ich zuerst im Band 1 meines geliebten Konversationslexikon von Meyer aus dem Jahre 1904 unter „Aspern“ nach und werde fündig: eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse vom Sommer 1809 samt „Textkärtchen“, also eine vereinfachte kleine Karte in den Text gesetzt! Tausendfach lebendiger beschrieben als die übliche leidenschaftslose, langweilige Texterei bei WIKIPEDIA. Der Hinweis auf das Dorf Wagram lässt mich im Band 20 unter „Wagram“ suchen – auch hier voller Erfolg, ebenfalls mit „Kärtchen“. Aber die Daten verwirren mich: der Schlacht beim Dorf Aspern wird der 21. Mai 1809, der bei Wagram das Datum 5./6. Juli zugeordnet. Was sagt mein ebenfalls geliebter „Petit Larousse“? Schließlich waren es für den Franzosen Napoleon bedeutende „batailles“! Fehlmeldung unter Aspern, aber Erfolg bei Wagram: „Wagram, bataille de, (6 juillet 1809), victoire de Napoléon sur l’archiduc Charles, en Autriche, au N.E. de Vienne.“ Die Fehlmeldung erklärt sich: Aspern war kein victoire der Franzosen, sondern ein taktischer Sieg der Österreicher. Strategisch war Aspern ein Remis, das Erzherzog Karl aber nicht zu nutzen verstand und deshalb 6 Wochen später mit dem Debakel von Wagram bezahlen musste – und mit 24 000 Toten und Verwundeten. Soweit so klar – aber was hat das mit Ebersberg und dem „Treffen“ vom 3. Mai zu tun? Der Ort ist so winzig, dass er weder bei Meyer noch im Petit Larousse einer Erwähnung wert ist. Aber vielleicht sollte ich unter dem Namen des französischen Generals CLAPAREDE nachsehen, der im Titel des Druckes genannt wird? Weder im Larousse nach bei Meyer die kleinste Notiz. Hatte der Maler oder Drucker sich wichtig machen wollen?

Nach einer sehr unruhigen Nacht kam die Erleuchtung beim Frühstück mit Hund und Familie im Garten – da hatte doch vor Jahren ein Kollege aus Chalons-sur-Marne nach einer wissenschaftlichen Konferenz mir eine Publikation geschickt, die noch ungeöffnet im privaten Bücherschrank im Wohnzimmer stehen musste. Da ist sie schon, leicht angestaubt, aber die Seiten noch bogenweise verklebt, wie es die Franzosen heute noch gern tun: „Les Amis du Patrimoine Napoléonien – Premier & Second Empire – Association culturelle, historique et apolitique, créée en 1993“! Der Divisonsgeneral Michel-Marie Claparede, 1772 – 1842, mit Porträt und Wappen und ausführlichem Lebenslauf, darin detailliert die Darstellung der Ereignisse vom Mai 1809: 

„Dans la matinée du 3 mai 1809, marchant à la tête du corps d’armée du maréchal Oudinot, le général Claparède rencontra l’arrière-garde autrichienne en avant d’Ebersberg, et la fit attaquer par la brigade du général Coehorn, qui aborda hardiment l’ennemi, au moment où celui-ci s’avançait sur le pont qui traverse la Traun pour gagner la rive droite de cette rivière. Le mouvement des Autrichiens étant protégé par une nombreuse artillerie, la brigade Coehorn, qui s’était élancée plusieurs fois avec impétuosité, avait été arrêtée par la violence du feu des batteries ennemies. Le général Claparède s’avança alors avec le reste de sa division, et appuya les bataillons des tirailleurs du Pô et des voltigeurs Corses de la brigade Coehorn, qui continuaient à faire des prodiges de valeur. Bientôt cette masse serrée, s’avançant sur le pont qui était d’une largeur considérable, parvint à culbuter dans la Traun, canons, caissons, chariots et soldats autrichiens. Déjà une partie de la division Claparède était arrivée aux portes d’Ebersberg, lorsque les premières arches du pont, du côté de cette ville, furent coupées par le feu qui s’y était communiqué de quelques maisons incendiées. Par cet événement les troupes de la division se trouvèrent séparées au moment où elles avaient à lutter contre 30000 Autrichiens, que le général Hiller avait formés en bataille sur les hauteurs en arrière de la ville. Cependant la division Claparède, forte seulement d’environ 7000 combattants, soutint un engagement, aussi inégal qu’il fut long, avec une résolution et une intrépidité au-dessus de toute éloge. Une poignée de braves, qui était au-delà du pont, aurait infailliblement succombé, si les communications n’avaient été rétablies par les autres divisions de la Grande Armée, qui accourut au secours de celle du général Claparède. La division Claparède perdit dans cette occasion plus de 300 hommes tués et près de 700 grièvement blessés. La perte des Autrichiens s’éleva à 4500 hommes tués, 6 à 7000 prisonniers, la prise de 4 canons et de 2 drapeaux.


Le 5e bulletin de la Grande Armée, inséré dans le Moniteur du 13 mai 1809, s’exprime en ces termes : « La division Claparède, seule, et n’ayant que 4 pièces de canon, lutta pendant 3 heures contre 30.000 ennemis, et se couvrit de gloire. Cette action d’Ebersberg est un des plus beaux faits d’armes que l’histoire puisse conserver le souvenir. »

Le général Claparède se trouva ensuite aux batailles d’Essling (21 et 22 mai 1809), et de Wagram (6 juillet 1809)

Als Zivilist verstehe ich nun diesen Text in seiner politischen Bedeutung insoweit, dass General Claparedes Männer an der Spitze des Armeekorps Oudinot mit nur 3 Geschützen ihrem Kaiser durch das dreistündige erfolgreiche Gefecht an der Brücke von Ebersberg bei Linz den Weg nach Wien freigekämpft hatte – acht Wochen vor Aspern!

Erleichtert nehme ich unseren Hund an die Leine, wandere mit ihm durch die Gärten und versuche mich in jene Zeit zu versetzen, in der nicht nur die Zahlen der Toten und Verwundeten im Heeresbericht dem Publikum kund getan werden, sondern auch die Zahl der erbeuteten Fahnen!

Der Hund erschrickt über den plötzlichen Tempowechsel meiner Schritte – ich erkenne, dass ich zwei wichtigere Fragen noch beantworten muss: welcher der Herren von Schlotheim hat dieses Bild des Zeichners A. Adam gedruckt und wie kommt dieses Blatt in den Nachlass des Gothaischen Generalsuperintendenten Josias Löffler?

Der Montagmorgen sieht mich beschwingt die steilen Treppen zu meinem Arbeitszimmer unterm Dach hetzen.  Frau Oberthür von der Poststelle am Fuße der großen Freitreppe drückt mir noch einige kleine Pakete in die Hand, vermutlich frisch eingegangene Bücher, dann bin ich oben in meinem Refugium angelangt.

Edda erkennt an meinem Blick und den unwirschen Gesten, daß ich nicht gestört werden möchte.

Ich schiebe die drei vorbereiteten Häuflein Papiere beiseite, nutze nun die gesamte Fläche des Tisches für die Ausbreitung des Materials, das ich mir im Kopf schon zurechtgelegt habe: die Künstlerlexika, die Personalverzeichnisse des Herzogtums Gotha, die veröffentlichten Familiengeschichten der verzweigten Familie von Schlotheim.

Die Logik verlangt, mit den Schlotheims zu beginnen. 

Archivare sind für ihre Macken bekannt – die jahrzehntelange Beschäftigung mit wunderlichen historischen Papieren, mit den verrücktesten Titeln, mit den ausgefallensten Charakteren, kaum lesbaren Schriften und seltsamen Namen müssen selbstverständlich Spuren hinterlassen – daher übernahm zum Beispiel ich die alt-preußische Sitte, also vor 1806, Armee-Regimentern bei Namensgleichheit, entstanden durch brüderliche oder Vater-Sohn-Beziehung des Chefs, das Attribut „Alt“ oder „Jung“ anzukleben und ich verwendete diese Methode  zur privaten Unterscheidung namensgleicher Aktenstücke.

Verständlich also, dass der ältere der Brüder Schlotheim, um die es jetzt geht, zum „Alt-Schlotheim“ avanciert, zum „großen Schlotheim“, der Perle der Geschichte der Wissenschaften im Herzogtum Gotha, deshalb existiert auch ein Porträt von ihm, in den guten Katalogen abgedruckt:

Ich fasse die Ergebnisse des dreitägigen Recherchierens zusammen:  Die Herren von Schlotheim sind urkundlich bis in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts nachweisbar. Ihren Stammsitz hatte die Familie über mehrere Jahrhunderte in Allmenhausen im nordthüringischen Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen.  Dort wurde am 2. April 1764 Ernst Friedrich von Schlotheim, also unser Alt-Schlotheim, geboren. Sein Vater Ernst Ludwig (1736-1797) hatte in Jena Jura studiert und stand seit 1757 als Assessor und seit 1759 als Regierungsrat in den Diensten der Herzoglichen Landesregierung. Vielleicht sollte ich ihn für den Privatgebrauch „Ur-Alt-Schlotheim“ nennen.

Der Jurist und Historiker Johann Georg August Galetti, Absolvent der berühmten Göttinger Universität, auch dieser Name in Gotha nicht unbekannt,  wurde 1772 von der Familie von Schlotheim als Hauslehrer angestellt. Der Vater, Ur-Alt-Schlotheim, legte besonderen Wert auf die Vermittlung von Geschichtskenntnissen, später wurde Galetti Lehrer am Gymnasium Ernestinum in Gotha.

(- Ein sauberer Kupferstich, meint Edda, mir doch neugierig über die Schultern blickend!)
Neben Galettis Bemühungen stand den Kindern auch eine umfangreiche geschichtliche Bibliothek im Hause zur Verfügung. 1776 ernannte der Herzog den Vater zum Amtshauptmann der Herrschaft Tonna (heute  Gräfentonna), wohin die Familie übersiedelte. Die Umgebung des Dorfes bot ein reiches  Betätigungsfeld für naturwissenschaftliche Studien.  Die Travertingruben in der Umgebung von Burgtonna, in denen bereits 1695 die Skelettreste eines pleistozänen Waldelefanten geborgen wurden, dienten dem Schüler als Anregung zur Anlage einer eigenen Fossil- und Mineraliensammlung.

Von 1778 bis 1779 lag die Erziehung des Jungen in den Händen des Geologen und Mineralogen Johann Christian Credner. Ab 1779 begann seine weitere Ausbildung  am Gymnasium Ernestinum. Während seines Gothaer Aufenthaltes vermehrte er eifrig seine Sammlung von Versteinerungen und Mineralen. Nach dem Gymnasialabschluss nahm er 1782 das Jurastudium an der Universität Göttingen auf. Seine Lehrer waren u.a. Professor Meister, Professor Feder, Professor Beckmann und der in Gotha geborene Naturwissenschaftler Professor Johann Friedrich Blumenbach. So entsprach der Student einerseits dem Wunsche des Vaters nach einer juristischen Laufbahn des Sohnes, andererseits nutzte er den Göttinger Aufenthalt zur Vervollständigung seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse. 

Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums kehrte Schlotheim zurück nach Gräfentonna. Hier beschäftigte er sich mit geologischen, paläontologischen und mineralogischen Studien, unternahm zahlreiche Wanderungen in die Umgebung. Bereits mit 23 Jahren verfasste er seinen ersten wissenschaftlichen Beitrag: Er beschreibt darin einen Fund aus dem Gips-Keuper des thüringischen Ortes Niedertopfstädt, den er als organischen Rest deutet. Die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Wanderungen in der Umgebung fasste er in der regional-geologischen Arbeit: „Mineralogische Beschreibung der unteren Herrschaft Tonna“. zusammen, die in Voigts Mineralogischer und Bergmännischer Abhandlung im Jahre 1791 erschien. Zur Vorbereitung seiner Tätigkeit als Bergbeamter am Herzoglichen Hause studierte „Alt-Schlotheim“ 1791/92 an der Bergakademie zu Freiberg, dessen Gebühren der Herzog von Sachsen-Gotha aufbrachte.

Der bedeutendste Professor der Bergakademie Freiberg war seit 1775 der schlesische Bergrat Abraham Gottlob Werner (1749 – 1817), dessen Ruhm zahlreiche Interessenten der  Geologie und des Bergbaus nach Freiberg zog. Zur gleichen Zeit wie Schlotheim studierten in Freiberg auch Alexander von Humboldt, Johann  Carl Freiesleben und Leopold von Buch. Bald entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Werner, Schlotheim, Humboldt, Freiesleben und Buch.  Während des Aufenthaltes in Freiberg wird Schlotheim 1791 zum Assessor, 1792 zum Hofjunker, 1794 zum Kammerrat ernannt und stand seitdem im Dienste des Gothaer Herzogs.
1792 unternahm Schlotheim eine Fußreise in den Harz und besuchte die bedeutenden Bergbau- und Hüttenorte Clausthal und Andreasberg. Auf einer Reise nach München unterrichtete er sich über neue Methoden der Drucktechnik, die er bei der Vervielfältigung der zahlreichen Zeichnungen für seine paläontologischen Werke nutzte.
Den  endgültigen wissenschaftlichen Höhepunkt erreichte er im Jahre 1820 mit  der Herausgabe seiner umfangreichen Monographie: „Die Petrefaktenkunde auf ihrem jetzigen  Standpunkt durch die Beschreibung seiner Sammlung versteinerter und fossiler Überreste des  Thier- und Pflanzenreichs der Vorwelt erläutert“
Durch die erstmalige grundlegende Anwendung der binären  Nomenklatur auf fossile Pflanzenreste erhielt die  Paläobotanik schließlich den Charakter einer Wissenschaft. Zahlreiche pflanzliche und tierische Fossilien wurden erstmals beschrieben. Noch heute führen ihre lateinischen  Namen den Autor Schlotheim als Beweis für  die Gründlichkeit seiner Artbeschreibungen von 1820 bis 1823.

lm Staatsdienst wurde Schlotheim 1817 Kammerpräsident und 1818 Geheimer Rat am Herzoglichen Hause zu Gotha. Am 15. Juli 1822 übertrug  man ihm die Oberaufsicht über die Herzogliche  Kunst- und Naturalienkammer, die Bibliotheken  und das Münzkabinett. Zur gleichen Zeit ist er Direktor der Herzoglichen Bau- und Gartenkunst, Chef der Herzoglichen Oberpostinspektion, des hiesigen Bergwesens und des  Schmelz-und Hüttenwesens von Luisenthal. Den Höhepunkt seiner Laufbahn im Staatsdienst erreicht er Anfang 1828 als Mitglied des  Ministeriums und Oberhofmarschall. Seine letzte wissenschaftliche Publikation erschien 1826. Die wissenschaftlich wertvolle Sammlung wurde auf Anraten Alexander von Humboldts vom Preußischen Staat gekauft und befindet sich noch heute im Museum für Naturkunde Berlin.  

Enttäuscht lehne ich mich am Abend der dreitägigen Recherchen zur Person von Alt-Schlotheim in meinem antiken Schreibtischstuhl zurück: trotz allen Fleißes und allen Schnüffelns – mit kräftiger Unterstützung Eddas – in den entferntesten Winkeln unseres Archivs belegen die Resultate keinen Bezug zu einer Gothaer Steindruck-Anstalt in Verbindung mit Schlotheims Namen.

Um mich abzulenken, öffne ich die Pakete mit den Neuerwerbungen, nichts Aufregendes – aber das letzte Buch, einen Nachdruck der Autobiographie des bekannten Gothaer hohen Beamten und Geologen von Hoff, blättere ich spontan durch, lasse die Blätter mit den Abbildungen vorbeiziehen, da bleiben meine Finger wie magnetisiert am Namen Schlotheim auf Seite 174 hängen: unter dem Datum des 26. Dezember 1806 berichtet von Hoff über einen Besuch in Berlin bei – Schlotheim ! Also gab es doch einen anderen, einen „Jung-Schlotheim“! 

Wörtlich heißt es, nachdem von Hoff in der Gruft der Domkirche die Prunksärge der Hohenzollern bewundert hatte: „Von da ging ich zu Schlotheim, mit dem ich mich viel über seine Beschäftigung mit den polyautographischen Zeichnungen unterhielt …“ Schenkt man von Hoff Glauben, hatte sich „Jung-Schlotheim“ im Herbst und Winter 1806 bei dem bekannten Lithographen Wilhelm Reuter in Berlin aufgehalten und vermutlich in dessen Werkstatt experimentiert. Mehr gibt das Buch nicht her, auch keine Abbildungen, kein Porträt des jungen Schlotheim, also kann ich mich nur dem Stapel der nur noch technisch zu bearbeitenden Publikationen zuwenden.

Am nächsten Morgen gehe ich nochmals die gestrigen Ergebnisse durch, besser gesagt, ich versuche mich dem fehlenden Mosaikstein zu nähern. –  Ich tröste mich: auch Rückschläge muss man verkraften können. Resigniert räumte ich die Familienpapiere der Schlotheims zusammen, da rutschte aus einem der Folianten ein Papier, das mir bisher entgangen war, da es zwischen Bucheinband und Schutzdeckel gelegen hatte.

Es ist der mehrseitige Brief eines gewissen Wilhelm Reuter aus Berlin – „an H. v. S., abzugeben im Büro des Vizepräsidenten v. Schlotheim“. Weshalb diese umständlichen Zeilen, wenn es doch ein Schreiben an den Vizepräsidenten ist? Jetzt plötzlich erkenne ich, dass es sich vermutlich um einen Schlotheim mit Vornamen H. als Adressaten handelt. Also alles zurück – gab es einen H. von S.? Der Briefinhalt gibt für mich auf den ersten Blick keinen Anhaltspunkt – finanzielle Fragen, offene Rechnungen für gelieferte und nichtgelieferte Bücher und andere Druckerzeugnisse. Ich zwinge mich zum gründlichen Durchgehen des vierseitigen Papiers – da ist es, das gesuchte Indiz: H. v. S. wird ein Honorar von einigen Reichstalern angekündigt für das Anfertigen eines Berichts mit gezeichnetem „Plan der Schlacht auf dem Marchfeld“ im Jahre 1809, angefertigt im Februar 1810 ! Reuter bittet um Verständnis, dass er erst im nächsten Jahr die Schuld begleichen kann und führt einige Gründe an. Ein Blick auf die Landkarte verrät – Aspern und Wagram liegen auf dem Marchfeld östlich von Wien !!! Hurra ! Was sagen die Künstlerlexika über Reuter ?

In Berlin lebte und arbeitete ein gewisser Wilhelm Reuter, Kammerherr der Königin Luise, Druckereibesitzer, einer der Erfinder des Steindrucks, der Lithographie. Die wichtigste Meldung der Kunsthistoriker: Die Wiener Albertina besitzt eine Lithographie von ihm mit der Jahreszahl 1794 – also vier Jahre, bevor der bekannte Senefelder die lithographische Technik in München im Jahre 1798 erfunden haben soll. 

Mehrere Berliner Experten des Kupferstichkabinetts, die ich per e-mail befragte, bestätigten meine These, dass Wilhelm Reuter in Berlin wie Senefelder in Süddeutschland den entscheidenden Schritt vom Hochdruck  zum Flachdruck vollzog, wobei es ihm vor allem darauf ankam,  die Technik, deren reiche Möglichkeiten für  die Kunst er als erster erkannt hatte, zu verbessern und allen Künstlern bekanntzumachen. Die Berliner Kollegen machten mir eine Freunde – sie legten einige Kopien von Arbeiten Reuters bei –

Seine Bemühungen waren mit derartig hohen Kosten verbunden, dass er sein  Vermögen aufbrauchte und einen  Kampf um die Existenz seiner Familie, um  das Fortbestehen seiner Druckerei und schließlich um seine Gesundheit führen musste. Er erblindete zeitweilig fast völlig, was nicht zuletzt auf die etwa 60.000 chemischen Versuche zurückgehen mochte, die er angestellt hatte.  Dass sich die Lithographie in Berlin durchsetzte, ist ausschließlich sein Verdienst und dass sie nicht in erster Linie zu industriellen Zwecken verwendet wurde, ist ebenfalls nur seiner aufklärenden Tätigkeit bei Hofe und der Akademie, deren Widerstand zu brechen nicht leicht war, zu  danken.

Nachzureichen sind einige Details seiner künstlerischen und geschäftlichen Laufbahn, um das Verhältnis zum Gothaer H. v. Schlotheim zu verstehen.

Wilhelm Reuter, 1768 geboren, entstammte einer alten angesehenen Hildesheimer Familie, die für seine Bildung sorgte und ihm auch in seiner Heimatstadt Kunstunterricht zukommen ließ. 1790 verließ er seine Vaterstadt in Richtung Berlin, besuchte die Kunstakademie und wurde schon 1796 als Hofmaler der Königin Luise mit einem festen Gehalt angestellt.

1799 vermählte er sich mit einer ihrer Kammerfrauen und reiste im Auftrag der Königin im Jahre 1803 nach Paris, um dort Bilder zu kopieren.

Sie beklagte sich später, dass er diesen Auftrag mangelhaft durchgeführt hätte, weil er sich mehr für die Polyautographie (d. i. Lithographie) und deren Förderung interessierte. Nach Berlin zurückgekehrt, widmete er sich in der Folge mit ganzer Kraft der Verbreitung und Verbesserung der Polyautographie, wie Reuter das Verfahren beharrlich weiter bezeichnete, trotz des sich immer mehr einbürgernden Namens Lithographie, der in München schon seit 1805 festgelegt worden war. Reuter wollte mit der Bezeichnung Polyautographie, die auch in England geläufig war, ausdrücken, dass diese Technik für ihn einzig das wertvolle Mittel war, eigene Zeichnungen unter Beibehaltung ihres Originalcharakters zu vervielfältigen.

Wilhelm Reuter wollte die Lithographie als künstlerische Originaltechnik einführen und warb in diesem Sinne auch unter den zeitgenössischen Berliner Künstlern, denen er das Material übersandte und den Druck für sie übernahm. Er inserierte auch seine inzwischen eingerichtete Druckerei in den Zeitungen und der Widerhall war sehr bald da. Zu den Künstlerpersönlichkeiten, die ihr Interesse bekundeten, zählte auch Johann Gottfried Schadow, der wohl das beste Blatt in der ersten Mappe von Lithographien, die Reuter herausgab, zeichnete. Reuter hatte nämlich, da seine verschiedenen Werbegesuche bei Hofe und der Akademie nicht den von ihm gewünschten Erfolg zeitigten, schon 1804 zum Beweis für die künstlerische Eignung der Lithographie einen Konvolut Künstlerlithographien editiert, den er „Poylautographische Zeichnungen vorzüglicher Berliner Künstler“ nannte und mit einem entsprechenden Begleitschreiben dem König widmete.

Reuters Kreidezeichnungen auf Stein erzielten bisher ungekannte schöne Schwärzen, die den Münchner Blättern noch lange fehlten.  Er erhielt auch endlich vom König als Anerkennung die erbetenen Räumlichkeiten in dem Anspachschen Palais, wo er seine Druckerei unterbringen und eine verlegerische und Drucktätigkeit neben seinem Beruf als Hofmaler und Lehrer ausüben konnte. In diese Periode fällt vermutlich die Kontaktaufnahme zum Gothaer Schlotheim und seinen Experimenten mit den Steinen aus dessen Mineraliensammlung.

Die ungünstigen Zeitverhältnisse, Krieg und Besetzung Berlins wirkten sich sehr hinderlich auf Reuters lithographische Tätigkeit aus. Besonders die Jahre 1808 – 1817 waren arm an datierten Werken.  Hernach setzte wieder ein reiches Oeuvre ein, das teilweise erhebliche Fortschritte und vor allem eine größere Reife zeigt, bis die letzten Jahre abermals Dunkelheit über das weitere Schicksal der Reuterschen Lithographierkunst breiteten. Inzwischen waren aber in Berlin neue lithographische Anstalten entstanden, die mehr Erfolg hatten, weil sie nicht nur künstlerischen  Interessen dienten, sondern auch wirtschaftliche  Aufgaben übernahmen. So 1809 die des Georg Decker, eine Weitere 1816 des Majors L. v.  Reiche, eines Schülers Senefelders, die 1820 in das Königlich lithographische Institut am Kriegsministerium überging.

Im zweiten Weltkrieg sind größere Bestände von deutschen Lithographie-Inkunabeln in den Kunsthandel gekommen und auf diesem Wege ist auch jenes Blatt von 1794 für die Wiener Albertina erworben worden – Reuters ältestes datiertes Steindruckblatt, eine Kopfstudie, im Profil dargestellt, ein erster Versuch eines geschickten Zeichners auf einem ungewohnten Material, dem Künstler jedoch wertvoll genug, das Datum der Entstehung darauf zu vermerken. Reuter pflegte die meisten seiner Drucke zu bezeichnen. Entweder setzte er den vollen Namen hin oder nur ein Monogramm, manchmal schrieb er Ort und Datum, meistens aber die bloße Jahreszahl.

 Ich spüre, ich bin vom Thema abgewichen, ich werde also zu Jung-Schlotheim zurückkehren.

Es steht für mich fest – nach dem detaillierten Studium der Kunsthistoriker Berlins und Wiens des 19. Jahrhunderts – dass die psychologische Quelle des Weges von „Jung-Schlotheim“ zur Kunst und letztlich zur Lithographie in seiner Laufbahn als preußischer Elite-Offizier liegt. Ich bin vor allem dem Zufall dankbar, der mir sozusagen als Zweitlektüre zur Vorbereitung auf die Aufführung von Kleists Käthchen von Heilbronn im Weimarer Nationaltheater Sigismund Rahmers „Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter“ aus dem Jahre 1909 in die Manteltasche gesteckt hatte. Der Kulturhistoriker, Arzt und Kleistforscher Rahmer hatte das Glück, im den preußischen Militärarchiven biographische Unterlagen zu „Jung-Schlotheim“  einsehen zu können, die als Folge der Kriegswirren heute nicht mehr existieren.

Jener Schlotheim ist Jahrgang 1772, heißt Hartmann mit Vornamen und ist der jüngere Bruder des berühmteren  Ernst Friedrich.  S. Rahmer entwickelt die Laufbahn des Offiziers von Schlotheim im engen Zusammenhang mit der des Dichters und Offiziers Heinrich von Kleist – ich werde dieser Idee folgen.

Rahmer bezeichnet Schwarzburg als Stammsitz der Familie, während der Kulturhistoriker Paul Hoffmann (1927/S. 74) als Geburtsort Allmenhausen im Fürstentum Schwarzburg nennt, nur einen einstündigen Fußmarsch entfernt vom Gutsdorf Schlotheim entfernt, das der Familie ihren Namen gab und etwas über 30 km nördlich von Gotha liegt.

Als Kleist 1793 als Fähnrich ins Potsdamer Regiment eintritt, ist Hartmann von Schlotheim schon ein 21jähriger erfahrener Seconde-Leutnant. Sie finden sich sofort sympathisch, haben auch gemeinsame Interessen, zum Beispiel die Musik. Der Biograph des späteren Generals Rühle von Lilienstern schreibt im „Militair-Wochenblatt“ (Beiheft zur Ausgabe Oktober-Dezember 1847) zur musischen Stimmung der freundschaftlich verbundenen jungen Potsdamer Garde-Offiziere : „Über das musikalische Treiben aber hören wir endlich, daß es derselbe (Rühle von Lilienstern – D. W.) mit geringen Naturanlagen durch unermüdlichen Fleiß auf seinem Instrument, dem Fagott, dennoch erreicht, in öffentlichen Konzerten die schwierigsten Solopartien übernehmen zu können und sogar eine Zeitlang dem Gedanken Raum gab, sich ausschließlich der Musik zu widmen. Hierbei ist noch des wichtigen Einflusses zu gedenken, der auf die Geistes- und Charakterentwicklung desselben von bestimmten Persönlichkeiten ausging. In dieser Hinsicht ist von den jüngeren Kameraden, welche ähnliche Bestrebungen und Geistesrichtungen wie Rühle verfolgten und mit demselben durch enge Freundschaftsbande verknüpft waren, besonders Heinrich von Kleist, der dramatische Dichter, früher Leutnant im Garderegiment, und Ernst von Pfuhl, Leutnant im Königsregiment, … zu nennen. Es lässt sich von selbst erwarten, das höhere geistige Bestrebungen diese Vereinigung der Freunde befestigten und veredelten. Wissenschaften, Dichtkunst und Musik waren der Stoff, welcher die Zusammenkünfte dieser jungen Offiziere belebte. Die von allen Mitgliedern periodisch eingereichten Arbeiten und Produktionen wurden hier gehört und verhandelt. Das ausgezeichnete Quartett, welches von Kleist (der Dichter), von Schlotheim (Generalstabsoffizier und nachheriger Gouverneur des Herzogs Carl von Mecklenburg), von Gleisenberg (Leutnant im Regiment Garde , später Gouverneur in der Militärakademie) und Rühle bildeten, ist den Zuhörern noch heute lebendig im Gedächtnis. (S. 159f)

Noch konnte der Seconde-Leutnant von Schlotheim jedoch nicht mit eigenen Kriegserlebnissen aufwarten, denn am Feldzug von 1792 gegen das revolutionäre Frankeich hatte sein Regiment nicht teilgenommen, auch die epochemachende Kanonade von Valmy vom September 1792 und der chaotische Rückzug zum Rhein blieben ihm erspart.

Nach S. Rahmer (S. 21), der noch das Glück hatte, in den Akten der später zerstörten Geheimen Kriegskanzlei des königlich-preußischen Kriegsministeriums zu forschen, vollzog sich die militärische Laufbahn Hartmanns von Schlotheim in folgenden Etappen: Juli 1788 Eintritt in das Infanterie-Regiment No. 18 (Regiment Kronprinz, später Regiment König), das ebenfalls in Potsdam in Garnison lag.  Obwohl Kleist und Schlotheim nicht im gleichen Regiment dienten, hatten sie aber vermutlich als Offiziere in der Stadt Potsdam regelmäßigen engen Kontakt. Schlotheim wurde am 4. Juni 1790 zum Fähnrich und am 9. August 1793, dem Jahr in dem Kleist als Fähnrich in Frankfurt am Main zum Garderegiment stößt, zum Sekondeleutnant befördert. 1801 ist er Gouverneur des Prinzen Carl von Mecklenburg-Strelitz (1785 – 1837, Stiefbruder von Königin Luise, ebenfalls als Garde-Offizier in preußischen Diensten in Potsdam stationiert), 1803 Stabskapitän und 1804 „Wirklicher Kapitän“ und Quartiermeister-Leutnant, also Generalstabsoffizier.

Interpretiert man Sigismund Rahmers knappe Beschreibung, ergibt sich ein farbiges Bild jener Potsdamer Jahre: der aus niedrigen, aber alten thüringischen Adelskreisen stammende Hartmann von Schlotheim gelangt durch einen der beim Militär nicht unüblichen Beförderungs- oder Berufungszufälle in die höchsten Kreise des preußischen Adels. Was Heinrich von Kleist in die Wiege gelegt wurde, die Nähe zum Königshaus der Hohenzollern, wird ihm, dem Nicht-Märker, vermutlich ohne sein aktives Betreiben, 1799 von ganz oben befohlen:  das 16jährige Stief-Brüderchen der Königin zu beschützen, zu lenken, abzuschirmen und nebenbei zu erziehen und zu bilden – eben sein Gouverneur zu sein. Ein archivalischer Glücksfall wäre es, wenn ich in Potsdam, Neustrelitz, Berlin-Dahlem oder sonstwo die königlich preußische Instruktion für den Stabskapitän von Schlotheim ausfindig machen könnte, in der minutiös jene Aufgaben aufgelistet sind, die ihm der königliche Hof bezüglich des Prinzen von Mecklenburg-Strelitz aufgetragen hat. Mit der Position des Gouverneurs hängt selbstverständlich auch die Außer-der-Reihe-Beförderung zum Hauptmann -Stabskapitän zusammen, denn in Gegenwart eines Königin-Bruders ist wohl ein einfacher Leutnant undenkbar. Warum dann wohl der Herr Stabskapitän im Frühjahr 1805 einen Selbstmord-Versuch unternimmt, ist nirgends aufgeschrieben. Er schießt sich mit der Dienstpistole in den Mund, überlebt aber glücklicherweise. – Die üblichen Erklärungsmuster versagen aus meiner Sicht – Schulden, unglückliche Liebschaften, Minderwertigkeitsgefühle in der Karriere-Warteschleife.

Die Frauen, die ihn am Krankenbett nach dem missglückten Pistolenschuss hingebungsvoll pflegen, u.a. Caroline von Briest, die Ehefrau des romantischen Dichters Friedrich de la Motte Fouqué, lassen in ihren Briefen nichts Derartiges verlauten.

Meine demokratisch-republikanische Weltanschauung aber lässt Raum für die folgende Spekulation – ein nur 11 Jahre älterer Offizier, der selbst mit nur 16 Jahren in eines der vornehmsten preußischen Garderegimenter, das IR „Kronprinz“ mit Standort Potsdam, eingetreten war,  erlebt rund um die Uhr die Torheiten seines halbwüchsigen Schutzbefohlenen, erträgt mit Mühe die Hohlheit, Leere, das Spießertum und die Oberflächlichkeit des Hoflebens, den billigen Populismus rund um die provinzielle junge Königin und ihren Verehrer, den Prinzen Louis Ferdinand, die Sprachlosigkeit des Königs, die offene Korruption.

Nach dem missglückten Selbstmordversuch vom April 1805 scheidet Jung-Schlotheim aus dem preußischen Heer aus, erhält eine Pension von 300 Reichsthalern, und zieht sich nach Gotha zurück. Dieser Pistolenschuss in den Mund führt aber zu einer dauerhaften Missgestaltung des Gesichts des Offiziers Hartmann von Schlotheim, so dass er menschenscheu im Hause seines Bruders zurückgezogen lebt, sich in die Kunstgeschichte vertieft und mit den Steinfunden der Sammlung seines Bruders künstlerisch experimentiert. Der Zufall führt ihn zum Steindruck, damit auch zur Bekanntschaft und dauerhaften Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstler Wilhelm Reuter – die künstlerischen Erfolge helfen ihm schrittweise über seine Resignation hinweg. Von seinen erfolgreichen Bemühungen zeugt auch ein Brief, den mir die Berliner Rxperten nachträglich zu schickten – in Handschrift und Transkription. Vom ehemaligen preußischen Garde-Hauptmann v. Schlotheim an Reuter:

Hier die durch den Kleist-Forscher Paul Hoffmann besorgte und veröffentlichte Transkription:

Ich gehe davon aus, dass der Bericht seines älteren Bruders über dessen Reise nach München zwischen 1792 und 1795 und die Besichtigung der dortigen technischen Neuheiten des Steindrucks unseren „Jung-Schlotheim“ bei seinen Experimenten und den Versuchen ihrer Vermarktung bestärkt haben.

Er unternimmt nun auch kürzere Reisen, Wanderungen in der Natur, in den Bergen, vermeidet aber die Teilnahme am sozialen Leben der Gothaer Gesellschaft. Daher ist sein Name in Gotha in Unterschied zu dem seines älteren Bruders kaum bekannt. 

Vermutlich tritt er über briefliche Angebote zur Zusammenarbeit mit Zeichnern und Malern in Kontakt, nachdem er die ersten praktischen Erfolge im Druck unter Verwendung von geschliffenen Marmorplatten, die ihm aus der brüderlichen Sammlung zur Verfügung stehen, nachweisen kann. Seinen Namen als Lithograph und seine erfolgreichen Experimente kennt man auch inzwischen in Weimar, Minister Goethe schlägt ihn für ein Austauschpraktikum mit dem Münchener Museum vor. Das Projekt scheitert jedoch an der Kostenfrage.

Goethes Begeisterung für die neue Drucktechnik findet sich auch rückblickend in einem Brief an den Münchner  Botaniker und Ethnographen Carl Friedrich Philipp von Martius (1794-1868) von 1826: „Seit zwanzig Jahren sehe ich der neuen deutschen Kunstentwickelung zu, und wage noch  nicht, mich darüber auszusprechen. Lassen Sie mir es an Kenntniß der neusten Thätigkeiten künftig nicht fehlen; die Lithographie erleichtert solche Communicationen. Sollten die  Gemälde der Clyptothek nachgebildet werden, so bitte mich damit zu erfreuen“.

Angesichts dieser weiträumigen Kontakte ist es durchaus denkbar, dass „Jung-Schlotheim“  auch mit dem Augsburger Schlachtenmaler Adam in Beziehung tritt und für ihn eine Platte mit dem Sujet des Gefechts bei Ebersberg herstellt. Leider konnte ich bisher keine schriftlichen Belege, keinen Auftrag oder Rechnung finden.

Ich fasse einen kühnen Plan. Für die nächsten Tage steht keine Beratung in meinem Kalender, meine Anwesenheit in Saalfeld ist nicht erforderlich, also kann ich in Gotha, Erfurt und Arnstadt die mir wohlbekannten Antiquariate abklappern, diesmal aber nicht auf der Suche nach politischen, militärischen, landeskundlichen Publikationen und Karten, sondern nach Kunst, was etwas Verwunderung bei meinen Bekannten und den befreundeten professionellen Sammlern und Verkäufern hervorruft. Steindruck, Lithographie zwischen 1790 und 1820 steht auf der Wunschliste, Namen nenne ich nicht, das könnte die Preise hochtreiben.

Nach drei Tagen bekomme ich Hustenanfälle, so sehr hat mich der Staub der entlegensten Ecken in den alten Stuben auf und neben der Erfurter Krämerbrücke, in den Gassen zu Füßen des Friedensteins und in den Winkeln rund um die Bachkirche im altehrwürdigen Arnstadt angegriffen.

Aber es hat sich gelohnt: nichts ließ ich mir anmerken, als ich mit dem etwas schläfrigen alten Herrn am Erfurter Fischmarkt um den Preis für eine Kunstmappe von 1809 feilschte. Er war vermutlich froh, dass sich jemand für den Ladenhüter interessierte, konnte ganz sicher mit dem Namen Hartmann S. auf dem Titel nichts anfangen. Mir aber schlug das Herz bis hoch in den Hals hinein: „Skizzen zur besseren Ausführung für Künstler und zur Nachahmung für Schüler; als Versuche des chemischen Steindrucks in Gotha herausgegeben von Hartmann S: 1809“ – ein Foliant mit zehn Blättern, Querformat, 50 mal 35 Zentimeter! „Da wird sich meine Frau zum Geburtstag aber freuen“ konnte ich gerade noch stottern, als ich dem netten, bedauernswert unbedarften Herrn die ausgehandelten 25 Euro auf den Tisch legte.

Zur Freude über den Fund gesellte sich die Überraschung zu Hause, als einer der Drucke den älteren Bruder „E.S. del Gotha“, also Ernst von Schlotheim auswiesen!

Offen bleibt der Bezug zu Löffler in Gotha – warum befindet sich jenes Blatt mit dem Gefecht von Ebersberg unter seinen Papieren? Hatte Löffler es gekauft? Warum? War er ein Kunst-Sammler? Gab es eine persönliche Erinnerung an die Napoleonischen Feldzüge oder war es einfach nur an eine seiner Reisen in die Gegend von Wien?  Es kann auch ein Geschenk der Brüder v. Schlotheim an ihn gewesen sein, dagegen spricht aber das Fehlen der üblichen Widmung auf der Rückseite. Oder habe ich etwas übersehen? Im Büro untersuche ich gründlich das Blatt – das ist er doch, der Schlüssel: das Blatt ist auf ein Doppel aufgeklebt, fast unsichtbar, aber doch mit etwas Mühe kann ich die beiden Schichten voneinander lösen. Wie erhofft: auf der Rückseite des Originals die Widmung – aber die Kette der glücklichen Zufälle reißt nicht ab: nicht nur dass beide Brüder die Widmung unterschrieben haben, sondern neben dem Namen Löffler als Empfänger des Geschenks steht ein Name, der so unglaubhaft scheint, dass ich zuerst an eine Fälschung denke – H. v. Kleist! Ich mache mich an die Dechiffrierung der drei Zeilen der Widmung: „Anl. d. Besuches H.v.Kleist beim Kam. H.v.S. in Gotha dem väterl. Freund GS. L. 13. Feb. 1810“ und komme zum Ergebnis: „Anlässlich des Besuches Heinrichs von Kleist beim Kameraden Hartmann von Schlotheim in Gotha dem väterlichen Freund Generalsuperintendent Löffler 13. Februar 1810.“ 

Zu überprüfen wäre das Datum – ist es vereinbar mit den akribischen Angaben, die sich aus dem veröffentlichten Briefwechsel und den Angaben der Freunde und Bekannten des Dichters zu den Aufenthalten Kleists in Berlin und seinen Reisen im ersten Halbjahr 1810 ergeben – nachzulesen in den „Lebensspuren“, herausgegeben von Helmut Sembner. Ich finde keinen Widerspruch – jener Aufenthalt Kleists in Gotha bei Hartmann von Schlotheim ist mehrfach dokumentiert, auch die finanziellen Transaktionen zwischen Kleist, Reuter und Hartmann von Schlotheim.  Aus der Widmung könnte man ein Treffen der Brüder Schlotheim, Löfflers und des Besuchers aus Berlin, Heinrich von Kleist, an jenem 13. Februar 1810 herauslesen, auch wenn es dafür – zum Ärger der „Kleistologen“ – keinen Beleg in den Briefen gibt. 

Es ist etwas mehr geworden als sonst – aber die Schlotheims verdienten eine ausgiebige Darstellung – in ihren mannigfaltigen Beziehungen zu Heinrich von Kleist.

Dr. Dieter Weigert 6. September 2023 Berlin Prenzlauer Berg

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder Leutnant von Kleist und Superintendent Löffler Folge 19 Besuch in Uniform

Immer noch strenger Winter. Den Vorschlag meiner durch den Landrat temporär zugeordneten Mitarbeiterin Edda, sich in Gotha, also „an Ort und Stelle“, einen anschaulichen, sinnlich wahrnehmbaren Eindruck vom Wirken und von den privaten Lebensbedingungen des Theologen und Kirchenpolitikers Josias Löffler zu verschaffen, habe ich akzeptiert – aber das Wetter müßte schon mitspielen, hatte ich hinzugefügt. Frühestens Mitte März käme in Frage, jetzt ist aber erst Ende Februar. Den versprochenen Text eines Briefes des französischen Bildhauers Houdon an Josias Löffler vom Sommer 1789 lassen wir uns auf der Zunge vergehen – unmittelbar vor dem 14. Juli geschrieben, also am Vorabend der offenen Gewaltausbrüche in Paris, die am Ende in die Revolution und den Sturz der Dynaste der Bourbonen führten.: „Mein lieber Freund, Frankreich und die Welt stehen an einem Wendepunkt ! Unserem Herrscher sind die Finanzen für die Weiterführung seiner luxuriösen Hofhaltung und die abscheulichen Kriege ausgegangen, er muß sich an die Stände wenden – die werden ihm aber wahrscheinlich keine Gunst erweisen, da er nicht zu echten Refomen bereit ist. Die allgemeine Verunsicherung ist – wie ich spüren konnte – auch in den deutschen Fürstenthümern vorhanden, nicht aber der Wille zur politischen Auseinandersetzung mit ihren bisherigen regimes. Obwohl das aufgeklärte Gotha eine rühmliche Ausnahme bildet und Ihr Herzog Ernst mit der französischen Opposition in allen drei Ständen liebäugelt, kann man nichts erwarten von diesen isolierten Tendenzen. Preußen wurde durch den gegenwärtigen regierenden Fürsten und seine korrupte clique um Jahrzehnte zurückgeworfen, wie selbst Prinz Heinrich im vertraulichen Gespräch äußerte. Offiziell hält er sich sehr zurück, immerhin war der verstorbene König sein Bruder, der ihn oft wegen seiner homoerotischen Escapaden gescholten hatte. Als königlicher Prinz ohne Verantwortung lebt es sich aber sehr angenehm in den Schlößern mit den geliebten jungen Offizieren! Seine Urtheile über Frankreich und die Welt fand ich amüsant, aber doch etwas oberflächlich. Er hat leider keine Kontakte. Bester Freund, bleiben Sie mir gewogen – ich würde Sie gern portraitieren, wenn Sie mich hier in friedlicheren Zeiten besuchen mögen – Ihr Jean-Antoine H.“

Edda schien begeistert von der Stimmung, die dieser französische Künstler verbreitete – ein Freund der großen Geister wie Voltaire ! Sie legte zur Unterstützung meines Erkenntnisgewinnes die Kopie einer Abbildung aus einem Katalog hinzu, die eine wunderschöne Skulptur aus den Gothaischen Sammlungen zeigte:

Etwas von der französischen aufgeklärten philosophischen Leichtigkeit färbte auch auf ihr Josias-Löffler-Bild ab, schien mir. Und davon wiederum gewann vermutlich auch ihr Bild des Dichters Heinrich von Kleist schärfere Konturen. – Bester Chef, war nicht dieser Kleist während seiner Kindheit und frühen Jugend doch ein Zögling unseres Theologen und Pädagogen? Hoffentlich finden wir dazu Belege!
Eine Art romantische Leidenschaft hatte Edda gepackt – ich glaubte sie bremsen zu müssen , hatte aber wenig Erfolg. Da half nur der schriftliche oder bildnerische Beweis.
Also nochmals seinen vilebesprochenen, vielbeschriebenen Brief aus dem Jahr 1793 heraussuchen.  Die Kleist-Gemeinde kennt seit ewigen Zeiten jenen Satz aus dem Briefe des Fähnrichs Heinrich von Kleist an sein Tantchen Massow vom März 1793: „In Gotha sprach ich abends um 6 Uhr den Generalsuperintendenten Löffler; er trug mich (?!) auf ihm (?!) bei Ihnen zu empfehlen, und erinnerte sich unsers Hauses mit vielem Vergnügen.“

Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Begegnung für den sensiblen Theologen Josias Löffler ohne bleibenden Eindruck geblieben wäre, ohne das Bedürfnis, sie einem Freund oder Verwandten mitzuteilen. Wem aber in Frankfurt oder Berlin schrieb er in diesen Monaten? Wer war mit den Frankfurter privaten Verhältnissen der Familien Löffler oder Kleist so vertraut, dass er die Erwähnung eines Gesprächs Löfflers mit dem jungen Kleist in der Uniform eines Fähnrichs der preußischen Armee verstand? Vielleicht der Garnisonpfarrer, der Feldprediger beim Frankfurter Regiment, der das Kind am 27. Oktober 1777 getauft hatte ? Oder jener Garnisonpfarrer, der ihn am 20. Juni 1792 konfirmierte? Oder die Briefe an Plothe? Das könnte ein erfolgversprechender Pfad sein –

Da kommt eine andere Erinnerung aus uralten Zeiten, aus den Studienjahren in mir hoch, der Besuch im Antiquariat Peludrigkeit in der Leipziger Münzgasse, einem Geheimtipp unter den Liebhabern von Karten, Militaria, Städtebeschreibungen, theologischer Literatur seit der Reformation. Der Chef selbst, ein Mann von etwa 45 Jahren, wie mein Vater in so jungen Jahren schon glatzköpfig, nahm mich vertraulich am Arm und führte mich ins Heiligtum hinter dem Vorhang, dessen Fenster zum Garten mit starken Eisengittern gesichert war. Verblüffend stellte ich fest, dass der kleine Raum zwar mit Büchern, Karten, Erd- und Himmelsgloben bis unter die Decke vollgestopft war, aber keinen Stuhl oder Sessel aufwies, die zum geruhsamen Studium einluden. Nur ein Stehpult mit verstellbaren Ablageflächen unterhalb der Schreibebene stand vor den Fenstern, auf ihm lag aufgeschlagen ein Schatz, schon vom weiten erkennbar am Ledereinband und der goldbelegten Schrift. Der Chef führte mich zu diesem Kleinod seiner Sammlung, bot es mir an mit den Worten; „Ich kenne keinen würdigeren Menschen in dieser Stadt, der diese Schrift zu schätzen und zu verstehen weiß.“ Wir wurden uns über eine monatliche Ratenzahlung von zwei Jahren einig, selten in jenen Zeiten.

Das Buch war der Traum aller Historiker, Philosophen, Theologen und Kunstgeschichtler meiner Universitätsstadt, jener berühmte Spieker, seine „Beschreibung und Geschichte der Marien oder Oberkirche zu Frankfurt an der Oder“ aus dem Jahre 1835. Der Chef erklärte mir, seinem Vertrauten, dass er sich schweren Herzens dazu entschied, dieses Vermächtnis seines Vaters aus der Hand zu geben. Er hatte sich entschieden, es nun mir anzuvertrauen, da er mich nun „in- und auswendig“ kannte. Sein Vater hatte ihm kurz vor seinem Tode das Buch überreicht – mit der Erklärung. dass ein Offizier einer der Besatzungsmächte im Sommer 1945 unter dem Siegel der Verschwiegenheit jenes Kleinod gegen einige schön gestaltete historische Silbermünzen damals zusammen mit einem Stapel historischer Karten veräußert hatte. Der Offizier habe es wiederum von einem Freund, der wie er meinte, rein zufällig in einem der vielen geplünderten Läden in Deutschland während der letzten Kriegsmonate wie er meinte, „gefunden“. Da mein Vater aus Königsberg kam, wie er dazu setzte, war er hellauf begeistert von diesem Buch, denn wie ich doch schon aus vielen Gesprächen mit ihm wüßte, habe der Vater zuerst versucht in Frankfurt an der Oder nach seiner geglückten Flucht aus Königsberg in den letzten Kriegsmonaten einen Antiquitätenladen aufzumachen, war aber gescheitert. Niemand interessierte sich damals für Antiquitäten oder antiquarische Bücher. Sie lagen zu Hauf in den Straßen. Sie wurden von den Offizieren der Besatzungsarmee, auch unter anderem von polnischen Offizieren – patrouillierend zwischen Spree und Oder – wie Sauerbier angeboten. Direktoren wissenschaftlicher Bibliotheken suchten Leute, um die Raritäten einzusammeln, hatten aber keine Fahrzeuge in den Nachkriegsmonaten.  Daraufhin zog mein Vater mit seinem frommen Wunsche ins Landesinnere und sei nun hier glücklicher Begründer eines Ladens in dieser Universitätsstadt geworden.  Ja, er der Chef sei nun mit Freude Zeuge des Aufschwungs des geistigen Lebens in dieser sächsischen Universitätsstadt und sei auch sehr erfreut, einen Menschen wie mich zum Freund zu haben.

Diese Erinnerung lässt mich zu Hause den Spieker heraussuchen, das Inhaltsverzeichnis nach der Periode zwischen 1780 und 1800 durchkämmen und die Seite 378 aufschlagen, wo Spieker erstmals den Namen Johann Christoph Plothe im Kontext mit der Darstellung der Tätigkeit Löfflers an der Frankfurter Marienkirche nennt. Der bisherige Konrektor der Frankfurter Oberschule Plothe wurde, so schreibt Spieker, im Jahre 1784 zum beigeordneten 2. Diakon an der Marienkirche berufen.  Löffler persönlich hielt schon am 7. Dezember 1783 die Predigt zur Einführung des neuen Pfarrers in der Marienkirche. Sie wurde 1791 in einem Sammelband der Predigten Löfflers veröffentlicht, herausgegeben in seinem „Hausverlag“, Frommann in Züllichau. Der Kern der Predigt: „Ich bin überzeugt, daß Sie die Würde des Geschäfts kennen, das christlichen Predigern obliegt … O! Ich bin überzeugt, daß Sie diese Würde fühlen; und daß Sie nichts anders als Ihre Ehre darein setzen können, einen so hohen Beruf nach Ihren Kräften zu erfüllen … Nehme ich dazu die Einsicht, welche Sie sich sonst, und vorzüglich in Religionskenntnissen erworben haben, die Übung im Unterricht, die Sie bisher gehabt, die eine so gute Vorbereitung für den kirchlichen Unterricht ist; nehme ich dazu Ihren unbescholtenen Wandel, den Sie führen, und das gute Herz, welches Sie zeigen; wie könnte ich anders, als auch aus diesem Grunde der Gemeinde zu einem solchen Lehrer Glück wünschen.“

„Dieser würdige Geistliche von seltener Treue und Rechtschaffenheit, zuverlässig in Wort und That, wohlwollend und hülfreich“ – so bewertet ihn Spieker. Ich entdecke plötzlich bisher für mich unbekannte Seiten an jenem Theologen – nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums an der Viadrina erhielt er schon mit 21 Jahren das Subrektorat an der Oberschule, unterrichtete u.a. privat die Gebrüder Humboldt im mündlichen Beherrschen der lateinischen Sprache und wurde einer der engsten Vertrauten des Generalsuperintendenten Josias Löffler. Er blieb 2. Diakon auch nach Löfflers Weggang, wurde aber erst nach langer Wartezeit 1797 zum 1. Diakon berufen. Spieker würdigt ihn (S. 394) beim Bericht über seinen Tod (1811) nochmals mit rührenden Worten: „Das Leben dieses Redlichen war einfach, aber voll inneren Gehalts und erbaulich für seine Gemeinde. Sein stilles, bescheidenes Wirken, seine geräuschlose Thätigkeit, sein ernster gediegener Charakter und sein redliches Forschen nach Wahrheit hatten ihm die allgemeine Achtung erworben.“

Ich nehme das „goldene Buch“ nochmals in die Hand, betrachte verzückt den kunstvoll gestalteten Rücken, will es in das Regal zurücklegen.  Aus dem ersten Drittel etwa löst sich unverhofft ein Blatt, entfaltet sich – auf der Vorderseite zeigt es eine Landkarte Böhmens von 1778 und auf der bisher verborgenen Rückseite eng geschriebene Notizen – in der Handschrift von Josias Löffler !

Das Glück des tüchtigen Forschers – es ist die Abschrift eines Briefes, den Josias an Plothe geschrieben hatte – sogar das Datum ist vermerkt: Montag, 25. März 1793! Die Handschrift ist unsauber, Josias hat sich keine Mühe gegeben, es war nur für den Hausgebrauch. Ich werde einen scan anfertigen und eine Notiz den Akten beifügen.

Warum und wie diese Karte samt rückseitiger Beschriftung in das Buch geraten ist, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben ebenso die Antwort auf die Frage, wer das Versteck gewählt hat. Die Jahre nach 1793 waren wohl in Deutschland nicht dazu angetan, intime Korrespondenzen mit politischen Freunden offen herumliegen zu lassen. Wie schnell war man der Sympathie zu den Jacobinern oder später den „Demagogen“ verdächtigt! Vermutlich wird einer der Freunde Löfflers nach dessen Tod diese Abschriften in einem „linientreuen“ Buch verborgen haben. Josias Löffler hat die Wende vom freien liberalen geistigen Klima unter Friedrich II. in Preußen zum Dunkelmännertum und zu der Denunziantenatmosphäre unter seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm herannahen sehen – er ist zu ihrem Opfer geworden. Ich kann mich erinnern, wie einer meiner geliebten, sehr belesenen Uni-Professoren gern das Wort von Arnold Zweig über jenen unwürdigen Erben des großen Friedrich auf dem preußischen Thron zitierte: „eine Null von frommem König“!

Noch zu Hause versuche ich mich am Dechiffrieren: „Mein lieber Plothe, Bruder im Geiste, treuer Freund! Ich hoffe es geht Ihnen gut und die Oberkirche steht noch. Meine Montage hier in Gotha sind seit Jahren der correspondenz vorbehalten, so sind Sie der erste am Morgen, der meinen Geist aufheitert. Nichts Dringliches, aber doch das Gefühl Bewegendes möchte ich Ihnen zu Beginn der Karwoche mitteilen. Wann schrieb ich Ihnen das letzte Mal? Es muß wohl zum Weihnachtsfeste im alten Jahr gewesen sein, daher nun die überraschende Neuigkeit von diesem Jahresbeginn! An einem der vorigen Mittwochabende staunte ich nicht schlecht – unangekündigter Besuch aus Frankfurt stand vor der Tür. Ein junger Militair im blau-roten preußischen Tuch, die Mütze verlegen in den Händen drehend, begleitet von einem älteren Diener, einem „Burschen“, wie die Offiziere gewöhnlich sagen. Den Soldaten erkannte ich nicht auf Anhieb, die Uniform verändert den Menschen, aber als er sich vorstellte, umarmten wir uns freundschaftlich, es war der Nachbarsjunge aus der Kleistfamilie, der leicht versponnene, weltkluge, manchmal verschlossene und in sich gekehrte Heinrich. Die königliche Fähnrichs-Uniform schreckte mich zuerst ab, dann übersah ich sie. Der Kleine wird noch hineinwachsen, dachte ich auf den ersten Blick, er wird sie schon bald ausfüllen, körperlich und geistig, hoffentlich wird seine zarte Seele keinen Schaden nehmen! Denn wenn sich sein Traum, Lehrer zu werden, erfüllen soll, dann wird er viel Seele brauchen, mehr Seele als trockene Wissenschaft.

Von diesem Traum, Lehrer zu werden so wie ich, hatte er mir während der Gänge durch St. Marien mehrfach erzählt. Manchmal hatte er sich durch das geöffnete Seitenportal in das Hauptschiff hineingeschlichen, um sich besonders die Tafeln über dem Altar und die Fenster hinter dem Chor anzusehen. Als ich ihn einmal dort allein erwischte, lief er rot an, stotterte etwas von Teufelsfratzen und Hörnern und Satansklauen, Wörtern, die ich im Wortschatz eines Jungen seines Alters nicht vermuten würde. Waren es Gesichter aus jenen farbigen Chorfenstern, die ihn im Traum erschienen waren? Wir gingen den uralten, dunklen Fenstern und er zeigte sie mir, jene mittelalterlichen Szenen, sehr hoch über uns, aber doch erkennbar. Angetan war er insonderheit vom äußersten rechten Fenster, dort häuften sich die Schreckensgestalten, die Teufel, die satanischen Folterknechte, die gehörnten Köpfe, sehen Sie sich das an, lieber Plothe, und erstaunen Sie wie ich damals. Aufgeregt führte er mich ganz nahe heran zur dritten untersten Reihe des rechten Fensters und spielte mir vor in der Art eines Hauslehrers – oder besser – eines Theatermenschen – wie er den ihm anvertrauten Mädchen – er sprach immer nur von Mädchen, niemals von Knaben – die einzelnen Szenen erklären wolle. So zeigte er mir die Darstellung einer Geburt, in der ein Teufel neben der liegenden jungen Mutter steht, aus seinem rosa-braunen Kopf wachsen große goldene Kuhhörner, aus dem Munde ragt ein riesiger Eckzahn, an der Schulter trägt er eine Plakette mit Teufelsantlitz. Dieser hochgewachsene Satan berührt das Neugeborene auf dem Arm einer Hebamme, die beiden Frauen sind nicht erschreckt, finden die Anwesenheit des Teufels vermutlich normal. Der Kleine erregte sich gewaltig bei seiner Erklärung, fragte mich nach der Deutung – ich muß gestehen, mein bester Freund, dass ich keine zur Hand hatte und ihn auf ein andermal vertrösten mußte. Nun war es an mir, die Szenen allein für mich zu studieren und Erklärungen zu suchen für Abbildungen aus dem gotischen Mittelalter, für die es vermutlich weder kunsthistorische Beschreibungen noch Experten gab, die mir beistehen konnten. Ich sollte Ihnen, lieber Plothe, offenbaren wie wenig ich mich auf Kunstgeschichte und insbesondere die gotischen Gemälde verstehe. Durfte ich aber das dem Knaben beichten und somit seinem Traum vom allwissenden Lehrer einen Stoß ins Bodenlose versetzen? Nein, dreimal Nein ! Ich nahm mir vor, in allernächster Zeit diese Beschäftigung nachzuholen, bin aber bis heute säumig. Der Besuch des „Herrn Fähnrichs“ erinnerte mich schmerzhaft an die Lücke in meinem Wissensgebäude, nun werde ich mich dransetzen – vielleicht können Sie, lieber treuer Plothe, mir nach nochmaliger Besichtigung der Fenster einige Anregungen zum Nachdenken und zu neuerer Literatur senden.

Der Junge im preußischen Blau-Rot war höflich genug, mich nicht auf jene meine Mängel hinzuweisen, er scheint jedoch über ein veritables Gedächtnis zu verfügen – im Verlaufe des über einstündigen Gesprächs im Schloßpark und des eiligst durch meine liebe Köchin zusammengestellten Abendessens kamen wir auf das Satanische in den Kriegen der Gegenwart zu sprechen. Er war auf dem Wege zu einem dieser schrecklichen Untaten der Menschheit, verblüffte mich durch das Geständnis, er wisse überhaupt nichts darüber und bat mich, ihm etwas von den Erfahrungen meines Einsatzes als Feldprediger 78/79 mitzuteilen. Woher wußte er von diesem Krieg und meiner Teilnahme? Ich entschied mich, ihm von den Thränen jener schlesischen Bauersfrau zu erzählen und Erinnerungen an einige Szenen der Chorfenster von St. Marien einzuflechten, in denen Waffen sprechen, in denen Opfer von Steinigungen ihre brechenden Augen erschreckt dem Betrachter darbieten, in denen abgeschlagene Köpfe am Boden liegen, in denen das Feuer menschliche Glieder frißt. Die Keule, das war die Waffe, die den Knaben am stärksten beeindruckte – mit ihr erschlug man die Heiden, mit ihr folterten die Heiden die ersten christlichen Märtyrer. Der 15-Jährige überraschte mich mit der kühnen These, die Keule sei bestens geeignet für massenhafte Tötungen durch den Mob – sie kräftig schwingend und im Kreise um sich schlagend könne ein Täter ohne abzusetzen und ohne Luft zu holen ganze Gruppen seiner Gegner an einer Wand erledigen und sich – bedrohlich eingekreist durch eine Menge – den Weg über Leichen bahnen: Schädel zerspringen wie Melonen, Blut spritzt an die Wände. Ich erschrak – welche Phantasien bewegen diesen Knaben! Welche Anleitungen zum Verhalten im Gefecht entnimmt der künftige Offizier den Szenen der Chorfenster von St. Marien? Ich beobachtete verstohlen das Gesicht meines Besuchers – unbewegt, nüchtern sachlich spricht der Sproß eines der berühmtesten Offiziersgeschlechter Preußens diese Worte.

Da stand er nun vor mir, der Knabe, der vom Lehrerberuf träumte und in dessen Phantasien satanische Grausamkeiten sich austobten. Lieber Plothe, würden Sie mir helfen, diesem Jungen, wenn er sich künftig wieder dem Elternhaus nähert – sollte er diesem unsinnigen Krieg gegen Frankreich lebend entrinnen können – den guten Weg zum Lehrer zu finden? Bieten Sie ihm in guter Tradition die gemeinsame Besichtigung der Chorfenster an – vermutlich wird er nach den schrecklichen Kriegserlebnissen von selbst das Gespräch über die Keulen, Richtschwerter, Geißelpeitschen suchen. Bitte schreiben Sie mir! Ihr treuer Freund Josias Löffler“

Ich brauche viel Zeit, Geduld und philosophische Neugier zum Verdauen des Fundes. Eddas Fragen werden hoffentlich dabei helfen. Ich fühle schon das Bohrende in der ersten Frage: Heinrich von Kleist – der Junge aus dem Nachbarhaus – als Fähnrich zieht er sich das Preußisch Blau über, als Leutnant der Garde wirft er es ab ! WARUM ??? Welchen Einfluß hatte Josias Löffler auf diese Entscheidung eines von Kleist ?

Dr. Dieter Weigert 2. September 2023 Berlin Prenzlauer Berg

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz: oder -Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 18 Friedenstein

Noch kann sich zu unserem Kummer der Winter im Saaletal festklammern – überraschend für diese Breiten. Sogar Eisblumen an den Scheiben, welch eine Ästhetik !
Edda hat sich gut auf den zweiten Teil der Präsentation der „Gotha-Papiere“ vorbereitet, wie vordem bin ich ganz Ohr und Gefühl für unseren Josias Löffler, Generalsuperintendent, aber ohne Professur – es gibt keine Universität im Herzogtum, vielversprechende Absolventen aus Göttingen und Jena sind willkommen! Aber Gotha kann anerkannte Wissenschaftler, Männer und Frauen der Kultur, der Künste aufweisen, auch Gäste aus Frankreich und anderen europäischen Nachbarländern darunter. Bekannt ist vor allem der französische Bildhauer Jean-Antoine Houdon, dem selbst Herzog Ernst II. 1773 für ein Medaillon Modell gesesssen hatte.


Die gut erholte Edda beginnt mit dem Vortrag von Teieln eines sehr intimen Briefes des Herrn Superintendenten an die noch in Frankfurt (oder bei ihren Eltern in Berlin) auf ihren Umzug wartende Ehefrau: „Liebstes Mädchen, ich umarme dich, ich möchte dich so gern streicheln – wie fern bist du noch! Es ist spät am Abend, die Einsamkeit in der riesigen Behausung macht mir zu schaffen, auch die Sorge um deine Gesundheit. Tagsüber bin ich vollauf beschäftigt – die Schätze der herzoglichen Bibliothek und der kunst- und wissenschaftlichen Sammlungen zu studieren, da kann Frankfurt nicht mithalten ! Ein Original aus der Lutherzeit und aus Luthers Feder: das „Achtliederbuch“, gedruckt 1524 in Nürnberg:

Der Herzog steigt jeden Tag mehr in meiner Hochachtung – er verschleudert nicht die Gelder seiner Untertanen, er legt sie fruchtbringend an – in Bildung und Wissenschaft ! Ich werde dir ausführlich dazu berichten, wenn ich den gesamten kulturellen Reichtum gesehen habe.
Wie geht es den Mädchen, kannst du auch unter den gesundheitlichen Belastungen dich ordentlich um sie kümmern? Die Berlin untersützen dich gewiß! Dem Vater kannst du ausrichten, daß seine Befürchtungen, der aufgeklärte Herzog und insbesondere die Herzogin bei all ihrer Liebe zur Sternenkunde würden die Religion, das Kirchliche vernachlässigen, unzutreffend seyen. Wir sind da einer Meynung – Religion und Moral müssen hoch geachtet werden, da darf nicht gespart werden. Da ist ein wunderschönes kleines Kirchlein, das ich liebgewonnen habe, eine Kapelle, die die Frau Herzogn nach ihren eigenen Vorstellungen hat errichten laßen. Ich lege ein Kupfer bey:

Ist es nicht romantisch? … Meine Distanz zur Oderlandschaft beginnt Fahrt aufzunehmen, aber solange du es dort im Osten noch aushalten mußt wegen der Krankheit und der Kinder, bleiben die Gedanken bei dir. Hier aber wirst du guet und ehrliche Freunde finden, die Frau Herzogin wird dir helfen, sie hat es mir versprochen und sie ist eine Vertrauensperson, nicht so oberflächlich wie manche der hochgestellten Weiber in Frankfurth und Berlin.
Ich küsse dich – bis morgen Dein Männlein“

Edda ist voll in Fahrt: – Da ist noch ein Brief unseres Josias an den Schwiegervater in Berlin, höchst politisch und nicht für fremde Augen geschrieben:

„Verehrter lieber Vater, daß ich Gotha dem romantischen Göttingen vorgezogen habe, werde ich niemals bereuen – da ich das Herzogthum und seinen Aufklärer am Steuer nun kenne. Dein Rath kam zur rechten Zeit, erstaunt muß ich feststellen, wie gut du die verzwickten Verältnisse unserer Tage kennst! Rings um den Friedenstein – (würklich ein Stein, ein Fels des Friedens!) -soviele Anregungen zum Studium, zum Meditieren, zum Disputieren! Bücher soweit das Auge reicht, Skulpturen, Mineralien, liebe Menschen ! Ich bin mit dem Fürsten einig, daß unsere gemeinsamen Reformierungen – dafür hat er mich genommen – bei der niederen und mittleren Bildung beginnen sollten! Religion ist auf gutem Fuße, dafür hat Vorgänger Koppe gesorgt.

Ich kenne den Friedenstein aus meiner frühen Jugend – einer der Hallischen Lehrer, ein Wald- und Bergverehrer hatte in den Sommerferien eine kleine Gruppe Anhänger um sich geschart und war mit uns vier Wochen durch den Harz und den Thüringer Wald gewandert – in den Rucksäcken kleine Hämmerchen zum Losschlagen der seltenen Steine („Feldspat, Gneis und Glimmer – die drei vergeß ich nimmer !“), die wir dann übers Jahr im Naturkunde-Unterricht bestimmten – selbstverständlich in Latein ! In Gotha gab es schon – eine Seltenheit in diesen Zeiten – eine kleine Mineraliensammlung, da fand der Lehrer einen Gleichgesinnten, der auch eine gute Art hatte, mit den Jungs zu plaudern. Der Friedenstein selbst war mir als bedrohlich, grob, ungeheuerlich in Erinnerung geblieben. Wir Schulkinder hatten keine Möglichkeit, das Innere zu besichtigen, auch der Hof war uns verschlossen, überall standen Wachtposten. Die Gassen und Plätze waren wie in Halle, nur fehlte ein Fluß wie die Saale, dafür mehr Hügel.
Was mich auch berührt, sind die auffälligen Ausländer, vor allen Franzosen und Iteliener. Sie verbreiten Unruhe, fast möchte man sagen Rebellion. Es liegt etwas in der Luft! Auch mein Fürst scheint beunruhigt, er fährt oft nach Weimar, sich beraten und Neuigkeiten zu erfahren, ist doch der dortige Herzog Regimentskommandeur bei den Preußen! Und – du wirst es nicht glauben – er berät sich mit Herder und ist begierig, mich mit diesen Neuigkeiten und Herders Blick darauf zu erfreuen. “
Edda stockte, die Stimme versagte ihr – vielleicht verstand sie manche Anzüglichkeiten und historische Zuammenhänge nicht.

Nun überraschte die sehr praktisch veranlagte Edda mich, den erfahrenen Meister der historischen Papiere mit einem auf den ersten Blick verrückten, aber dann doch durchdachten Vorschlag: Bester Chef, wenn es schon aus unsrere Reise nach Frankfurt nichts geworden ist, möchte ich aber doch wegen der Sinnlichkeit der Wahrnehmung eine Zwei-Tages -Tour nach Gotha ins Gespräch bringen! Zwei Tage deshalb, weil dieser Josias Läffler doch zwiefach durch den reformfreudigen Herzog eingespannt war – staatsmännisch-kirchenpolitisch und bildungspolitisch! Das muß man in Gotha riechen können!

Aber – sollte ich dem Vorschlag zustimmen – würde sie gern vorher noch ein interessantes Schreiben präsentieren, dessen handschriftlich hingekritzelten Text sie vorher nochmal durchgehen wolle: Bildhauer Houdon schreibt im Sommer 1789 an Josias nach Rückreise nach Paris – beeindruckt vom tiefen philosphischen Gehalt der Gespräche mit dem „Mann der deutschen Aufklärung“, den er in eine Reihe stellt mit Diderot, Rousseau, Voltaire. Er kommt von einem Aufenthalt am preußischen Hof, wo er Prinz Heinrich porträtierte hatte – er kennt die Gerüchte um die Homoerotik des Prinzen, fand ihn geistig nicht besonders anregend, aber amüsant und weitaus weltoffener als den regierenden Monarchen FW II.! Morgen bekommen ich diese Delikatesse in Originalfassung zum Frühstück!

Dr. Dieter Weigert 31. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 17: Oranienbaum

Der Winter ist überraschend zurück – die Pfützen im Park haben sich über Nacht noch einmal eine dünne Eismütze zugelegt, das Klappfenster schmückt sich mit Eisblumen, sogar einige Schneeflocken verirren sich die Baumkronen.

Edda erwartet mich mit einem Jubelgesicht. Sie hatte sich in den letzten Tagen auf meinen Wunsch hin mit einem unscheinbaren, aber versiegelten Papier  beschäftigt und präsentiert nun das Resultat ihrer Mühen: vermutlich unveröffentlichte Tagebuchnotizen Josias Löfflers, undatiert, ohne Unterschrift, ohne Hinweis auf einen Adressaten. Das Papier stammt eindeutig aus seiner Feder, es ist seine Handschrift. Daneben legt sie einen Renaissance-Holzschnitt, vermutlich 16. Jahrhundert: die Oder und die Ufer der Stadt Frankfurt:

Edda schweigt, sie ist sich der Sensation bewusst, die der Inhalt der drei Blätter, beiderseitig beschrieben, eng und zierlich, für unsere Arbeit bedeutet. Ich verstehe schon mit dem den ersten Satz, was da vor uns liegt – eine Art philosophische Konfession des protestantischen, lutherischen Theologen aus dem Dezember 1786, geschrieben wahrscheinlich in Frankfurt beim Träumen von der Residenz auf dem Friedenstein von Gotha in einer dieser ruhigen Nächte am Ufer der Oder.

Ich bitte Edda, der nunmehrigen Meisterin des Entschleierns, den Text laut zu lesen – so kann ich den philosophischen Gehalt genießen, in mich hineinsaugen, mich in die Welt des späten 18. Jahrhunderts versetzen. Edda müht sich um eine klare und pathetische Stimme – und um das Lesen der notwendigen Pausen im Text:

„Mein großer König, mein Herr und philosophischer Lehrer ist gestorben – friedlich im Lehnstuhl. Er hat mich bestärkt in der universellen Neugier, der Suche nach den großen Geheimnissen der menschlichen Seele, aber auch in der Flucht ins Abenteuerliche, ins Riskante des menschlichen Lebens. Ich bin dem König nur drei Mal persönlich begegnet – von Ferne, in Potsdam und in den Räumen der Charité. Aber das Gefühl, für ihn zu arbeiten, ihm und seinen Zielen zu dienen, versetzte mich in einen Zustand der andauernden Spannung, einer Anspannung des Geistes. Friedrich selbst war ein Mensch, dem das Abenteuer, das Risiko nicht fremd war – seine versuchte Flucht damals aus den väterlichen Zwängen und Lebensplanungen hatte mich in meiner Jugendzeit beeindruckt. Wir jungen angehenden Pastoren liebten diese Ausbrüche, wir waren neugierig auf die Wunder des Lebens, wir nahmen uns jenen Kronprinzen von Potsdam zum Vorbild. Was mir persönlich vor allem Kraft gab, war seine Liebe zu Frankreich, zur französischen Sprache, zur französischen Geisteshaltung – auch zu den Leistungen der modernen französischen Theologen der Aufklärung. Er war nicht fromm im landläufigen Sinn – er war moralisch ! Wie ich weiß, hat er als Moralist sehr gelitten unter der Verantwortung, Kriege vorzubereiten und führen zu müssen.

Wie mir Menschen aus seiner näheren Umgebung berichteten, haben ihn nächtelang schreckliche Qualen die Seele beschwert, er konnte diese Lasten nicht anderen aufbürden – er war der König, der Alleinregent, der Allein-Entscheider über Krieg und Frieden. Seine Entscheidung für die Kriege um Schlesien, um die Behauptung Preußens als mitteleuropäische Großmacht entsprang nächtelangen Erwägungen, welche Mittel ihm als Herrscher zur Verfügung stehen, ohne zum schrecklichsten aller Instrumente, dem Krieg, greifen zu müssen. Letztlich blieb zur Erhaltung und zum Ausbau des Status Preußens, zum Schutz des Erbes seines Urgroßvaters, des Großen Kurfürsten, und seines Vaters, des Soldatenkönigs, nur das Militär. Und der Einsatz des Militärs konnte nicht halbherzig erfolgen, Krieg bedeutet unerbittliche Konsequenz – um eine europäische Macht von Rang zu werden und zu bleiben, brauchte es eine territoriale Größe von beachtlichem Ausmaß, von wirtschaftlicher Kraft und einem Menschenpotential, mit dem jeder Gegner rechnen mußte. Eine neue Welt mit neuen Zielen, neuen Maßstäben braucht neue Ideen, neue Strategien, neue Persönlichkeiten!“

Edda blickt auf – fragend, sie schien überfordert angesichts dieser Philosophie zwischen Tod und Leben! Wir diskutierten bis spät in die Nacht: Freiheit und Autorität, der „Anti-Macchiavell“, Anarchie gegen staatliche Autorität. 
Ich bat Edda, in den nächsten Tagen ein Arbeitspapier in Thesenform zusammenzustellen, welche Materialien aus unserem Konvolut Aufschluß geben über die komplizierte Periode in Löfflers Leben zwischen dem Tod Friedrichs II. und seiner erzwungenen, endgültigen Abreise nach Gotha.
Zwei Tage später – Ein Blick über Eddas Schulter: „Im Sommer 1786 war der preußische König Friedrich II. gestorben, eine grundsätzliche Wende im „Regime des Geistlichen“, in der Bildungs-, Kultur- und Religionspolitik lag in der Luft, vorbereitet durch erzkonservative Kräfte, gruppiert um den Kronprinzen Friedrich Wilhelm und den „hinterlistigen und intriganten Pfaffen“ ( wörtlich: König Friedrich II.) Johann Christoph Wöllner, um mythologische Sekten und Organisationen mit eindeutig irrationaler, illuministischer Zielrichtung, aufklärungsfeindlicher Tendenz.

Sie hatten sich eingeschossen auf den zuständigen Minister von Zedlitz, den Staatssekretär Biester, die Professoren der Aufklärung an den preußischen Universitäten Halle an der Saale und Frankfurt an der Oder, u.a. auf Löffler, Semler, die Kirchenpolitiker wie Spaldung, Silberschlag, Schriftsteller und Verleger wie Nicolai, Frommann usw. usf. Spärlich sind die Quellen, die Auskunft geben über die politischen Gegner Löfflers an der Frankfurter Universität und der Marienkirche (offen oder versteckt), denen nach dem Tod des Königs alle Mittel zur Ausschaltung und Vertreibung Josias Löfflers recht waren. Christian Wilhelm Spieker deutet in verschlüsselter Sprache in seiner gedruckten ausführlichen Darstellung der Geschichte der Marienkirche die Widerstände an: „Auch zeigte sich damals schon die Aussicht in einiger Entfernung, daß die Freiheit in dem Vortrage der christlichen Lehre bald eine sehr lästige Beschränkung leiden werde.“ (Ausgabe 1835, Seite 380) Wenn er Namen nennt, dann hinter einem Schleier von „Objektivität“ : die Oberkonsistorialräte Hermes und Hilmer, der Archdiakon From, die mit offiziellen „Revisionen“ der Lage an den Kirchen und Schulen beauftragt wurden. Spieker umschreibt Professor Froms politische, anti-aufklärerische Ansichten mit den Worten „ein Mann von schönen Kenntnissen und lebhafter Gemüthsart, der kirchlichen Orthodoxie mit großer Strenge zugethan“ !

Nach dem Todes des Königs war es an Zedlitz, letzte Vorstellungen Friedrichs II. noch umzusetzen: ganz ober auf der Liste z.B. die Berufung Löfflers in Franfurt aus einen ordentlichen Lehrstuhl, so geschehen im Herbst 1787:

und die entscheidende Unterschrift des Ministers:“Auf Seiner Königl. Majestät allergnädigsten Special Befehl“ !

S.2

S. 3

Lage 1786-88

S.2

Im Frühjahr 1788 sind die Voraussetzungen geschaffen, daß Josias Löffler eine seiner Qualifikation entsprechende Stelle im Herzogtum Gotha antreten kann – Minister Zedlitz – noch im Amt in Berlin – verfaßt das notwendige Schreiben einer „Dismission“ des Inspektors und ersten Predigers an der „Oberkirche“ St. Marien aus dem preußischen Amtsverhältnis mit dem ausdrücklichen Hinweis auf das neue Amt im Herzogtum Gotha!

S.2 dismissio

Dann ist da eine Lücke in den Papieren. Die chronologisch folgenden Schreiben und Notizen Löfflers sind thematisch um die Reise von Frankfurt nach Gotha, die Ankunft in der herzoglichen Residenz und den Umzug der Familie gruppiert.

Oranienbaum

Auch unter diese, von Josias Löffler selbst verfaßten Notizen in Tagebuchform, meistens auch datiert, hatte Edda zwei gefunden,die vermutlich deshalb in dieses Paket von vertraulichen Dokumenten gelangt waren, weil sie sich mit der nicht für die Öffentlichkeit gedachten Charakteristik des Herzogs selbst beschäftigt hatten – eines verfaßt während der Reise von Frankfurt nach Gotha im Herbst 1788, das andere – eine Art Selbstverständigung- nach den ersten Monaten der Tätigkeit in Gotha, datiert vom 17. Mai 1789.

Herzog von Sachsen-Gotha, Ernst II.

Edda legt neben die Kopie des Gemäldes des Herzogs aus den Jugendjahren das eng beschriebene Blatt – von Josias betitelt: „der Fürst“. Sie liest die wichtigsten Passagen laut und langsam, damit ich Gelegenheit zum Vertiefen in den philosophischen Stoff habe: „Er ist nur wenige Jahre älter als ich, hatte eine vorzügliche Ausbildung bei den besten Lehrern des sächsischen Raumes, beherrscht excellent die höfischen Formen und respektiert die Persönlichkeit jedes Gesprächspartners auch bei unterschiedlichen, selbst bei gegensätzlichen points de vue. Schon die ersten Minuten in Oranienbaum verrieten die künftige würkliche Vertraulichkeit zwischen Fürst und geistlichem Rathgeber. Er erinnerte sofort an Zedlitz! Schon damals sagte er – wir kannten uns erst wenige Stunden – Wer weiß, wann Sie uns wieder so nahe sind, und flüchtig ist das Leben, man muß jeden Augenblick nutzen!
Ausnahmsweise hat Josas sich an dieser Stelle um eine saubere Handschrift bemüht -deshalb kann ich diese Zeilen in copia präsentieren:

Ich bin heute noch davon überzeugt, daß uns der Herrgott in seiner Weisheit mit dieser Zusammenkunft auf halbem Wege zwischen Frankfurt und Gotha im anhaltinischen Oranienbaum einen Fingerzeig seiner allumfassenden Vorsehung geben wollte – dem mächtigen Herzog aus altem, traditionsreichen Hause und mir, dem nur im Geistigen schwebenden, aber mit Gottes Wort ausgestatteten Prediger und damit Übersetzer des göttlichen Willens. Meine Umwelt redet mir ein, es sei der übliche Zufall, der einem auf Reisen entgegentritt – mein bisherigerLebenslauf aber beweist doch, daß die Vorsehung nur den unvorbereitet, also „zufällig“, trifft, der sich nicht strebend bemüht, der sich passiv der Anforderungen der Welt unterwirft und wenig Anstrengungen unternimmt, durch harte Arbeit, durch wissenschaftliche Neugier, durch actives Zugehen auf den Anderen, Gottes Planungen zu verstehen.
Oranienbaum war das Symbol einer künftigen kraftvollen cooperation eines Fürsten mit seinem obersten spirituellen Rathgeber! Das haben wir in unseren Landen noch nicht gesehen! Der Beginn ist voller Verheißung – ich schätze mich glücklich, daran teilzuhaben!“

Ich unterbreche Edda in ihrem Pathos – nun brauche ich innere Ruhe, unseren Josias in seinem neuen Umfeld zu verstehen: Gotha ist nicht das heimatliche Saalfeld, damals nicht und auch nicht heute!

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 16

Das paßt sehr gut in unsere chronologische Abfolge – Edda ist glücklich ! Ein singuläres Briefchen von unserem Josias Löffler an einen Freund im Herzogtum Gotha, datiert mit dem 8. September 1786, einem Freitag. Adressat ist ein gewisser Gotter, Friedrich Wilhelm, Schreiberling und Theatermann am Hofe. -Bester Chef, bevor ich die Details verliere, können wir uns mit diesem Text beschäftigen? Hier habe ich schon mal ein Porträt des Gothaischen Intellektuellen, nicht zu verwechseln mit dem berüchtigten Weiberhelden aus Schloß Molsdorf, den jeder Mensch mit höherer Bildung in Thüringen kennt.

Nun also der philosophische Text des Frankfurters an den Gothaer:
„Frankfurth, 8ter Sept. 86

Lieber getreuer Freund,
zum zweyten Mahl nun nach so kurzer Zeit sitze ich traurig am Tisch und versuche mich an einer Gedenkpredigt für einen der Großen unter Gottes Himmel. Vor einem Jahr für den Braunschweiger Prinzen, heute nun für den großen Friedrich, seinen Onkel. Wie ich aus einem Ihrer letzten Schreiben weiß sind Sie mit vielen Vorgängen der hohen Politik als Geheimsecretair des Herzogs im Gothaischen Archiv vertraut, daher verstehen Sie meine Lage – eine Wanderung am Abgrund, eine falsche Zeile in der Predigt, ein offenes Wort dort wo nur eine Anspielung es getan hätte – und ich kann in Unehren nach Saalfeld zurückkehren ! In ähnlicher Lage – sollten wir uns beide zur äußersten Vorsicht mahnen!
Die Klippe im Vorjahr konnte ich erfolgreich meistern, den Prinzen, Aufklärer, Lessing-Förderer Leopold so von der Kanzel zu würdigen, wie es einem Generalsuperintendenen ansteht – als Mann des Königs in der Kirche, als Mann der Kirche vor des Königs Regiment! Allen recht gedient ! Der König war zufrieden! Heute nun soll ich die rechten Worte finden für unseren großen Förderer, den König selbst.
Konnte ich zu Ehren des Braunschweigers, des jüngeren Bruders der klugen und sanften Weimaranerin Anna Amalia noch den Schmerz über das Dahinscheiden des jungen Prinzen in den Mittelpunkt stellen, muß ich jetzt über das Herrschen, über Krieg und Frieden, über Härte und Sanftmut, über die philosophische Größe des einsamen Mannes in Potsdam reden. Vor mir liegt der Scherenschnitt Ihres Kopfes, den Sie mir vor Jahren beigelegt haben – bitte helfen Sie mir aus der Ferne !


Was soll werden ? Die Männer mit den Schaufeln und Piquen stehen bereit – in die schon gegrabenen Löcher nicht nur den Körper des großen Strategen, sondern mit ihm die Bücher, die Ideen, die Pläne, die Mitstreiter hineinzulegen, die Preußen und gantz Deutschland eine bessere Zukunft verheißen sollen. Die Wö…s, die Rosen…r, werden ihre Listen sorgfältig verfolgen, keinen von uns auslassen! Was ist Ihr Herzog der thüringischen Wälder werth? Sollten wir auf ihn rechnen oder ist er ein Anpasser, der nur an sein Privates denkt, an seine Sternentafeln, sein Theater, sein Auskommen mit Weimar und den anderen Residenzen zwischen Saale und Werra? Man kann nur hoffen!
Ich bin bereit für Offerten aus Hamburg, Göttingen, weniger aus Weimar, da möchte ich nicht gegen Herder antreten.
Der Predigttext ruft – nichts von unseren Sorgen kann ich aufschreiben. Aber verschlüsselt den Unsrigen Hoffnung geben: „So grenzenlos der Verlust und so gerecht der Schmerz ist, den wir ihm weihen; so würden wir doch großes Unrecht haben, wenn wir bey der Feyer seines Gedächtnisses, diese Empfindung die allein herrschende in unserer Seele seyn ließen … uns ist es vielmehr Pflicht, unser Gemüth zu diesem höchsten Gebieter der Welt zu erheben, uns in dem heiligen, unveränderlichen Rathe seiner Weisheit zu beruhigen … So wird sich dese Feyer zwischen Wehmuth und Dankbarkeit – den natürlichsten Gefühlen bey dem Verluste eines geliebten Regenten, theilen, und endlich in die lebhafteste Aufforderung zum freudigsten Vertrauen auf Gott übergehen.“

Ach lieber Freund, wie schwer fällt es mir, die Sorge des Verblichenen um den Letzten seiner Unterthanen in einer solchen Rede verständlich auszudrücken. Die bisherigen Worte finde ich ungenügend, da sollte ich noch mehr Schöpferkraft hineinlegen:

„Und so hinterlässt er, dieser bewunderte Regent, sein Reich, Größer und blühender an Künsten und Wissenschaften und reicher an Menschen und Wohlstand, als er es empfieng. Mit dieser unermüdeten Geschäftigkeit, Jedem Mangel seines Landes abzuhelfen, Jede Klasse seiner Untertanen zu unterstützen, vereinigte er zugleich den Wunsch nach der weisesten Gesetzgebung und die strengste Gerechtigkeitsliebe. Er selbst unterwarf sich dem heiligen Spruch der Gesetze. Seinem Throne durfte sich jeder nähern, und fand umso eher Gehör, Je geringer und ohnmächtiger und je ausgesetzter er der Bedrückung schien. Das Recht des Bettlers war ihm nach seinem eigenen Ausspruch so heilig als das Recht des Fürsten. Einmal schon hatte er die Gesetze verbessert. Aber nicht zufrieden mit einem Grade der Vollkommenheit. Solange noch ein höherer zu erreichen war, Strebte er auch nach diesem Punkt über diesen großen, noch unvollendeten Versuche, der ein ewiges Denkmal der Güte seiner Absicht bleiben wird, übereilte ihn der Tod. Und so folgt ihm, diesem bewunderten Regenten, gewiss auch der Ruhm des Weisen, des Gerechten.

Aus eben dieser Gerechtigkeitsliebe, Verbunden mit dem erleuchtetesten Verstande und mit tiefer Kenntnis des Menschen und der Verirrungen seines Geistes hatte sich in seiner Seele ferner ein Grundsatz gebildet, Dessen genaue Befolgung Ihn nach meiner Einsicht zum Lehrer der Könige auf alle Zeiten erhebt. Wer denkt hierbei nicht sogleich an seine Duldsamkeit in Ansehung der Religion und seine gleiche Gerechtigkeit gegen alle Glaubensgenossen. Überzeugt, daß Menschen, die mit den ungleichsten Fähigkeiten gebohren, unter den verschiedensten Umständen erzogen von ebenso verschiedenen Lehrern unterrichtet und mehr oder weniger zum eigenen Nachdenken angeführt werden, Unmöglich eines Glaubens und einer Religion sein können, suchte er keine Übereinstimmung zu erzwingen, Sondern ehrte als eine Einrichtung Gottes diese Verschiedenheit in der menschlichen Denkart, die er nicht aufheben, sondern nur unschädlich leiten sollte. So verschieden auch die Überzeugungen seines erhabenen Geistes von den Überzeugungen der Menge sein mochten, so geneigt war er, Redlichkeit und Tugend unter allen Glaubensgenossen zu schätzen.
Keiner Parthey und keinem äußerlichen Bekenntnisse ergeben, Diente er dem Ewigen in der ehrfurchtsvollen Demuth durch gute Gesinnung und durch die heiligste Erfüllung seines Berufes. Fern von jeder Art des Gewissenszwanges, dessen schreckliche Wirkungen Er aus der Geschichte kannte, Übte und duldete er keine Bedrückung. Und so war er, dieser bewunderte Regent, ein Weiser unter den Königen, der dem menschlichen Geiste keine Fesseln anlegte und der Gewissen schonte.“

Einer Ihrer Ahnen war im herzoglichen Gotha wie ich heute in der Vertrauensstellung eines Generalsuperintendenten – holen Sie an seinem Grabstein mir im Geiste Rath, wie ich die Trauer um meinen großen König in Worte fasse, senden Sie eine Brieftaube !
Die Eingangssätze der Gedächtnispredigt aber stehen schon auf dem Papier: „Herr! Allmächtiger Gott! Weiser Regierer der Welt und der Schicksale der Völker! Mit verwundetem Herzen erscheinen wir heute vor dir, um den großen König zu beweinen, durch den du uns so lange wohlgethan hast!
Unempfindlich wäre unser Herz, wenn sein Tod uns nicht rührte; wenn wir bey dem Gedanken, daß Er nicht mehr ist – nicht mir thränenvollen Augen zu dir hinaufblickten. „

Lieber bester Freund, sehnsüchtig blicke ich vom kühlen Ufer der Oder zu Ihnen in den heimatlichen Bergen, den Hügeln und Thälern. Ohne aufdringlich zu scheinen, wäre eine Kundschaft über die Meinung Ihres Fürsten zu meiner Person in irgendeiner Position- nicht unbedeutenden, nicht unwirksamen für unsre Sache auf dem Friedenstein für meinen jetzigen Befindungsproceß doch sehr hilfreich!
Übrigens – wie geht es unseren französischen Freunden im selbstgewählten Exil in Friedrichroda?“

Verschieben wir dieses Thema auf die nächste Folge !

Dr. Dieter Weigert 25. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 15

Die trockene Bücherweisheit der Kleistologen behauptet – gegründet auf zehn Prozent sicheres Wissen, 90 Prozent Halbwahrheiten, Spekulationen, Hypothesen und tiefe Blicke in die Glaskugel – daß es in Frankfurt an der Oder einen gewissen C. E. Martini gegeben habe, dessen nachweisbare Existenz sich auf einige wenige Druckzeilen zusammenfassen ließe: Martini, Christian Ernst (1762 bis 1833), Theologe, später Rektor der Frankfurter Bürgerschule, Kleists Hauslehrer, mit der Familie bis zu seinem Tode befreundet. 47ı, 804. – Brief Nr. 3.
ERGO: Nach Immanuel Kant war dessen Daseinszweck nur Empfänger eines Briefes zu sein, mit dessen Inhalt sich nun Dutzende Lehrstuhlinhaber und Tausende Studenten in aller Welt online und offline zu beschäftigen haben !

Ich aber, Stadtarchivar von Saalfeld im Thüringischen, Arbeitsplatz unterm Schloßdach, plage mich gemeinsam mit temporär ausgeliehener Kollegin Edda an der Durchsicht eines vor Monaten freigelegten Konvoluts historischer Papiere aus dem – wie wir vermuten – privat-geheimen – Nachlaß des Theologen und Kirchenpolitikers Josias Löffler, des „großen Sohnes unserer Stadt“ (Originalzitat Landrat).

Ehrung für Josias Löffler in Gotha (Thüringen)

Als Nicht-Kantianer bemühen wir uns um „WISSENSCHAFTLICHE SUBJEKTIVITÄT“ (Originalzitat. ICH) bei der Einordnung der jeweiligen historischen Person, ergo ihn oder sie zu nehmen als handelnden Menschen mit sehr individuellen Charakterzügen, Wertvorstellungen, Lebenszielen, Liebschaften, nicht jedoch nur als Fußnote im Lebens-Ablauf einer germanistischen Größe wie Kleist, Schiller, Goethe etc. pp.
Edda und ich nehmen es gelassen, wenn uns die Kleistologen an ihren Stammtischen oder online-Zirkeln für „nicht-standes-gemäß“, für „nichtsatisfaktionsfähig“ erklären (meine Herren: IHRE EHRE ist nicht MEINE EHRE !). Erst recht lachen wir angesichts Ihrer Einteilung der Menschen in die Gruppe der Rechtschaffenen (d.h. denen das Recht zugesteht, eine druckbare Biographie – Leben und Werk- des Heinrich von Kleist auf grund ihrer akademischen Würden der Welt zu Füßen zu legen) und – von ihnen abgehoben – die Gruppe der Rechtlosen, (denen man zwar die Chance einräumt, jene Publikationen lesen zu dürfen, denen aber das Recht der Mitsprache versagt bleiben muß).

NACHDEM DAS NUN MAL GESAGT WERDEN MUSSTE; GEHT ES ZUR SACHE:
Funde erster Ordnung im Konvolut: Brief jenes historischen Subjektes Christian Ernst Martini an Löffler vom November 1815 sowie drei Papiere politischen Inhalts, ohne Adressat, aber datiert zwischen 1814 und 1816. Edda könne sich ja mal dran setzen, den Brief einordnen, die Papiere analysieren auch den Martini als Person bei der Gelegenheit einordnen.

Nach drei Tagen sehe ich – Es ist soweit, sie kann ihren Bericht abliefern! Eddas Original- „Narrativ“: – Ich beginne mit dem persönlichen Brief Martinis an Josias Löffler. Der Brief ist die Anwort Martinis auf ein – vermutlich sehr ausführliches – Schreiben Löfflers an Martini in Frankfurt vom Oktober 1815. Zum Verständnis meiner „Expertise“ der Original-Brieftext jenes Martini, wobei ich darauf hinweise, daß Martini, der nur wenig jünger ist als Löffler, das vertrauliche DU in der Anrede verwendet, ein Zeichen der engen Verbundenheit! und hier auch die Kopie einer Seite der Handschrift Martinis :

„Lieber verehrter Freund, hochgeschätzter Professor und excellenter herzoglicher Superintendent !

Vom Strand des Oderflußes die herzlichsten Grüße von einem Deiner treuesten Schüler! Tiefste Dankbarkeit für das Schreiben vom letzten Monat, das mich aus der Apathie herausriß, einer tiefen Bedrückung hervorgerufen durch die bösen militairischen und politischen Ereignisse dieses Jahres in Europa. Ich danke Dir für das schöne Mahnmahl daß Du meinem Sohne gesetzt hast. – So wurde der große Tyrann gestürzt. Aber die kleinen Tyrannen die in Deutschland herrschen, werden nicht gestürzt werden. Ein bloßer Nahme ist Teutschlands Einheit. Umsonst ist mein Wilhelm gefallen. –
Die sämtlichen Könige Teutschlands müßten … was sie damit Napoleons Generalen
Ueberall müßten republikanische Verfassungen eingesetzt werden. Entgegen aller Schreibereyen der bezahlten Lakaien in den Residenzen der alten Welt von Rußland bis England sahen wir doch in Bonaparte und seinem frischen System einen Aufbruch, eine Beybehaltung der meisten Innovationen der Jacobiner, wenn auch verschleiert durch den Dunst einer Kaiserkrone. Das soll nun alles vorbey sein ? Die tanzenden Herren von Wien trampeln auf unseren Körpern. Es ist zum Verzagen! Ich gehe viel in die Natur – hier die Skizze eines Freundes !

Auch die Unterrichtung der Schüler läßt keinen Ausweg erkennen – Preußen will Soldaten, keine hellen Köpfe ! Wofür haben die Studenten ihr junges Leben in die Schlachten geworfen ? Wofür ist mein Wilhelm in Hessen gefallen? Auch Schüler von mir sind unter den Todten von Leipzig und Torgau ! Entsetzlich !!! Es bleibt nur das Private – und die Erinnerung an Dich, den immer lächelnden Professor der Heilslehren des Neuen Testaments. Weißt Du noch, wie Du mich einmal „Martin Römisch Zwei“ genannt hast? Römisch Eins war natürlich der Bruder Martin von Wittenberg. Ich fühlte mich geehrt und tath mein bestes deinen Anforderungen gerecht zu werden. Heute kann ich dein Wissen meinen Schülern weitergeben, dinen geschichtlichen Blick auch auf die Helige Schrift, vor allem auf das NT, auf jene große Frau des Altertums, die wir Maria Magdalena, unsere französischen Schwestern und Brüder Madeleine nennen. Ist es Dir schon einmal wie mir in Berlin beim Besuche eines guten Freundes begegnet, daß ein französischer Offizier, den mein Freund eingeladen hatte, aus seiner Kartentasche das Bild jener Madeleine zauberte? Er trug (oder vielleicht lebt er noch und trägt es heute noch mit sich herum) nicht das Bild der Muttergottes, sondern das Konterfey der Heiligen Madeleine am Herzen. So sind die Franzosen !

Ich muß gestehen Chef, mir kamen die Tränen. Ich glaube, wir können an dieser Stelle unsere nüchterne, aber von Sympathie und Hochachtung getragene Einschätzung dieses Briefes unterbrechen. Vielleicht morgen mehr davon.

Die drei beiliegenden nicht-privaten Papiere sind in einer sachlichen, nüchternen Sprache verfaßt, standardisiert, unterschrieben von einem „CASIMIR“ und datiert – zwischen 1807 und 1810. Auffällig ist die vielfache Verwendung französischer Worte für wirtschaftliche und militärische Begriffe. Ich bin vielleicht keine Expertin für Geheimdiens-Berichte, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, daß unser Bruder Martini Analysen auf der Grundlage von Gesprächen und Beobachtungen in der Garnisonstadt Frankfurt angefertigt hat. Der Dienst, der ihm dafür ein gutes Honorar gezahlt haben könnte, wäre eventuelle der des französischen Kaisers gewesen.
Hier eine Seite aus einem der drei Berichte:

Dieser Bericht vom 27. März 1810 umfaßt 6 Blätter, beidseitig beschrieben, also wäre viel zu entnehmen durch den Empfänger. Heiße Ware sozusagen, ich vergeude unsere kostbare Zeit nicht mit Transkription, die Schrift ist super lesbar. Aber, bester Chef – wie kommt die Abschrift des Berichtes – und darum kann es sich ja nur handeln – in den Besitz unseres Josias ? Wenn Casimir-Martini für die Franzosen gearbeitet hat, bei seiner Sympathe für die Revolution und ihren Vollender Napoleon (aus seiner Sicht) durchaus vorstellbar, wieweit ging dann die Vertraulichkeit mit seinem Freund, den königlichen Professor und Generalsuperintendenten ? Das ist für mich eine offene Frage. Sympathien ja, aber aktives politisches Handeln? Ganz absurd wäre die Vorstellung, auch Josias hätte für die Franzosen gearbeitet – dann hätte er aber solche Berichte nicht in seinem Privatbesitz! Belassen wir es für heute dabei, vielleicht findet sich das eine oder andere Papierchen, was uns weiter helfen könnte.

Für manche war der Name Martini nur die Bezeichnung eines Punktes im Netz der Beziehungen des Dramatikers und Erzählers Kleist – ein Orientierungspunkt des Briefeschreibers, des Mannes, der erklärt weshalb er aus der Armee ausscheidet – dieser Martini in Frankfurt an der Oder führt kein Eigenleben, dieser Martini ist in den Augen der „Kleistologen“ nur Briefempfänger, er ist nicht aktiv, er hat keinen Einfluß auf das Werk des Dichters ! Wunderliche „Wissenschaftler “ !!!

Zu deren Erinnerung: Am 5. Febraur 1788 überreicht eine Gruppe von Sudenten, darunter Alexander und Wilhelm von Humboldt, Martini und Wegener ihrem geliebten Professor Löffler, „Gewidmet von Seinen Zuhoerern und Verehrern“, eine gebundene Mappe mit künstlerisch gestalteten Vignetten und den Unterschriften zum Abschied von der Universität Frankfurt an der Oder. Eine nochmalige Zeremonie in derselben Form findet am „18. des Herbstmonats 1788“ vor der Abreise Proifessor Löfflers nach Gotha statt, diemal auch u.a. mit den Unterschriften von Martini und Wegener, aber ohne die der Gebrüder Humboldt, die in der Sommerpause 1788 die Universität verlassen hatten.

Dr. Dieter Weigert 22. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 14

Der Morgen beginnt mit einer unbedeutenden Frage, deren Suche nach einer befriedigenden Antwort aber sich über drei Tage hinzieht. – Liebe Edda, Sie haben doch zwei Bemerkungen, zwar nicht zusammenhängend, auf den ersten Blick auch weit voneinander entfernt, mir in den letzten Wochen auf den Tisch gelegt. Beim Nachdenken und Schreibtisch-Aufräumen gestern abend fand ich die beiden Notizen, bemühte mich um getrennte Wege der Antwort, stieß aber durch Gehirnakrobatik auf eine bisher verschlossene Trenntür, deren goldenes Schlüsselchen wie von Gottes Hand heute morgen vor meiner Nase baumelte, eingraviert ein Name: Guilielmo! Diese Tür sollten wir heute gemeinsam öffnen und zwei getrennte Rätsel um die Frankfurter Periode der Person Josias Löffler in einer einzelnen Aktion lösen. Einverstanden ? Edda stand der Mund offen, sie verstand absolut nichts.

Ich las ihr die beiden kurzen Texte vor, die sie mir vor einiger Zeit communiziert hatte:
Erstens – War Josias Löffler wirklich der Verfasser der folgenden wissenschaftlichen Arbeit : „Marcionem Paulli epistolas et Lucae evangelium adulterasse dubitur. Diss. Auctore D. Iosia Frid. Christi. Loeffler, Traiecti ad Viadrum 1788” ?;
Zweitens – gibt es Belege für homo-erotische Abenteuer des Viadrina-Studenten Alexander von Humboldt im Jahr 1788 ?
Die Überraschung war Edda an der Nasenspitze ablesbar – wie weggeblasen waren diese Fragen aus ihrem Gedächtnis, schien es. Nun aber sollte sie aus dem Nichts mittun an der Lösung, die sich gruppiert um jenen fremdländischen Namen , Guilielmo? – Edda, ich sehe, daß du aus dem Stegreif die Zusammenhänge, die dich damals zu den beiden Fragen geführt haben, heute nicht mehr hervorholen kannst. Ich werde versuchen, meine inzwischen gefundenen Puzzle-Teile auf den Tisch zulegen – durch Hin- und Herschieben kommen wir gewiß der Sache nahe !
Da ist also jener lateinische Titel und die Hintergründe der detaillierten historischen Studien und Publikationen Professor Josias Löfflers zum Neuen Testament, zu den Widersprüchen in den Werken der Kirchenväter, zu den echten und falschen Evangelisten seit seiner Zeit in Halle an der Saale:

Edda kann ihre Blicke nicht von jenem Buch loßreisen – eigentlich mehr ein Büchlein, eingebunden in hellbraunes Leder, das ich in den Händen halte. – Haben Sie etwas dagegen, Edda, wenn wir uns diesem Büchlein in Gänze widmen? – Bester Chef, ein für allemal, Sie sollten mich durchgehend duzen, nicht nur dann und wann, sondern permanent!!! Aber wie ist es Ihnen gelungen, aus den heiligen Beständen unsrere Bibliotheken dieses Exemplar herauszuschmuggeln? Ich hatte weniger Glück! -Edda, du überschätzt meinen Einfluß! So etwas gelingt auch mir nicht in ganz Mitteldeutschland. Die Sache ist einfacher – irgendein vermutlicher finanziell in der Klemme sitzender oder an das Ende seiner irdischen Existenz angelangter Mensch bot das gute Stück bei ebay an, ich schlug zu – über die Summe möchte ich nicht sprechen. Es ist jetzt mein Eigentum !!! Als ich das Angebot entdeckte und im Titelblatt den Namen Löffler und die semantische Nähe zum Thema Ehebruch erkannte, war kein Halten. – Chef, wie kommen Sie auf Ehebruch? – Aber liebe Edda, habe ich versäumt auf meine jugendlichen Träume vom Medizinstudium und die Versuche in Latein hinzuweisen? Daraus ist nichts geworden, sonst säßen wir nicht hier. – Edda blickt verwirrt vom Text hoch – „Wie kommen Sie auf Ehebruch? Auch ich durfte mich vor Jahren am Latein versuchen, vielleicht eine andere Variante als die für angehende Mediziner! Ich muss Sie enttäuschen, das verlockende adulterare steht hier nicht für ehebrechen, sondern für fälschen! Das hat uns die damalige Latein-Lehrerin an lustigen Beispielen eingebleut – Ehebruch sei Betrug und im Wort für Fälschen stecke eben das Betrügen !! – Aber ich liege doch richtig, Edda, wenn ich den Begriff Zweifel entdecke – Aber ja doch, Chef, Ich würde versuchsweise so formulieren: Man bezweifelt daß ein gewisser Marcion die Paulus-Briefe und das Lukas-Evangelium gefälscht habe! – Damit kann ich nichts anfangen, beende ich die kurze Debatte – ich bitte dich jedoch, liebe Edda, angesichts der Brisanz des Textes für das Verständnis der theologischen Positionen Löfflers, daß du dir den gesamten Text vornimmst und eine Rohübersetzung anfertigst – reichen 3 Tage? Ich bin ungeduldig.“

Sie nickte und zog sich in einen stillen Winkel zurück – unterm Arm einen dicken Wälzer, das Latein-Wörterbuch für Theologen.

Pünktlich am Morgen des vierten Tages saß Edda vor mir, rote vielversprechende Ohren, leuchtende Augen, auf dem Stuhl vor Erregung hin- und herrutschend: „Es ist eine Sensation in jeder Hinsicht, Chef! Erstens war Löffler ein Typ, der zuließ, dass studentische Arbeiten unter seinem Namen veröffentlicht wurden! Und zweitens war der Verfasser der Texte ein intimer, möglicherweise schwuler Freund des großen Alexander von Humboldt, ein gewisser Wilhelm Gabriel Wegener. Und drittens liegt da im Buch ein Zettelchen, der belegt, dass sich unser Josias auch mit dem Schicksal meiner sündigen und büßenden Lieblingsheiligen Maria Magdalena beschäftigt hatte. So interessant es wäre, aber ich habe nicht vor, den gesamten Gehalt der Semesterarbeit des von Professor Löffler betreuten Studenten Wegener hier vorzutragen. Es gibt Wichtigeres zu bereden !

Der Student Alexander von Humboldt

Ich spüre fast körperlich, wie die Blitze zwischen meinen kleinen grauen Zellen hin- und hersausen – Edda, hatten wir nicht etwas über Maria Magdalena ? – Aber ja, im Zusammenhang mit der Periode Löfflers in der Residenz Berlin, sein Besuch bei Spalding ! Später könnte man das Thema noch einmal aufgreifen – wie auch die Personalia der Evangelisten, wie ich sie nenne: die „Persönlichen Sekretäre und Vollender“ – Markus und Lukas !

Und da sind die Hinweise bei verschiedenen Germanisten, Heimatforschern, „modernen“ Erotik-Analytikern zu den Männer-Freundschaften des Studenten, Wissenschaftlers und reisenden Naturforschers Alexander von Humboldt, darunter fiel auch der Name Wilhelm Gabriel Wegener aus Frankfurt an der Oder.
Hier ein technisch schlechtes Porträt, es war das einzige Exemplar, das ich auftreiben konnte:

Wilhelm Gabriel Wegener (10.3.1767-16.11.1837) erlebte wie sein älterer Bruder Georg Jacob Ludwig (1757-1840), sein jüngerer Bruder August Daniel (1769-1829), seine Schwestern Georgine Friederike (1754-1784), Dorethea Elisabeth (1759-1817), Sophie Elisabeth (*1763) und seine weiteren drei, früh verstorbenen Geschwister, die Kindheit in Hohenlübbichow in der Neumark (polnisch Lubiechów Górny) im Hause des Pfarrers Balthasar Friedrich Wegener (1731-1800) und dessen Gattin Georgine Marie Catharine, geb. Fröhlich (1728-1793).

Lubiechów Górny (Hohenlübbichow) heute

Wilhelm Gabriel wurde teils vom Vater, teils von Hauslehrern unterrichtet. Die Pfarrer-Perspektive war vorbestimmt! Ab Oktober 1782 besuchte er dann das Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Drei Jahre später folgte ihm Bruder August Daniel dorthin nach. Beide wohnten beim ältesten der Brüder G.J. Ludwig, der seit 1782 das Amt des Feldpredigers beim Berliner Regiment Gens d’armes innehatte, also Nachfolger des nach Frankfurt an der Oder übergesiedelten Josias Löffler war. lm Herbst 1785 bezog Wilhelm Gabriel die Universität Viadrina, studierte auf Wunsch des Vaters Theologie, sein bedeutendster akademischer Lehrer wurde Professor Josas Löffler. Unter seinen Studienfreunden der engste wurde, wie er in einer Selbstbiographie überliefert hatte, Alexander von Humboldt (1769-1859), mit dem er, wie in dessen Jugendbriefen zu lesen ist, am 13. Februar 1788 den heiligen Bund der Freundschaft schloss. Dieses besondere Kapitel verdient eine längere Darstellung: Beide Humboldt-Brüder wohnten zur Untermiete in Frankfurt im Hause des Professors und Pfarrers bei St. Marien, Josias Löffler, hatten als Adelige (niedere !) keinen besonderen Statur, waren voll integiert in das studentische Leben und in die gemeinschaftliche Lösung der wissenschaftlichen Aufgaben. Die Zeit war knapp und mußte effektiv genutzt werden, deshalb diskutierten die Humboldt-Brüder und der Student Wegener in den Monaten des Frankfurt-Aufenthalts unter Anleitung von Josias Löffler ein Thema, das dem auf ein Stipendium angewiesenen Pfarrerssohn Wilhelm Gabriel für eine dafür ausgesuchte Belegarbeit einschließlich in Latein geführter öffentlicher Disputation angepaßt war: Waren die Fremsprachen, in denen sich die Apostel verständigten, eine besondere Wundergabe oder nicht doch aus dem historiuschen Zusammenhang der damaligen Verhältnisse erklärbar – ohne Offenbarung! Die Arbeit war fast fertiggestellt, als in Berlin im Juli 1788 das berüchtigte Religions-Edict der konservatiben , Aufklärungsfeinde im Umkreis des neuen Königs Friedrich Wilhelm II. erschien und der Wissenschaft scharfe politische Grenzen setzte. Um das Stipendium nicht zu gefährden, mußte die Freunde das Thema wechseln – daher das Ausweichen auf die „ungefährliche“ Marcion-Kritik, auf die ich hier nicht in aller Breite eingehen kann. Wer möchte, kann in der Autobiographie von Wegener die Details nachlesen. Über die Komplikationen von Wilhelm Gabriels Studienabschluss erfahren wir Näheres aus einem mit vielen Abbildungen illustrierten „Familienbuch“, das von dem Vater des Naturforschers Alfred Wegener, Franz Richard Wegener (1843-1917 in seinen letzten Lebensjahren niedergeschrieben wurde: „Nach Absolvierung seines Studiums in Frankfurt verfaßte er eine theologische Dissertations-Schrift, die er am 17. September 1788 öffentlich verteidigte. Sie ist betitelt: ,Marcionem Paulli epistolas et Lucae evangelium adulterasse dubitatur‘ (Es wird bezweifelt, ob Marcion die Briefe des Paulus und das Lukas-Evangelium gefälscht habe). Wir können auf den Inhalt der Schrift, die in lateinischer Sprache verfaßt ist, nicht näher eingehen. In der theologischen Literatur findet man sie zuweilen als eine Löfflersches Schrift bezeichnet. Die Disputation fand unter dem Vorsitz von Johann Friedrich Christian Löffler statt.
Wie aus dem Archiv des Frommann-Verlages hervorgeht, gehörte der Student Wegener zu dem Freundeskreis, die dem scheidenden Professor Löffler im Februar und Oktober 1788 kunstvoll gestaltete mit allen Unterschriften (u.a. der Brüder Humboldt und des aus dem Kleist-Briefwechsel bekannten Christian Ernst Martini) versehenen Abschiedsmappen schenkten. Das ist der Hintergrund der außerordentlich engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Wilhelm „Guilielmo“ Gabriel Wegener und Alexander von Humboldt, deren Intimität auch aus den veröffentlichten Briefen herausgelesen werden kann – erstmals erschienen 1896 in Leipzig unter dem Titel „Jugendbriefe Alexander von Humboldts an Wilhelm Gabriel Wegener“, herausgegeben von Albert Leitzmann, der sich ausgiebig mit den Details der Lebensläufe beider Freunde beschäftigte und damals der neugierigen Leserschaft viele Novitäten bot. Für uns heute liegt die Überraschung dieser Brieftexte weniger in der Intimität der freundschaftlichen Beziehung, sondern im hohen wissenschaftlichen Standard – Griechisch und Latein vorausgesetzt !!!:

Wilhelm Gabriel Wegener wurde nach erfolgreich beendetem Studium 1789 Feldprediger beim Regiment Gens d’armes in Berlin (und somit der Amtsnachfolger seines Bruders G. J. Ludwig) sowie 1795 Superintendent und Oberpfarrer in Züllichau.
Die Humboldt-Episode hatte für Wegener ein politisches Nachspiel. Da Wilhelm Gabriel wie auch seine Brüder und mit ihnen alle preußischen Geistlichen freierer Denkungsart unter dem Woellnerschen Regime auch weiterhin mancherlei Schikanen und Drangsalierungen durch die Königl. Geistliche lmmediat-Examinations-Commission erfahren mussten, war es ihnen, eine besondere Genugtuung, sich eine Abschrift der Ordre des Königs Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) an den Minister Woellner vom 12. Januar 1798 zu verschaffen, die mit den Worten beginnt: „Die Deutung, welche Ihr meiner Ordre vom 23 Nov. v. J. in Eurem unterm 5 Dez. an die Consistoria erlassenen Reskripte gegeben habt, ist sehr willkürlich, indem in meiner Ordre nicht ein Wort vorhanden ist, welches nach gesunder Logic zur Einführung des Religions-Edikts hätte Anlaß geben können“, und in der es weiter heißt: „Ihr seht hieraus, wie gut es sein wird, wenn Ihr bei Euren Verordnungen künftig nicht ohne vorherige Beratschlagung mit den geschäftskundigen und wohlmeynenden Männern, an denen in Eurem Departement kein Mangel ist, zu Werke geht.“
Johann Christoph von Woellner (1732-1800) war 1788, zwei Jahre nach dem Tod von Friedrich ll. (dem Großen, „dem Alten Fritz“; 1712-1786), unter dessen Neffen Friedrich Wilhelm ll. („dem Dicken Wilhelm“; 1744-1797) zum Staats- und Justizminister und Leiter des geistlichen Departements in Preußen aufgestiegen. Dem Religionsedikt vom 9. Juli 1788, das dem Einfluss des Gedankenguts der Aufklärung Einhalt gebieten sollte, folgte am 19. Dezember 1788 das Zensuredikt. Woellner seinerseits war zugleich Mitglied des geheimen Ordens der „Gold- und Rosenkreuzer“.
Zwei Monate später wurde Woellner ohne Pension entlassen. Ein Gemälde, das Woellner im Ornat der Rosenkreuzer zeigt, ist in der Sammlung der Burg Beeskow zu sehen.

Eine Ergänzung zu diesen Darstellungen ist nötig: Verbunden mit der Berufung an die Oder-Universität Frankfurt war traditionell die Ernennung zum Prediger an die Hauptkirche der Stadt, St.Marien (auch als Oberkirche bezeichnet) durch den Magistrat der Stadt. Als Josias Löffler die Bestallungsurkunde zu dieser Stelle erhält, findet er nicht nur gute Bedingungen für die seelsorgerische Tätigkeit, interessante und ihm freundschaftliche gesonnene Kollegen vor, sondern auch eine reichlich ausgestattete wissenschaftliche Bibliothek vor mit einem Bestand von etwa 2400 Büchern, wie der Frankfurter ordentliche Professor für Geschichte und Rektor der Viadrina, Carl Renatus Hausen in seiner „Geschichte der Universität und Stadt Frankfurt an der Oder seit ihrer Stiftung und Erbauung, bis zum Schluß des achtzehnten Jahrhunderts, größtentheils nach Urkunden und Archiv-Nachrichten bearbeitet“ (2. Auflage, Frankfurt/Oder 1806, S.131) schreibt. Diese Bibliothek erfüllt die Rolle einer „Ministerial-Kirchen-Bibliothek“ für die anderen Frankfurter Kirchen, ist also einer der wichtigsten wissenschaftlichen Arbeitsplätze für die Geistlichen, Studenten, Lehrer, Offiziere und kulturell Interessierten der Stadt neben der seit 1516 bestehenden Bibliothek der Universität und anderen Privatbibliotheken.

Dr. Dieter Weigert 20. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 13

Zurück aus den Tiroler Bergen, den Spurwechsel aus den Langlauf-Loipen zwischen Innsbruck und dem Stubaital in die ausgefahrenen Bahnen meiner Dachkemenate mühsam gemeistert, wage ich kaum einen Blick auf das schmutzige Grau des Schlossparks unter meinem Dachfenster – kahl die Linden und Pappeln, die kreisrunde Blumenrabatte in der Mitte des Rasens noch zugedeckt mit Laub und Tannenzweigen. Aber das Eis auf dem See wird von Tag zu Tag dünner, das große Tauwetter kündigt sich an, kleine Pfützen zeigen sich schon tagsüber auf den Sandwegen. Winterschal und warme Mütze sind aber noch gefragt.

Ich bin allein. Edda feiert noch einige Tage Überstunden ab. Wie schaffe ich es ohne sie, die bleigraue Stimmung vor dem Fenster in eine schöpferische Atmosphäre in meinem warmen Stübchen zu verwandeln? Wo war ich vor der Abreise in die Berge hängen geblieben ?

Der Gotha-Besuch des nunmehr erwachsenen, dem Gamaschendienst der preußischen Armee entronnenen und schon als Schriftsteller bekannten Heinrich von Kleist ist abgehakt – aber dem geneigten Leser vorerst noch nicht zubereitet ! Wir stecken ja noch im Privaten des Professors Löffler fest.

Da liegt also jenes schwergewichtige Stück, bis gestern noch wohl verschnürt, heute nun geöffnet und aufgeteilt – das mit „privée“ beschriftete schon durchgesehen und in die von Edda verwaltete Abteilung einsortiert. Nun aber an die noch nicht geöffnete „Vauban“-Verschnürung. Warum die befremdliche Aufschrift „Stendal“ ? Was hatte Löffler zu verschleiern?
Obenauf im Stapel der Dokumente liegt ein ziemlich dicker Brief – ein Epistel der Ehefrau, Dorothea, geborene Silberschlag, an Josias. Scheint Familiäres, aber vielleicht erfolgversprechend, vielleicht eine Ergänzung zu den intimen Briefen, die wir gestern vor uns hatten, denn eine Kopie wird es wohl in anderen Archiven nicht geben! Damit also setze ich die Lektüre fort.
Der Posten sendet unterschiedliche Gerüche aus – strenge, aber auch damenhaft-anziehende. Ich klappe das Dachfenster weit auf, frische Maienluft strömt herein. Acht Uhr morgens sind nur wenige Menschen im Park, die Saale fließt träge, kaum Geräusche kommen herauf aus der Stadt. Irgendwie vermisse ich die übliche Motivation, nur nicht routinemäßig dort weitermachen, wo ich gestern erschöpft aufhörte.
Was in solchen Situationen hilft – den Posten nach Überraschungen durchforsten, einfach in die Mitte greifen, wie beim Rühren in der Lostrommel den Zufall spielen lassen. Ich verlasse mich auf meinen Geruchssinn, schließe die Augen, taste mit der linken Hand am unteren Rand des Stapels nach etwas Verlockendem – die ältesten Papiere strömen verführerische Düfte aus – da ist sie schon, die betörende Anziehungskraft eines alten Buchrückens, spürbar die Fäden der handwerklichen Bindung, die sich lösenden Krümel des vertrockneten Knochenleimes, den ich in der Tischlerwerkstatt im heißen flüssigen Zustand so sehr liebte. Ich öffne die Augen, ziehe mit aller Vorsicht das Buch heraus: ziemlich dick, über 600 Seiten, wie ich auf den ersten Blick sehe, der Ledereinband gut erhalten.

In der Mitte ein goldenes Wappen auf dem hellbraunen Untergrund. Das Wappen war mir in den letzten Monaten noch nicht untergekommen. Hoffentlich lohnt sich das Aufschlagen, vermutlich wieder eine theologische Streitschrift mit Dutzenden Anhängen. Das goldene Wappen mit Krone ist mir nicht bekannt, lässt auch keine Rückschlüsse auf den Verfasser zu, hat auch nichts Religiöses – keinen Himmelsschlüssel, keinen Kardinalshut, keinen Heiland am Kreuz und auch keine Maria. Das Äußere lässt vermuten, dass es nicht allzu oft benutzt worden war.

Ich mache Platz auf dem Tisch und öffne vorsichtig den Prachtband.

Nun trifft mich nicht gleich der Schlag, aber ich bin doch sprachlos: befremdet lese ich den Titel – „ANWEISUNG ZUR KRIEGES-BAU-KUNST worinnen die Beschaffenheit und Anlegung, wie auch der ANGRIFF und die VERTHEIDIGUNG der Festungen, Schantzen und Linien vermittelst 22 hierzu dienlicher Kupfer-Tafeln nach Theorie und Praxis abgehandelt wird“. Alles hatte ich erwartet, nur kein militärisches Handbuch. Auf dem Titelblatt keine Erwähnung eines Verfassers, aber die nächste Überraschung – „Zu finden im Buchladen der Real-Schule“. Ein Schulbuch also? Festungsbau für preußische Realschüler im Jahre 1757. Ich suche nach einem Autoren oder einem Herausgeber. Im umfangreichen „Vorbericht“ nur Namen von Offizieren, die sich wohlwollend über das Werk äußern und es auch für die Weiterbildung der jungen Offiziere und Fähnriche empfehlen. Auch am Ende nichts über einen Mann der Feder, aber den Hinweis „Berlin, gedruckt bey George Ludewig Winter“.

Ich will das Buch weg legen – da ist es wieder, das jedem Archivar bekanntes Rascheln, aus dem Buch löst sich eine Einlage und segelt zu Boden. Es ist ein verschlossener Umschlag, das Siegel gebrochen, der Umschlag aber wieder verklebt und zusätzlich mit einem Bindfaden verschnürt, an dem ein kleines Paket hängt, das ich vorerst beiseite lege. Auf der Vorderseite des Umschlags die sauber lesbare Aufschrift „Meiner lieben Tochter Dorothea, OCR J.E.S. – 9ter October 1786 – strict persönlich !“. Nun zahlt sich die monatelange gründliche Beschäftigung mit Namen und Biographien im Umfeld des Josias Löffler aus – ich verstehe sofort:  der Berliner lutherische Oberkonsistorialrat Johann Esaias Silberschlag schreibt seiner Tochter Dorothea, seit dem 9. November 1784 Ehefrau des Predigers und Professors Josias Löffler in Frankfurt an der Oder.

Der Inhalt muss sehr intim sein, nichts für fremde Augen, strict nur zwischen Vater und Tochter, wohl auch nicht gedacht für Mutter und Geschwister Dorotheas.

Plötzlich ist die professionelle Neugier wieder da – wie weggeblasen ist die Blockade, die mich beim Anblick der vergilbten Blätter heute Morgen befallen hatte. Vielleicht gibt das väterliche Schreiben Aufschluss über die Herkunft jenes für einen Theologen anscheinend sachfremden Wälzers oder zumindest einen Hinweis auf den oder die Autoren. Behutsam entnehme ich dem Umschlag die Blätter – zahlreicher als ich vermutet habe, beiderseitig eng beschrieben, gut lesbar, nummeriert und mit blauen Fäden geheftet. Kein Testament, keine notarielle Verfügung, kein Vertrag, nichts Finanzielles.

Schon die ersten Zeilen lassen mich jedoch an die Decke springen – nur im übertragenen Sinne: „Meine liebste Doro, du bist der eintzige Mensch, dem ich diesen Bericht, diese confessiones, anvertraue, nicht einmal mein König, der in jenen Jahren mein persönlicher Auftraggeber war, kennt diesen Text. Bitte verwahre das Schriftstück sorgsam, gerät es in die falschen Hände, hätte das schlimme Folgen für uns alle. Aber mein Gewissen vor Gott zwingt mich, diese weltliche Beichte aufzuschreiben:

Lange Jahre vor deinem Erscheinen auf dieser Welt, ich war ein junger Mann von 22 Jahren, im zweiten Jahr meines Studiums der Theologie, Philosophie und der Naturkunde im Kloster Bergen bei Magdeburg, ließ mich an einem September-Sonntag der von uns allen vielgeliebte Abt Steinmetz nach dem Gottesdienst am Mittag allein zu sich kommen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an diesen Augenblick, als ich mich in seinem Arbeitszimmer einem Mann in dunkler, bescheidener Kleidung gegenüber sah, der soeben einem ebenso bescheidenen Zweispänner entstiegen war und in sehr vertraulicher Art mir als der Marquis de Arnhem vorgestellt wurde – im Sonderauftrag Seiner Majestät, und dem ich – wie der Abt mit amtlicher Stimme mir mitteilte – von dieser Stunde an unterstellt war.

Der Abt verließ den Raum, ich war allein mit diesem geheimnisvollen Marquis. Er sprach vollendetes Französisch, setzte dessen Kenntnis bei mir voraus und erklärte ohne Umschweife, dass ich zum Packen meiner Habseligkeiten zwanzig Minuten habe, dann würde mich die Kutsche am Hintereingang des studentischen Wohngebäudes abholen. Weitere Dispositionen würde ich im Wagen durch ihn empfangen.

Ich war verwirrt, befolgte aber gut-preußisch diesem Befehl und erfuhr hinter den verhangenen Fenstern der Kutsche die Details der königlichen Planungen, die Majestät mir zugedacht hatte. Ich hatte keine Mühe, das Französisch meines neuen Herrn zu verstehen, verzog auch keine Miene bei den Eröffnungen, die der „Marquis im Sonderauftrag“ machte, denn ich hielt das Ganze für eine Verwechslung. Meine Person konnte wohl nicht gemeint sein mit jenen abenteuerlichen Missionen, die dem Jüngling in der Kutsche durch Seine Majestät zugedacht waren: Venedig, Turin, Paris und Umgebung … Ich glaubte immer noch zu träumen, als wir am Abend vor einem Pavillon in einem dunklen herrschaftlichen Park aus der Kutsche stiegen, in einen kleinen, gut eingerichteten Raum geführt wurden, wo ein ausgiebiges Souper uns erwartete. Livrierte Diener wiesen uns Plätze an, servierten Getränke und schienen Ausschau nach dem Hausherrn zu halten. Von außen kommende Geräusche verrieten es – er war im Anmarsch, der König – aber ohne Trommelwirbel, ohne Posaunen, ohne den schweren majestätischen Schritt und ohne Rufe der Offiziere. Der Diener öffnete die Flügeltür, ein junger Mann erschien leichten tänzerischen Gangs, schlank, in militärischer Kleidung, ohne Hut aber mit Perücke – nicht der dicke, schwere König, sondern der Kronprinz Friedrich!
Mit einer Handbewegung schickte er die ihn begleitenden Offiziere samt der Dienerschaft aus dem Raum, verschloss eigenhändig die Flügeltür und postierte den Marquis von innen dagegen. Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln – auch hier wieder in französischer Sprache – zog er ein Papier aus dem Ärmelumschlag, ließ es mich nach kurzem Überfliegen unterschreiben und offenbarte das Geheimnisvolle dieser Begegnung. „Er weiß, was er unterzeichnet hat“, wandte er sich an mich, ebenso in Französisch, „eine eidliche Versicherung, nichts von dieser Begegnung, den darauf folgenden Aufträgen für die Krone Preußens Dritten gegenüber bei Androhung des Verlustes des Lebens kund zu tun, Bericht zu erstatten nur der Majestät oder den von der Majestät schriftlich Beauftragten. Der Eid bindet bis zum letzten Atemzuge.“ 
Er wurde persönlicher: „Monsieur Louis de Périgaux, Romancier, so wird nun Sein nom de Plume oder nom der guerre unter Bedingungen der Discrétion sein, nur ein aus drei Personen bestehender kleiner Kreis verschwiegener Offiziere am preußischen Hofe kennt Seine wahre Identität – ich, der Chef des cabinét secret und der hier anwesende Marquis.  Wir haben uns Seine Herkunft, Seine excellenten Fähigkeiten, Seine Vorstellungen von der beruflichen Zukunft, Seine Liebe zur Geographie, zur Poesie und zu den fremden Sprachen, Seine Wünsche und Träume angesehen und sind überzeugt, dass trotz seiner Jugend Er der richtige Mann für uns ist. Erfülle Er das in Ihn gesetzte Vertrauen, dann wird Seine Zukunft auch hier in der königlichen Residenz strahlen. Monsieur le Marquis wird Ihm beim Souper meine Vorstellungen Seiner Tätigkeit der nächsten Jahre erläutern.
Nur so viel vorab – Sehe er seine künftigen Taten als bedeutsamen Beitrag zur Erreichung meines Lebensziels als Monarch – Vermeidung von Krieg durch Herstellung und Erhaltung einer ausgewogenen politischen und wirtschaftlichen Balance zwischen den europäischen Großmächten. Halte er mich nicht für einen jugendlichen Phantasten – wer ohne Vision, ohne Träume vor seine Untertanen tritt, sollte seine Krone ablegen!
Adieu et bonne chance, Monsieur de Périgaux!“ Friedrich verschwand lautlos, ließ mich in einem Zustand der Ratlosigkeit, der Verwirrtheit, aber auch der Neugier auf die kommenden Aufgaben zurück.

Liebste Doro, ich werde dich nicht mit finanziellen Details, mit den Communications-Vereinbarungen, mit den anfänglichen Unsicherheiten und auch nächtlichen Ängsten vor Unglücken oder Aufdecken der Geheimnisse und harten Strafen langweilen – es war ein Jahr, das ich mit allen Sinnen genossen habe, das mir ein Verständnis der Welt gegeben hat, der unterschiedlichen Lebensweisen, der Vielfalt der Herrschaftsformen und religiösen Vorstellungen und auch der Lebensweisen in den Familien und in dem ich die vorausschauende Weisheit des jungen Friedrich anerkennen und schätzen lernte.

Die eigenhändig geschriebene Instruction des Kronprinzen, mir vor der Abreise aus Rheinsberg, so hieß der Ort des Treffens, vom Marquis ausgehändigt mit dem Befehl, sie nach dem Einprägen des Textes zu verbrennen, lautete lapidar: „Monsieur de P. begibt sich per regulärer Post auf kürzestem Wege nach der Stadt Emmerich am Rhein. Eine Kontactperson meldet sich unter Verwendung der Parole „Balance“, übergiebt Ihm mehrere Pässe, Geld in unterschiedlichen Währungen und begleitet ihn auf der Bootsreise nach Holland zum Hafen von Rotterdam, von dort segelt er ohne Begleitung zum französischen Hafen von Nantes. Er bleibt dort zum Eingewöhnen einige Wochen, bevor er sich auf dem Landweg nach Paris begibt und im Viertel um die Kirche Saint-Sulpice Quartier nimmt. Nach mehrmonatiger Aufklärung des dortigen Priesterseminars reist er in Richtung Italien, erfüllt Aufgaben in Turin und verfügt sich zwei Monate später nach Venedig. Im Palazzo Dandolo wird Er als Marquis de Bellevue und der Parole „equilibre“ absteigen, wo Er nähere Instructionen erhält. Rückerwartet wird er in 1 Jahr in Rheinsberg beim Baron de la Motte Fouqué.“

Ich lege das Papier zur Seite, trete zum Fenster, habe Mühe meine Erregung zu beherrschen: es gab ihn also doch, den legendären Geheimdienst des Großen Friedrich, den er schon als Kronprinz aufgebaut hatte und dessen Existenz kein preußisches Archiv bisher bestätigen konnte! Nachweis von Schwarzen Kassen, Kurieren, chiffrierten Berichten – Fehlanzeige seit zwei Jahrhunderten !!!! Oder ist jemand dabei, mir etwas unterzuschieben? Warum sollte er?

Abgekühlten Kopfes entscheide ich für das Weiterlesen, aber für vorläufiges Schweigen. Die Sache ist heiß, meine Berufserfahrung wird mir jedoch helfen, dass ich mir nicht die Finger verbrenne.

Der Rest der kronprinzlichen Instruction: „Der Wert dieser Reise ist die Bekanntschaft mit nützlichen Personen in den fürstlichen Residenzen, das Verstehen des Handwerks der Diplomatie und der Machtausübung, Hinweise auf Personen, deren künftige Gewinnung für unsere sache möglich und nützlich erscheint.

Er vermeide jegliche offene Partheynahme in den inneren Kämpfen des Aufenthaltslandes, Er nehme keine Haltung ein für einen der Seiten bei Kriegshandlungen, Er zeige öffentlich nur Interesse für sein Privatgeschäft, für Spiel und Frauen und seine Recherchen als Romancier, Er studiere aber heimlich fleißig die Wirtschaftsberichte der Zeitungen und die Statistiken der Kriegsfinanzen, ohne daß Er sich durch Schriftliches verdächtig macht.

Sollte Er unglücklicherweise dem Verdacht ausgesetzt werden Spion zu sein, leugne Er consequent jegliche Beziehung zum preußischen Hof. Der Auftraggeber der Reise wird Mittel und Wege finden, Ihn unter Verwendung der Parole „Rheinsberg“ den nötigen Schutz zukommen zu lassen.“

Vater Silberschlag scheint nach fast fünfzig Jahren jedes Wort in seinem Gedächtnis eingebrannt zu haben, wie er überhaupt zu beneiden ist wegen der Art, wie er die Einzelheiten aus jener Jugendperiode hervorkramen kann:

„Viele Erinnerungen aus jenen ersten Jahren des Dienstes für unseren König, liebste Doro, sind leider verblaßt, durch andere Erlebnisse in den Hintergrund gedrängt, überlagert von späteren Ereignissen – aber niemals werde ich die Begebnisse jener Nacht im Oktober des Jahres 1738  in all ihren Einzelheiten vergessen.

Mit der Post hatte ich das Städtchen Emmerich erreicht, war von einem elegant gekleideten Mann empfangen worden, der sich als preußischer Zoll-Secretarius aus Cleve vorstellte und mich zu einem Gebäude in einem Park außerhalb des Ortes führte, einer Mischung von bescheidenem Landschloß und Gutshaus, in dem uns eine Dienerin verschiedene Sorten schmackhaften holländischen Käse, westfälischen Schinken, französischen Weißwein, Trauben aus der Pfalz und andere Leckereien servierte.
Ob ich den Namen der Gräfin Wartenberg schon einmal gehört habe, examinierte mich mein Begleiter und eröffnete damit den offiziellen Teil der Begegnung. Errötend und beschämt bekannte ich meine Unkenntnis, wollte sie burschikos durch eine lockere Bemerkung überspielen, als er mich zurechtwies und mir anhand von Details aus dem Leben jenes Mädchens Katharina aus Emmerich, späterer Gräfin von Wartenberg, Maitresse König Friedrich I., Gemahlin des preußischen Premierministers.

Ihr hatte dieses Landschlößchen vor über 25 Jahren gehört – eine mehrstündige Lektion in Geschichte, Philosophie und dynastischer Herrschaftskunde verpaßte mir der Secretarius, bis ich trunken vom guten Wein, vollgepumpt mit lockeren und frivolen Anekdoten aus der brandenburgisch-preußischen Residenz ins Himmelbett der Gräfin sank.

Am Morgen erwies sich die Dienerin auch bei der Zubereitung des nahrhaften Frühstück als Meisterin ihres Faches, der Secretarius stellte mir einen ostfriesischen Riesen namens Robert vor – graubärtig, wettergegerbtes Gesicht und kräftige Arme und Hände -, der ab sofort für das Boot und unser gemeinsames Schicksal verantwortlich sei. Er schlug einen Spaziergang vor, damit ich bei Tageslicht mir ein Bild von der Risiken, aber auch von der Schönheit einer Bootsfahrt auf dem niedern Rheinfluß machen könne, in der Ferne waren am anderen Ufer die holländischen Felder und Kuhweiden erkennbar, „wo der gute Käse wächst“!

Es war Neumond, also absolute Dunkelheit, als wir gegen Mitternacht unterhalb der Kirche ablegten, die preußische Zollstation passierten und langsam, geräuschlos etwa 300 Fuß uns von der Strömung treiben ließen.

Bootführer Robert hatte uns während des Tagesspaziergangs am Ufer außerhalb des Ortes die wichtigsten Verhaltensregeln beigebracht und strahlte nun Zuversicht aus, wenn auch der zunehmende Gegenwind aus Nordwest mich Landratte beunruhigte. Der Rhein wies an dieser Stelle, so hatte ich es der mitgeführten Karte entnommen, eine Breite von über zwölfhundert Fuß auf, im Schutz des hügeligen rechten Ufers konnten wir das Boot auf Kurs halten. Es schaukelte schon mächtig, die ersten Spritzer schlugen über die Bordwand, kleine Pfützen entstanden auf dem Boden, so daß mich Sorge um mein Reisegepäck beschlich, das ich unter der Bank am Heck verstaut hatte. Pässe und Geld waren zwar am Leib untergebracht, aber um die Bücher, Schreibzeug, Karten, Wäsche, die neuen Stiefel, Umhänge, Hüte wäre es doch schade, wenn sie der Rheinstrom verschlingen sollte. Ein Schatten tauchte am Ufer auf – „die Mühle von Höchelten, das letzte Gebäude auf preußischem Boden“ flüsterte uns der Bootsführer zu, „wir lassen uns noch eine Strecke treiben, etwa eine Stunde, bis der Strom enger wird und wir die Überfahrt zum anderen Ufer gefahrlos wagen können“.

Der Gegenwind wurde stärker, Regen setzte ein, peitschte uns in die Gesichter. Nach einer halben Stunde plötzlich fremde Geräusche vor uns in der Dunkelheit – Rufe auf Holländisch, Knirschen von aneinanderreibenden Bootswänden, Klirren von aufeinanderschlagendem Stahl wie Degen oder Speeren. Der Secretarius zog eine Pistole aus der Jacke, wurde aber vom Bootsführer zurückgehalten … „Der holländische Zoll im Kampf mit Schmugglern – wir ziehen uns ans Ufer zurück und warten ab“. Unser Ostfriese nahm‘s gelassen.

Plötzlich Stille, die holländischen Boote entfernten sich, nach einigen hundert Fuß steuerten wir auf die Strommitte zu, die Geschwindigkeit des treibenden Bootes nahm zu, aber unser Ostfriese beherrschte sein Handwerk und wir landeten glücklich am linken Rheinufer. Regen und Sturm ließen nach, der Secretarius zauberte aus einem einsamen, versteckten Bauernhaus zwei Pferde, die uns nach herzlicher Verabschiedung vom Ostfriesen nach Nijmwegen brachten.

Deiner Phantasie, liebe Doro, überlasse ich nun die Erlebnisse auf der Schiffsreise in mehreren Etappen aus Holland nach Nantes, angefüllt mit anstrengenden Lektionen und der Vermittlung praktischer Anweisungen durch den Secretarius, der sich als perfekter Kenner der französischen Lebensweise herausstellte. Wir trennten uns in Nantes, nicht bevor er mich mit Zufriedenheit über den weiteren Landweg nach Paris, den Plan der französischen Hauptstadt und die Kirchen und Friedhöfe, Theater, Schulen und Restaurants des Gebietes zwischen der Kathedrale Notre Dame und der Kirche Saint-Sulpice examiniert hatte. Der Secretarius riet mir zu einem Diener, das verlange der Status und die persönliche Sicherheit, den sollte ich mir aber erst zulegen, nachdem wir beide uns getrennt hatten.

Ich war nun auf mich allein gestellt, durfte keine Fehler begehen, mußte bescheiden auftreten, ohne knausrig zu erscheinen – ein kleiner elsässischer Marquis mit fast echtem Passport und sehr schlechten Deutsch-Kenntnissen, mit einem etwas ältlichen Diener aus Lothringen namens Guillaume – deine Phantasie ist mal wieder gefragt, liebstes Töchterlein

Nun also Paris – Die imposante, aber sehr enge Porte de Buci nahm mich auf. Der Pass ließ bei den Hütern der Stadtgrenzen keine Zweifel aufkommen, die gepflegten drei Rappen, die nur im Gänsemarsch zwischen den beiden Rundtürmen passieren konnten, und der Diener mit dem reichlichen Gepäck zeugten davon, daß ein junger Herr von Stand der Hauptstadt die Ehre eines längeren Aufenthalts erweist.

Eine Herberge im benachbarten Stadtteil Saint-Germain-des-Prés war nicht schwer zu finden, ein geräumiges, praktisch eingerichtetes Zimmer, Rue Garancière, in der ersten Etage für mich mit Blick auf die Kirche Saint-Sulpice, in der benachbarten Kammer war Guillaume untergebracht. Guillaume, den Diener, schickte ich sofort aus, auf dem Markt vor der Kirche die Pferde zu verkaufen, in der Stadt waren sie nicht von Nutzen und wer weiß, wann wir weiterreisen  würden. Der Hausbesitzer war ein betuchter Perückenmacher, dessen Kundschaft ihn mit dem neuesten Hofklatsch belieferte.

Die oder der Verfasser der Instruction wußten, daß dieser Stadtteil von Paris das Viertel der Freigeister mit akademischer Ausbildung und Hoffnung auf ein Amt in der Kirche oder bei Hofe war.  Tagelang umkreiste ich  Saint-Sulpice, ließ mir keine Messe, keine Taufe oder Hochzeitsfeier entgehen, um die besondere Atmosphäre dieser Gemeinde und ihrer Schulen mit allen Sinnen in meine Seele aufzunehmen. Besonders die Hochzeitskapelle, die sacristie des mariages, hatte es mir angetan – über dem kleinen Altartisch aus weißem Marmor nahm die gesamte Fläche ein über fünf Meter hohes, drei Meter breites Gemälde ein, das die Verkündigung der Jungfrau Maria darstellte („La salutation angélique“ sagte die Metallplakette auf dem Rahmen).

Nur von einem Platz in der letzten Bankreihe der Kapelle, unmittelbar neben der eisernen Gittertür, war ich in der Lage, die gesamte Schönheit des Ölbildes auf mich einwirken zu lassen: im Vordergrund rechts mit ausgestreckten, einladenden offenen Armen die auf einem abgestuften Podest knieende Jungfrau Maria – verklärtes Gesicht, halb geschlossene, nach unten gerichtete Augen, züchtig in blau und weiß gekleidete Figur, langes gelocktes blondes Haar. Dutzende weibliche Engel schweben aus den Wolken auf sie zu, auch ihre Körperformen voll in rot und gelb verhüllt, aber doch sinnlich und erregend – kein männliches Wesen präsentiert uns der Künstler, keinen Gottvater, keinen Herrn der Schöpfung, die Riesenfläche ein farbenfreudiger Hymnus an die Weiblichkeit! Ich entwickle ein Verständnis für die französische Art, sich von der gestrengen Gotik und auch von den formalen Regeln der Renaissance-Geometrie zu lösen: die Anbetung der Frau erfordert einen neuen Bildmittelpunkt – den Schooß der Jungfrau, den Maria durch die Öffnung ihrer Arme dem Bildbetrachter anbietet und auf den die betenden Hände der weiblichen Engelsfiguren aus allen Himmelsrichtungen zielen. Die innere Spannung des Gemäldes, das sinnliche Feuer, das mich zu verbrennen scheint, das mich immer wieder anzieht, so daß ich mehrere Tage lang die Kapelle aufsuche und mich hineinschleiche, auch wenn keine Trauung stattfindet – die Entschleierung des fraulichen Körpers, ist es das, was die Kunstwelt Barock nennt?

Am dritten Tage entdecke ich am Ende der Trauungszeremonie in der Bank vor mir einen jungen Mann, den ich hier schon gesehen hatte und der vermutlich auch durch das Altarbild gefesselt war. Schwarz gekleidet, vermutlich nur wenig Jahre älter als ich, die Attribute eines Abbés offen zeigend, ohne Bezug zu den zeremoniellen Abläufen in der Kapelle, blickte er unverwandt auf das Bild, ab und an zeichnete er esquisses in ein mitgebrachtes Heft – ließ aber auch seinen Blick dann und wann zu den Gewölben über uns und zu den schmalen hohen Fenstern mit ihren Glasmalereien schweifen – und entdeckte am Ende auch mich, nickte mir freundlich zu, denn er hatte mich als einen seelenverwandten „Dauerbesucher“ und Kunstliebhaber erkannt. Neugierig folgte ich ihm beim Verlassen der Kirche, wir stellten uns einander vor und er – der Ältere –  lud mich zum Essen in das nahegelegene „Anne de Bavière“ ein – du wirst es nicht glauben, so entstand schon in den ersten Tagen meines Paris-Aufenthalts eine für mich wertvolle Freundschaft, von deren Erinnerung ich heute noch participire. Mein neu gewonnerer Abbé-Freund riet mir zu einer nochmailgen Besichtigung von St. Sulpce, da könne er mir ein anderes Gemälde präsentieren – stärker vielleicht im Eindruck als das erste:

Er hatte recht – die Impression war stark.

Das Bild war nicht betitelt, aber meinAbbé meinte, es wurde von der Kirch-Gemeinde „Die Erscheinung des Erlösers vor der Heligen Maria Magdalena“ genannt und von den Frauen besonders verehrt, mit Blumenkränzen verehrt und nach den Messen mit Gesängen bedacht. Der „extra-ordinaire“ Wert des Gemäldes sei auch daran zu erkennen, daß Eingeweihte wie er durch einen geheimen Zugang über eine nur ihnen bekannte steinerne Treppe von der Nebenstraße zu der Kapelle gelangten, in der das Bild hängt – über das Geheimnisvolle in der Person der „Madeleine“ sollte man sich doch austauschen !

Mein neuer Vertrauter war von Adel: mit vollem Namen François Joachim de Pierre de Bernis, hatte die Jesuitenausbildung und das Priesterseminar von Saint-Sulpice vor Kurzem erfolgreich mit der Berufung zum Abbé abgeschlossen. Geboren im Todesjahr des Königs Louis le Grand – 1715 – war er nun schon 23 Jahre alt und harrte der Dinge – den Ruf in ein höheres Amt der Kirche. Da er sich aber mit den Autoritäten bei Hofe durch kritische Schriften und frivole Poesie verkracht hatte, ließ der Ruf auf sich warten. Sein Vorbild sei der ebenfalls durch die Bildungseinrichtungen von Saint-Sulpice geprägte Bischof Fenelon, was mich nicht überraschte, da ich mir in den Gesprächen mit dem Zoll-Secretarius die Lebensläufe der berühmten Absolventen des Priesterseminars und Collège Louis-le-Grand eingeprägt hatte.

Ohne die Verwunderung über diesen Zufall sichtbar werden zu lassen, lauschte ich den Liebeserklärungen des Abbé an jenen Mann der Kirche und der Poesie François Fénelon, dessen Dialoge über die Beredsamkeit, dessen Roman über Telemachos, des Sohnes des Odysseus und dessen bemerkenswerte Essais über das Kräftegleichgewicht in Europa ich schon im Kloster Berge auf Französisch lesen durfte – unbewußt eine guter Einstand in diese Reise.

Hier an dieser Stelle, liebstes Töchterlein, kann ich es mir nicht verkneifen, deinen Josias dafür zu loben, daß er schon in einer seiner ersten wissenschaftlichen Arbeiten, der Bearbeitung und Übertragung ins Deutsche des weithin debattierten „Versuch über den Platonismus der Kirchenväter – Le platonisme devoilé …“ des Matthieu Souverain, sich gründlich mit den französischen Theologen Pierre Daniel Huet, Jean le Clerc und Pierre Jurieu auseinandersetzt, deren Schriften in meinen damaligen Gesprächen mit dem Abbé tagsüber und nächtens nicht fehlen durften .

Theologisch träumte mein Abbé-Freund davon, ein zweiter Blaise Pascal zu werden, zu dessen Grabmal in der Kirche Saint-Etienne-du-Mont de Paris er mich an einem der ersten Tage unserer Bekanntschaft schleppte. Wie er selbst war Blaise ein frühreifes Kind, liebte die Naturwissenschaften, vor allem die Mathematik, strebte nach praktischen Anwendungen z.B. Rechenmaschinen, unterwarf sich aber – gläubig obwohl nicht übertrieben fromm – aus taktischen Gründen den Normen der Kirche. Pascals Vater hatte die außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten seines Sohnes früh erkannt und dessen Ausbildung selbst übernommen.

Wir tauschten gegenseitig Erlebnisse über die frühe Jugend aus, François interessierte sich sehr über das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen in “meiner Heimat“, dem Elsaß, ich war gebannt von seinen lebhaften Schilderungen über seine Familie, über seinen Vater und das Emporkommen seiner Brüder in der Hierarche der Kirche.

Beeindruckt war ich vom Leitspruch seines Vaters: „Lerne zu gehorchen, doch vergiß nicht, daß du nicht dazu geschaffen bist, irgend jemandes Knecht zu sein!“

Noch stärker war ich gefangen von den Proben seiner Dichtkunst, die er beim guten Burgunderwein zum Besten gab – er sitze gerade an einem längeren Gedicht unter dem beinahe ketzerischen Titel „La religion vengée“, der ersten Gesang habe er vor einigen Tagen vollendet – es wäre ihm eine Ehre, ihn mir zu widmen. Lächelnd vertraute er mir an, nicht nur in Paris sondern in ganz Frankreich den Ehrennamen eines LIBERTIN, eines Freigeistes anzustreben. Sein Vater wäre darüber nicht glücklich, aber im Visier habe er solche Bekanntschaften wie den europaweit anerkannten Diplomaten und Kardinal Melchior de Polignac, – um sich und hinter sich einen Schweif von Verwandten und Schmeichlern, die um ein Amt buhlten – manche darunter würden sich nicht am Ruf eines Freigeistes  stören, sondern eine frische Brise geistiger Erneuerung durchaus begrüßen. Ich wagte, ihn nach Wünschen oder auch schon bestehenden Plänen in Bezug auf höhere Kirchenämter zu fragen – er zögerte, verriet mir aber, daß er aus dem Umfeld seines Onkels gehört habe, daß man sich ihn als Domherrn von Brioude in der Auvergne mit etwas Einkommen, auch als Assistent des Bischofs von Clermont vorstellen könne, vorausgesetzt, er werde in nächster Zeit einen umfassenden wissenschaftlichen Essay zum Wirken des großen Sohnes der Auvergne, Blaise  Pascal, herausbringen.

Sein Traum aber wäre Lyon, wo eine Vakanz in der Kathedrale bevorstehe – verbunden mit dem bedeutenden klerikalen Ehrentitel eines Grafen von Lyon. Er nahm mir den feierlichen Schwur des absoluten Schweigens ab, wenn es soweit wäre, würde er mich mit Freude an die Brust drücken und alles in seiner Macht tun, mir auch derartige Dienste zu erweisen – die Gründung und Finanzierung eines Buchverlages.

Die Freundschaft ließ sich also gut an – plötzlich ein Schrecken: François fragte mich nach meinen Vorlieben für guten Elsässer Wein aus: diese Frage hatten wir bei der Vorbereitung nicht auf dem Lehrplan. Ich konnte mich mit dem Hinweis auf ein Gläschen Gewürz-Traminer fürs erste herausreden, hatte aber in den nächsten Tagen Mühe, in Paris in den Boutiquen Proben der „heimatlichen“ Weine zu finden. Der Traminer sagte mir mehr zu als die jeglichen Aromas mangenden trockenen Weißweine wie die PINOTs oder Rießlinge, ich hütete mich aber meinerseits, unsere Gespräche in Richtung Wein oder Elsaß zu lenken. Den blumigen, würzig-pikanten Geschmack hatte ich lange nach meiner Rückkehr ins geliebte Preußen auf der Zunge, so daß ich mir mehrfach in Berlin eine Probe genehmigte und ihn später zum Wein der Familie erklärte – woran du mein Mädchen dich gewiß erinnerst. Die Weinberge zwischen Straßburg und Colmar habe ich – Jahrzehnte später aber wieder im Sonderauftrag meines Königs – besucht – tausend Genüsse, die ich jedem nur empfehlen kann – insbesondere jenes Traminer-Heimatdorf Equisheim bei Colmar. Über diesen Auftrag aber darf ich nichts sagen und nichts schreiben, denn das Geheim-Treffen damals in Colmar mit einer gewissen Person, der es inzwischen zum französischen Außenminister und Kardinal gebracht hatte, ist zu nahe an der Gegenwart, an der für Preußen siegreichen und für Frankreich schicksalhaften Bataille von Roßbach und  Du als denkende Person kannst 1+1 zusammenzählen und weißt, von wem ich rede.

Das Elsaß und die Traminer-Weinberge – Das wäre etwa für dich und Josias, wenn die Kinder etwas größer sind. Übrigens verriet mir unser geliebter Abt des Klosters Bergen, als er mich in die Residenz Berlin entließ, daß er oft ein Gläschen Elsässer Gewürztraminer nach dem Mittagessen zu sich nahm, „um die Verdauung anzuregen“.

(Es gibt auch eine zweite Erklärung zum TRICLINIUM – hat Esaias ein erotisches Erlebnis in Paris und hat er der Familie ein schönes Märchen aufgetischt mit Pesne etc.?)

Unwillkürlich erinnere ich mich während der Abende mit François an die Anekdoten, die mir der Zoll-Secretarius im Schlößchen von Emmerich über jene Katharina erzählt hatte, die den König von Preußen im Lotterbett durch Liebeskünste dazu brachte, ihren Ehemann zum Reichsgrafen von Wartenberg zu machen und schließlich zum preußischen Premierminister zu bestellen. Die Welt ist klein, die Wege zum Ruhm, zum großen Geld, zur Herrschaft sind überall die gleichen. Je besser ich François kennen lerne, desto mehr traue ich ihm zu, kluge, strategisch denkende Frauen in seine künftige Laufbahn einzuplanen. Aber das konnte ich beileibe nicht mit ihm bereden!

Die Tage und Wochen von Paris vergehen wie Nichts zwischen Besuchen von Kirchen, langen Abenden in den Salons der Damen von Stand mit ihrem Geplauder über die letzten Entwicklungen der Liaisons auf hoher und höchster Ebene, Ausflügen auf dem Land.

Ich lerne schnell: Hier im Umkreis der Pariser Kirche Saint-Sulpice wachsen sie heran, erhalten sie die nötige gediegene Bildung und das Herrschaftswissen, die künftigen Erzbischöfe und Kardinäle, Staatssecretaire am Hofe des Königs von Frankreich, die über Krieg und Frieden, Bündnisse und Gegenbündnisse entscheiden werden, über die Balancen und Gleichgewichte im europäischen Mächtespiel. Zum Studium dieser Regeln und künftig handelnden Personen hatte mich der Kronprinz hierher gesandt. Ich würde ihn nicht enttäuschen.

François wird zu meinem Exempel, an dem ich meine Lektionen abarbeite – ich leihe dem Abbé und Poeten Geld, kaufe ihm auch Manuskripte ab, u.a. eine Kopie des unveröffentlichten Poems „Die strafende Religion“, schenke ihm unter Vorwänden Geld und Schmuck, – mehrfach – nicht zum Spielen, sondern um schönen Frauen wertvolle Geschenke zu machen, um sich in die Kreise einladen, denen er später die geistlichen Ämter zu abkaufen wird und ihm eine Reise nach Turin zu ermöglichen, zu der er mich als Begleiter einlädt. Wir streifen über die Märkte, wühlen durch die Berge von Büchern, suchen nach kleinen Geschenken für den anderen, machen uns gegenseitig aufmerksam auf interessante Drucke, Schmuckstücke, Stadtpläne und Landkarten. Ein Händler unter einem Sonnendach am Ufer der Seine bietet Holzspielzeug, Münzen aus fremden Ländern und allerlei Lustbarkeiten an – auch Spielkarten, auf die mich François hinweist. Ich folge ihm in den letzten Winkel der Auslage und François greift nach einem Packen, um es mir zu schenken. Nach dem Bummel erklärt er mir bei Rotwein und gutem Käse, welche Bewandtnis es mit diesem Satz Spielkarten hat: es ist das bekannte LICORNE-JEU, das Einhorn-Spiel, das wir in Deutschland nicht kennen.

ZUNEIGUNG – gegenseitige Faszination – liebe zu historischen Karten z.B. Nicolas de Fer u.a. Casale auf dem Weg von Turin nach Venedig, die Karten sind Beilage des Berichts der Reise von 1738

In einer stillen Abendstunde hatte mir François die Beweggründe seiner Reise nach dem piemontesischen Turin ausführlich dargelegt: seit den Zeiten des großen Heinrich IV. sei die Region Piemont-Savoyen der Drehpunkt der europäischen Politik, dynastische Kriege und Heiratsvermittlungen wechselten einander ab; Bourbonen, österreichische und spanische Habsburger, Piemonteser und Savoyarden setzten alle legitimen und illegitimen Mittel, militärische und geheimdienstliche Instrumentarien ein, um sozusagen „aus den Wolken“, aus den Alpenresidenzen und Bergfestungen die Geschicke Europas mitzugestalten.

Wir reisten auf dem Landweg. Zu meiner Verblüffung ging es zunächst nach Norden,  die erste Nacht verbrachten wir in Amiens. Eine gelungene Überraschung – die Kathedrale erwies sich als geräumiger und sogar höher als die von Notre Dame von Paris. Staunend erfuhr ich, dass ein entfernter Verwandter von Francois hier Domherr war, er führte uns am nächsten Morgen drei Stunden in die Geheimnisse der Architektur und der politischen Geschichte dieses Schmuckstücks der Picardie ein. Mit Verschwörermiene geleitete er uns in ein sogfältig verschlossenes Zimmer hinter der Sakristei, öffnete eine auf den ersten Blick nicht sichtbare Tür in der Täfelung und legte einige Holztafeln mit farbenfreudigen Gemälden auf den Tisch. Mittelalterliche Themen, die strahlende Jungfrau Marie mit Jesuskind und sogar einem Einhorn, LA LICORNE, wie der Chanoine stolz erklärte.

Nun vom Norden zum Süden – über Versailles, Clermont, Lyon, Chambéry. Ein Hauch von Luxus umgab uns in der gemieteten Kutsche auf der ersten Etappe nach Versailles – ein Gefühl wie im eigenen Salon, reichlich zu speisen und zu trinken. Zwei Übernachtungen leisteten wir uns im schloßnahen Städtchen, dann war das Budget aufgebraucht.

Vor uns lag die Überquerung der bekannten Alpenpässe am Mont-Cenis, wo auf den Gipfelhöhen auch im Sommer noch Schnee und Eis von den letzten Wintern liegen. In Lanslebourg, dem letzten Ort vor dem Pass mieteten wir drei Esel. In der Ferne grüßte der  farbenfreudige Bergsee von Mont-Cenis, von dort gab es schon seit dem Mittelalter einen vielbenutzten Pass nach Savoyen, Piemont und Italien. Der ausgefahrene Weg für die Wagentransporte und die Post führte auf der Ostseite des Sees entlang – etwa zwei Kilometer, dann begann der Serpentinenaufgang bis zum Pass, wo die Grenze verläuft.

Vom Hauptweg zweigte am Nordende des Sees ein schmaler Pfad ab, der am Westufer verlief und nach einer Steigung quer über mehrere Bergweiden unterhalb der letzten Serpentine auf den Hauptweg noch vor Erreichen der Grenzmarkierung zurückführte – vermutlich eine Schmuggler-Route.

Wir begannen den Aufstieg zum Pass unterhalb des Gipfels – Jeder Meter Höhengewinn, jede neue scharfe Biegung des engen Steges veränderte den Blick auf das hinter uns liegende Tal, verwandelte die Farben des Himmels und ihre Spiegelung im See, ließ aus hellem Himmelsblau und dem Nadelgrün der Kiefern und Sträucher ein dunkles Violett werden und aus dem Gelbgrün der Blütenfelder hinter den Almwiesen Töne zwischen Türkis und Orange. Unsere Lobeshymnen auf die Wunderwerke der Schöpfung des Herrn überboten sich – ein Anlaß für stundenlange theologische Gespräche, bis wir erschöpft auf dem Gipfel des Mont-Cenis in das weiche Gras sanken. Für einen katholischen Priester erwies sich mein Gesprächspartner als wenig orthodox, der jesuitischen Dogmatik abgeneigt – insbesondere wenn es um die verhängnisvolle  Rolle der Kirchenväter, die Stellung der Frau in den christlichen Urgemeinden und auch um die Poesie in den Liedern und Psalmen des Alten Testaments ging. François führte Persönlichkeiten an, die zwei Generationen vor ihm Absolventen vom Priesterseminar Saint-Sulpice waren und heute seine Vorbilder für soziales und kulturelles Wirken sind: Fenelon, Nivers, de la Fosse, Montfort. Hier wurde mir klar, daß mein Kronprinz von Rheinsberg diese Personen kannte und mich deshalb in die Nähe des Pariser Seminars schickte: Friedrich sucht Gleichgesinnte seiner Generation als Absolventen von Saint-Sulpice.

Sieh‘ an, dachte ich bei mir, der kleine Abbé, wie er sich auskennt in der hohen Politik, in der Geschichte der weit verzweigten Dynasten in diesem Grenzgebiet von Italien und Frankreich. Noch mehr erstaunte ich, als er mir in allen Einzelheiten die Meisterwerke des großen Festungsbau-Ingenieurs Vauban erläuterte. Er muß es mir wohl an der Nasenspitze angesehen haben, wie sehr mich seine Kenntnisse verwunderten – kurz, er schlug eine Änderung unsrer Reisepläne vor – anstelle stracks nach dem Erreichen des Gipfelpasses weiter auf dem kürzesten Weg in Richtung Turin zu fahren, könnten wir doch Vaubans Perle der Bergfestungen Mont Dauphin besichtigen. Diese Steine müsse ich unbedingt anfassen!

Angekommen in Montdauphin nach einer sehr beschwerlichen Tour durchs Hochgebirge beschaffte sich François im Pfarrhaus die Schlüssel zur Kirche. Eine kräftige, schöne junge Frau mit schwerem Busen und breiten Hüften schloss uns die Eichentür von „Saint Louis“ auf, das Innere der geräumigen Kirche war von drei Seiten gut ausgeleuchtet, kein Wunder bei den hohen durch keinerlei dunkle Glasmalerei in seiner Wirkung behinderten Fenstern.

Die junge Frau war vermutlich die Geliebte des Priesters,  offiziell seine Hausangestellte und Köchin, vermutlich auch die Mutter mehrerer Kinder des Priesters – Wir sind in der tiefsten Provinz– und wir sind in einer Region in der bis heute die einfachen, familienbezogenen, urchristlichen Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben auch für Priester noch aus der Zeit der Katharer und anderer Ketzerbewegungen Gültigkeit haben.
François war angezogen von dieser Frau – das spürte ich vom ersten Augenblick an. Ich wagte es nicht, ihn darauf anzusprechen aber ich sah es deutlich an seinen begehrlichen, der Frau sehr zugeneigten Gesichtszügen und der Art wie er sich ihr immer wieder näherte, um sie und ihre drei Kleinen herumscharwenzelte.  Verwunderlich, aber erklärlich, wie mein Abbé-Freund stets  aufs Neue gegenüber der reizenden jungen Mutter, die übrigens sogar Madeleine hieß,  von der Familie Christi, von der Liebe der Marie Madeleine und der anderen jungen Frauen aus der Schar der Jesus-Anhänger zum Heiland und der Nächstenliebe sprach und in den Begriff Nächstenliebe sehr deutlich auch das verbotene „Begehren des Nächsten Weibes“ heraus zu hören war.  

Als der Priester zu uns stieß nahm das Gespräch eine Wendung hin zu Architektur, Baugeschichte und der vollständigen Abhängigkeit der Gemeinde vom Militär. Der Priester meinte, daß Vauban ganz planmäßig die wenige Seelen umfassende Gemeinde aus dem Dämmerschlaf gerissen habe mit seiner Entscheidung, im gesamten Gebiet der französischen Alpen zur Abwehr von Angriffen aus Piemont oder Mailand nur eine einzige befestigte Stadt neu anzulegen und das sei eben Montdauphin geworden.

Bis heute sei man mit den Bauarbeiten nicht fertig geworden – der Kirchenbau, das heißt Chorgebäude und Glockenturm stehe überhaupt erst dreißig Jahre, man rieche den frischen Mörtel förmlich!  Vor allem nach dem Tode des Sonnenkönigs – was er mit einem bedrohlichen Unterton sagte – sei das Militär zunehmend rücksichtsloser gegenüber den Menschen dieser Berg-Region geworden. Die Italiener seien zu schwach um Feinde zu sein – er sagte nicht Italiener – er sagte Genuesen, Mantuaner, Mailänder. Überhaupt sei die Kirche den Prinzipien des Militärbauwesens in ihrer maßlosen Geräumigkeit, in ihrer Schmucklosigkeit geschuldet. Vauban sei eben kein Mann der Kirche gewesen, sondern ein Mann des Geldes, der Architektur und natürlich auch der Feder.

Dennoch müsse man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen – er wird wohl auch zuständig gewesen sein für die Auswahl der Heiligen von denen man fünf auf Podesten an der weißen Putz-Wand hinter dem Altar aufgestellt hatte und zu denen ganz links außen in der Nähe des Taufsteins er auch Ludwig den Heiligen auswählte, den Namenspatron des Gotteshauses.

Der Priester, begleitet von Haushälterin und Kindern, bat uns nach draußen, verschloß die Tür und zeigte uns an der Dachkante eine steinerne hochaufragende Figur, die er pot-à-feu nannte. Francois nickte beifällig, sie unterhielten sich über die seltsame Art wie ein Teil einer militärischen Festung – eine Mischung von Urne und Flammen – auf das Dach eines einer Kirche gelangt war. Ich verstand nichts, ich wusste nicht was ein pot-à-feu war, konnte natürlich meine Unkenntnis des Französischen nicht öffentlich machen – bis heute kann ich mit dem Begriff nichts anfangen. Auch die preußischen Festungs-Ingenieure konnten mir diesen französischen Begriff nicht erklären, sie konnten mit der Direktübersetzung Feuertopf nichts anfangen. Einer rätselte herum und bot als Erklärung an es sei ein Gefäß in dem die Artilleristen das Feuer aufbewahrten an dem sie die Lunten ihre Kanonen immer wieder neu entzündeten. Und dann, eines Tages bei einem Spaziergang in Potsdam traf ich einen Zeichner in dessen Skizzenblock sich architektonische Bauelemente der Potsdamer Schlösser, Pavillons, Denkmäler fanden, auch ein Feuertopf. Ich fragte ihn nach der Bewandtnis und er antwortete das sei ein Merkmal des barocken Baustils: Aus steinernen Vasen, Urnen, Feuertöpfen und Kerzenständer erheben sich Flammen, die Symbol des ewigen Lebens. Am nächsten Tag zeigte er mir den Auszug aus einem französischen Buch über die Ästetik des Barock:

„Le pot à feu est un ornement architectural composé d’un vase en pierre en ronde bosse surmonté d’une flamme.

Ce motif, utilisé surtout à partir du xvie siècle, se retrouve principalement dans l’architecture classique et dans l’architecture baroque ; il est inspiré de pièces d’artifice en forme de pot et remplies de fusées. Il est habituellement placé en amortissement.

Dans l’art funéraire, il désigne l’urne à flamme, appelée aussi torchère ou cassolette, vase d’où jaillit la flamme éternelle du souvenir.

Le pot à feu dans l’architecture baroque religieuse

Dans l’architecture baroque religieuse, les pots à feu sont fréquemment utilisés pour sommer les frontons à volutes qui couronnent les façades des églises baroques.

France

En France, on peut admirer des pots à feu sur les façades de la cathédrale Sainte-Marie-de-l ‚Assomption à Vaison-la-Romaine et de l’abbaye de Saint-Michel en Thiérache dans le département de l’Aisne.

Le pot à feu dans l’architecture baroque civile

À la même époque, les pots à feu sont également utilisés dans l’architecture baroque civile : ils ornent le fronton de plusieurs maisons baroques de la Grand-Place de Bruxelles ainsi que la cour de marbre et la cour royale du château de Versailles, où on n’en compte pas moins de cinquante-huit. On en trouve également sur les bâtiments qui entourent la place Stanislas à Nancy. Ils sont également l’ornement des toitures de l’Hôtel-Dieu de Carpentras, où l’on peut en voir six posés au-dessus des rambardes.

Le pot à feu dans l’architecture classique

L’architecture classique recourt également à ce motif ornemental mais de façon plus variée : à l’abbaye de Parc à Louvain, les pots à feu ornent le portail et le clocher alors qu’à la cathédrale Saint-Aubain de Namur, ils décorent les parties latérales de la façade.

En architecture militaire, il est très utilisé avec pièce d’artifice.”

Doch zurück zu Vauban und seinen Alpenbefestigungen.

Sei es wie es sei, nach dieser kurzen Debatte zwischen François und dem Priester wanderten wir die verschiedenen Punkte der Festungsanlagen ab, die Mauern, die Wälle, die Bastionen, das Magazin mit seinen unterirdischen Pulverlagern. Von außen war nun auch verständlich, warum uns der Innenraum des Chores der Kirche einerseits so geräumig erschienen war und der Zugang zum Hauptschiff vermauert erschien: es gab überhaupt kein Kirchenschiff hinter der Mauer, es war den Bauplänen der Festungsarchitekten geopfert worden, was uns bei der Annäherung an die Kirche von der Nordseite entgangen war.

François schien sehr viel zu verstehen von Festungsarchitektur und  Festungsbauwesen, von Belagerungen und Verteidigungen, auch der Priester war wohl belesen in diesen Fragen, so daß diese beiden eine ausführliche Diskussion führten. Ich entschuldigte mich mit bloßer Unkenntnis und auch mit Desinteresse, versuchte aber mir sehr viel einzuprägen über diese Architektur und den damit verbundenen Taktiken der Verteidigung und der Belagerung von Festungen, von Ravelinen, Polygonen, Casamaten, Tenaillen, Caponieren, Sappen, Contre-escarpen.“

Von draußen, vom herzoglichen Park und See dringt Lärm zu mir nach ober unters Dach. Eine KITA-Erzieherin spielt mit den Rangen Verstecken hinter den Büschen. Ich lasse mich gern ablenken – die militärtechnischen Fachbegriffe des 18. Jahrhunderts verursachen mir schon eine ganze Weile einen leichten Schwindel. Der alte Oberkonsistorialrat mausert sich also zum Experten für Festungsarchitektur. Nun begreife ich, dass er doch der Verfasser jenes Handbuchs sein kann, das sich in dem Bündel findet. Ich sehe nach und wahrhaftig – Vauban ist mehrfach angeführt, alle jene Begriffe die Silberschlag im Schreiben an seine Tochter anführt sind zentrale Begriffe in jenem Handbuch. Er hat sich also sein ganzes Leben auch mit der Militärwissenschaft beschäftigt, vielleicht war er sogar auch noch später auf geheimer Mission für seinen König in Frankreich oder anderen europäischen Ländern unterwegs. In Amerika oder Persien wird er ja nicht gewesen sein, diese Zeit hätte ihm seine Tätigkeit in Berlin nicht gelassen. Also sehen wir weiter in dem Schreiben, vielleicht gibt es am Ende noch Hinweise diesbezüglich:

„Zwei Tage gönnten wir uns Ruhe in der Berglandschaft, kühlten die Füße im eiskalten Wasser des Guil, pflückten ein Sträußchen Edelweiß, das der närrische François, eingebunden in drei Zweige der Latschenkiefer, errötend der schönen Haushälterin des Priesters ans Mieder steckte. Er konnte sich nur mit Mühe zur Weiterreise aufraffen.

Das Hochgebirge im Herbst. Wir nahmen uns Zeit zum Genießen dieser Naturwunder. Ewiges, meterdickes blau-graues Eis in den Höhentälern, noch einzelne von den Stürmen niedergedrückte Bäume und Sträucher, Kühe, Ziegen, Schafe, allerlei wildes Getier, verlockende Pilze in den weichen Moosen.

Rechtzeitig vor Einbruch des Winters erreichten wir Turin. Meine Neugier auf diese von Franzosen und Italienern gleichermaßen beanspruchten Residenzstadt war riesig. „Abbé, was bedeutet für Sie die Residenz und Stadt Turin?“ François antwortete nur mit einem Wort auf meine direkte Frage beim Passieren des Stadttores: – „Christine und ihr Geliebter Philippe“. Beim Anblick meiner fragenden Miene steuerte er auf ein kleines Restaurant gleich hinter dem Tor zu und erklärte dem historisch Unkundigen in allen Einzelheiten das komplizierte Beziehungsgeflecht der Dynastien der Bourbonen, Savoyer, Piemontesen, verwies nach jedem dritten Satz auf das politische Ränkespiel der Kardinäle, Erzbischöfe, Weihbischöfe seit der Ablösung der Familie Valois durch die Familie Bourbon auf dem französischen Thron. Da er nach dem ersten Glas Wein immer noch im Allgemeinen schwelgte, kritzelte ich „Chrétienne“ auf die Tischplatte. Er lachte lauthals und beglückwünschte mich zu dieser wie er meinte metaphysischen Logik, die eines Thomas von Aquin würdig sei – Chrétienne sei die französische Urform des Namens Christine, auf den die Tochter des großen Henri IV, des Henri de Navarre getauft worden war, als Minderjährige aus sehr durchsichtigen dynastischen Erwägungen des Kardinals Richelieu verheiratet mit dem herzoglichen Prinzen Victor-Amédée von Piemont, dem sie schon mit 16 Jahren den erwünschten Thronfolger gebar. Der Vollzug der Ehe war reduziert auf die Begegnungen zur Hervorbringung weiterer legitimer Kinder, so daß sich Christine den Grafen, Gardeleutnant, Tanzmeister, Choreographen und Politiker Philipp d‘Agliè, comte de Saint-Martin, zum Liebhaber erkor. Mehr als drei Jahre mußte Philipp, entführt auf Geheiß der Pariser und Turiner Rivalen, hinter den Mauern der Festung Vincennes verschwinden, bevor er aufgrund politischer Veränderungen wieder in die Arme, in das Bett seiner Herzogin Christine und in die Machtpositionen am Hofe zurückkehren konnte.

François‘ Augen leuchteten, diese Herzogin von königlichem Geblüt war sein Idol, ihre Bauten und Gärten in Turin und Umgebung wanderte er mit mir auf und ab – das Schloß Valentino am Ufer des Po, die von ihr angelegten Gärten in den Schloßanlagen von Moncalieri, den vignoble unterhalb des Kapuzinerbergs.

Doro, geliebtes Mädchen, es klingt alles wunderlich, aber mein Gedächtnis arbeitet noch perfect. Ich lege dir einen Bogen aus dem in Hannover um 1740 erschienenen Reisebuch des Johann Georg Keyßler bei („Neuste Reise durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweitz, Italien und Lothringen“, Kapitel XXII und XXIII), in dem er Christines Wirken für Turins Bauten und Gärten ausführlichst beschreibt, aber auch die „vielen Wollüsten und sündlichen Unordnungen“ nicht unerwähnt läßt. Er hebt besonders die Form eines Amphitheaters hervor, in die der Garten e la Vigne gefaßt wurde – von der aber heute nicht mehr zu sehen ist. Er würdigt auch die Anpflanzung solcher Baumsorten in der Alpenregion durch die Herzogin wie Zypressen, Zedern, Lorbeer, Pappeln, Pinien, SCHILF und RIEDGRAS, Platanen, Weißbuchen, Ulmen, Zitronenbäume. Buchsbaumhecken und Spaliere aus verschiedenen Obsthölzern tragen zur abwechslungsreichen Gestaltung der Wege bei, ergänzt durch Fontänen und schattenspendende gewundene Pergola-pfade.  Wie du erkennst, hat der Wanderschreiber Keyßler dort mehr historische Tiefe, wo es auf das Verhältnis der Gartenbaukunst und der Wasserwerke zwischen der italienischen Renaissance, spürbar in den Übernahmen aus Florenz und Neapel, und dem französisch-klassischen Barock ankommt.

Mir scheint, liebste Doro, du bist verwundert über die Ausführlichkeit meiner Erzählung. Aber es ist nötig, damit du meine (und auch Josias‘) strenge weltanschauliche Opposition gegen die erbärmlichen Orthodoxen in Berlin, Halle und auch Frankfurt verstehst. Wir müssen unseren Blick weiten über die Landesgrenzen, aber ebenso über die Grenzen unseres wissenschaftlichen Faches hinaus! Naturkunde, Gartenbau, Weinbaukunde – das sind auch für Theologen und Grundschullehrer unverzichtbare Bestandteile ihres Wissens. Nicht nur die Herzogin Christine und ihre Geliebter Philippe, auch der Mönch, Architekt und Gartenbaumeister Andrea Costaguta waren für François und mich bei den Turiner Spaziergängen Vorbilder eines echten christlichen Verhaltens, einer gelebten Toleranz. À-propos François – der Zufall, der ihn mir in Paris zuspielte, ist wohl kaum mit Gottes Vorsehung auf Leibnizsche Art zu erklären, es war eben Glück! Auch Friedrichs „Sonderbotschafter“ und „Aufklärer“ müssen manchmal Glückskinder sein.

Nun waren wir endlich in Turin angekommen. Die Residenz der Fürstengeschlechter aus Savoyen, Piemont, Sizilien und Sardinien imponiert durch die gelungene Mischung der Baustile, Lebensweisen und natürlich der Speisekarten. Selbst die Burgunder und die jeweiligen dominierenden Fürstenfamilien des Heiligen Römischen Reiches hinterließen seit dem Mittelalter nicht nur den Herzogstitel, sondern auch ihre kulturellen Spuren. Unsere Ankunft fiel in eine Zeit der politischen Unruhen, in die der Friedensvertrag von Utrecht alle bis dahin der spanischen Krone zugehörigen und nun anderen Fürstentümern angeschlossenen sogenannten “Nebenlande“ geschleudert hatte. Dynastische Erwägungen siegten über die geographische Vernunft, in Turin tummelten sich nun seit über zwei Jahrzehnten die offenen und geheimen Agenten aller europäischen Großmächte, um ein ordentliches Stück vom ehemals groß-spanischen Kuchen abzubekommen. Kaum hatten wir die altrömische Porta Palatina passiert, wurden wir von Händlern, Herbergsvätern, umlagert, die ein fettes Geschäft witterten, die Abbé-Bekleidung meines Freundes schien vielversprechend. „Ich sollte schnellstens mein habit tauschen,“ flüsterte François, „hinter uns sehe ich zwei Figuren, die uns nichts verkaufen wollen, sondern vermutlich als Geheimagenten der Habsburger oder des Sultans auf unsere Spur gesetzt wurden. Da ich mich mit Freunden verabredet habe, bin ich nicht an einem neugierigen Gefolge interessiert. Lass uns auseinandergehen, wir finden uns wieder – morgen Mittag in der neuen Kirche auf dem Hügel außerhalb der Stadt, der Chiesa Madonna di Superga, die uns schon von weitem aufgefallen war“.

François kennt sich in der Geschichte aus, unübertroffen wie er die Namen der Fürsten und ihrer Mätressen herunterspult. Erst vor kurzem ist der kunstliebende und verschwenderische König Vittorio Amadeo vom Thron gestoßen worden – übrigens der Schöpfer dieser Kirche -, „zerrieben zwischen den Mühlsteinen der neidischen benachbarten Potentaten und der sehr mächtigen weiter entfernten europäischen Großen – der Engländer, Schweden und neuerdings auch der Russen und Preußen.“ Überraschend für mich war ein Detail, das François preisgab: die Idee jenes Fürsten Vittorio Amadeo, der erst 1714 die Königskrone erwarb – die Zelte seiner Residenz im sizilianischen Messina aufzuschlagen, aber angesichts der unsicheren Zukunft der sizilianischen Besitzungen sich in das angestammte Familienerbe Turin zurückzuziehen und anstelle einer kleinen bescheidenen Votivkirche eine prachtvolle, weithin sichtbare und ausstrahlende Basilika auf dem Berg über Turin bauen zu lassen.

„Mein lieber Louis, Turin ist von der Vorsehung bestimmt, französisch zu werden wie deine Heimat, das Elsaß – sollte mich irgendwann das Schicksal auf einen entscheidenden Posten bei Hofe setzen, werde ich alles tun, die Metropole Turin von den deutschen Bindungen zu befreien.“ Als wir beim Gang durch die Innenstadt am Schloß Valentino angekommen waren, setzte er fort: „Sehen Sie diese wunderbare französische Architektur der Bourbonen! Würde das Ensemble nicht an die Ufer der Loire passen? Lesen Sie alles, was Sie über die Herzogin Christine in die Hände bekommen – die Tochter des großen Henri IV! Ich werde ihr Werk vollenden!“

Das Schmuckstück Valentino: Seine Form verdankt das Schloss jener Herzogin Christine. Die sich von 1633 bis 1660 hinziehenden Arbeiten wurden nach Plänen von Carlo Castellamonte und seinem Sohn Amadeo ausgeführt, die auch für das früh entwickelte, so einheitliche städtebauliche Erscheinungsbild Turins verantwortlich waren. Der Herkunft Christinas entsprechend weist auch der Bau Eigenheiten der zeitgenössischen französischen Architektur auf: die um einen hufeisenförmigen Cour d’honneur gelegte Grundrissanordnung, die turmartig betonten Eckpavillons und die steilen, von Giebelgauben besetzten Dächer. Schmunzelnd formulierte François – wenigstens in der Architektur konnte Christine Rache nehmen für die französische Niederlage vom September 1705 im Spanischen Erbfolgekrieg gegen die Habsburger.

Christine steht für die klugen Frauen jener Periode – als Tochter des großen Henri IV hatte sie Mut, politisches Talent, strategisches Denken – und Erotik – als Waffen der Frau mitbekommen. Ich spürte bei François eine heimliche Bewunderung! Würde er als Mann der Kirche zögern, die Liebe zu den Frauen politisch als Instrument einzusetzen, wenn ihn die Vorsehung an eine entscheidende Stelle der französischen Politik setzt?

Der Blick vom Hügel der Kirche, flocht François ein, war eine gelungene Fortsetzung der Stimmung jenes himmlischen Panoramas am Fuße des Mont Cenis  – die himmlischen Höhen, die Nähe zu den Engeln und zu Gott – François erwähnte sehr oft den großen Heinrich von Navarra,  dessen Herkunft aus der rauhen und göttlichen Hochgebirgslandschaft der Pyrenäen und der Erziehung in den jahrhundertealten religiösen Traditionen der Katharer seine Entscheidungen als französischer Herrscher grundlegend geprägt hatten.

Während François über seine eigenen Erzählungen ins Schwärmen geriet, erfaßte mich unwillkürlich ein emotionaler Sog zurück in die Kindheit, in die väterlich-heimatliche Umgebung der von leichten Erhebungen durchsetzten Ebenen des Vorharzes.

Diese durch die abschmelzenden Eismassen vor Tausenden von Jahren abgeflachten Landschaften des Nordens zwischen Magdeburg, Berlin und Frankfurt haben mich ein Leben lang niedergedrückt, mir den Atem genommen. Wäre nicht der Vater gewesen mit seiner strengen Forderung, jeden Sonntag bei Wind und Wetter, sommers und winters, in die Berge zu fliehen. Doro, du hast den Ascherslebener Großvater noch gekannt, der Arzt, Philosoph und Naturforscher in einem war. Die ausschweifenden Erzählungen des französischen Abbé ließen mich träumen von den damaligen Ausflügen in die Berge, immer schwere Rucksäcke und darin die Hämmer für die Mineralien, die Vater bestimmen konnte. Ich träumte von den Pferden, zuerst hinter den Vater geklemmt, dann auf meinem eigenen Schimmel. Ich träumte von den Panoramasichten von den Bergen bei Ballenstedt, vom Falkenstein, vom Hügel, den man in Flachländer Übertreibung Froser Berg nannte.

Ich beobachtete François, wie er von den Gebirgen sprach. Auch er ist ein Mann der Berge, geboren und aufgewachsen im Süden, an der Rhône im Vivarais an der Ardéche, hügeliges Land mit einigen Vulkanen. Einer seiner Hauslehrer, der später guter Mediziner und Apotheker wurde, entdeckte bei ihm Liebe zur Natur und zur Malerei, sie zeichneten und malten in der freien Natur, gingen in die Berge. Später in Paris bei den Jesuiten fehlten ihm – wie auch mir – die Berge, die Flüsse, die Tiere und Pflanzen der freien Natur.

In einer der historischen Kirchen Turins war mir ein Gemälde aufgefallen, als Hauptfigur die antike Göttin Minerva – sie trug deine Gesichtszüge! Auch wenn du mich einen lieben Schwindler nennst – es ist die reine Wahrheit. Den Künstler habe ich vergessen oder dort in der Kirche nicht erfahren können. Einer der Begleiter deutete die Figur der Minerva als Symbol für jene berühmte Herzogin Christine: in  der Rechten das Schwert der Gerechtigkeit und der militärischen Taktik – müßte um 1630 entstanden sein. Das war jenes schicksalsschwangere Jahr, in dem Christine, die Tochter des französischen Königs regierende Herzogin Savoyens wurde. Minerva ist Symbol des Sieges, der erfolgreichen Staatslenkerin!

François stellte mich zwei Freunden vor, ebenfalls Absolventen des Pariser Collège Louis le Grand und wie er sehr an Architektur und Kunst interessiert, die an der französischen Gesandtschaft beim Heiligen Stuhl als Sekretäre tätig gewesen waren, hier in Turin eine Anstellung suchten, aber bisher erfolglos an den Portalen der Macht angeklopft hatten. Da diese Art der Bemühungen um einen Aufstieg im kirchlichen oder fürstlichen Machtgefüge meine Gefühlswelt arg belastete, verabschiedete ich mich bald unter heiligen Treuschwüren der ewigen Freundschaft in Richtung Venedig.

An Erkenntnissen für meinen Kronprinzen hatte ich aus der Beobachtung der vielfältigen diplomatischen, militärischen, kulturellen Begegnungen am Turiner Hofe, diesem bedeutenden Drehpunkt zwischen Mittelmeer, Kaiserreich, Westeuropa schon nach fünf Tagen genug gesehen und aufgenommen.

(En passant, liebes Töchterchen: Friedrich II zögert trotz Gleichgewichtstheorem und Friedensliebe nicht, angesichts existentieller äußerer Bedrohung Preußens präventiv militärisch zuzuschlagen – 1740 gegen Österreich und 1756 gegen die Koalition Frankreich, Österreich und Russland)

Nun war ich allein – nach den unzähligen Wochen der Gemeinsamkeit mit dem Abbé! – Daran mußte ich mich erst gewöhnen. Entsprechend der Instruction sollte ich ohne weiteren Aufenthalt mit der Post nach Venedig reisen, befand mich aber nun in einem Gewissenskonflikt. Nur etwa 30 Meilen von Turin entfernt lag die Festung Casal am Wege, es war kein Umweg nötig, aber ich nahm mir entgegen der strengen zentralen Ordre zwei Tage Zeit, die in Montdauphin neuerworbenen Kenntnisse über Festungsbau und Festungsarchitektur zu überprüfen – liebe Doro, ich hatte mich in diese Themen verliebt! Die Genialität eines Vauban, die technischen Raffinessen der Offiziere der Génie-Abteilungen, der Sprengstoffspezialisten der französischen Armee hatten mich in wenigen Wochen so angezogen, daß ich mich in meinen Träumen sogar in französischer Uniform sah.

Die Postkutsche lud mich und mein Gepäck am Marktplatz aus, vom Zimmer in der Herberge Zum wilden Schaf sprang mir sofort der Anblick der Festung ins Auge, aber die Erfahrungen von Montdauphin lenkten meine Schritte zuerst in den Dom, um einen geschichtskundigen Priester, möglichst auch mit einigen militärtechnischen Kenntnissen, zu finden. Wieder einmal war mir das Glück hold – ein wohlbeleibter Monsignore erbot sich zu einer Führung am nächsten Morgen – Kirche und Festung für einen Tageslohn.

Der Ort Casale Monferrato, wie er im Italienischen sich nennt, ist schon seit Jahrhunderten städtisch, hier kreuzen sich die Straßen von Turin nach Mailand, von Genua an den Genfer See und nach Luzern, Bern und Zürich. Seit dem Ausgang des Mittelalters ist dieser Platz durch die Markgrafen, später Herzöge von Monferrato beansprucht.

Eine Bemerkung des Abbé hatte ich mir eingeprägt – wenn du Christine, die Herzogin von königlichem Geblüt verstehen wills, mußt du irgendwann neben Turin die Städte Casale, Pignerol und Cherasco besuchen. Und er setzte hinzu: besonders das idyllische Gebirgsstädtchen Casal sei mit dem westfälischen Frieden 1648 zur neuen Drehscheibe der europäischen Verbindungen geworden, da sich durch die Verschiebung der großen Handelsströme weg vom Mittelmeer hin zum Nordatlantik Frankreich und England zu den Hauptakteuren wurden – aus dem Nord- und Westwind wurden Stürme, die sich aus dem Süden nach Nordwesten drehten – in Casal und Cherasco kann man sie riechen!  

(Liebste Doro, jenen Geruch habe ich seitdem in meiner politischen Nase!)
– Und wieso Pignerol? – fragte ich nach.
– Diesen Namen lernt jeder künftige Offizier, Abbé oder Steuereinnehmer schon in der ersten Geschichtsstunde von seinem Privatlehrer!

Nebenbei ließ er einfließen, daß auch Pignerol den Historikern des französischen Königreiches eine Zeile wert ist – die Festung war für den prominenten Staatsfeind Nummer eins des Sonnenkönigs, den ehemaligen Finanzminister Nicolas Fouquet, den Gegenspieler des großen Colbert, Gefängnisort für 15 Jahre – und Brutstätte von Gerüchten in Versailles, Fontainebleau und den Schlössern an der Loire zufolge auch der Aufenthaltsort des berüchtigten „Gefangenen hinter der eisernen Maske“. LOYALITÄT ! Jedes dritte Wort der Erzählungen meines französischen Freundes bezieht sich direkt oder indirekt auf diese Tugend, die ein werdender Staatsmann beherzigen müßte. Illoyalität – diese Untugend brach dem Finanzstrategen Fouquet das Genick, Loyalität – führte die Kardinäle Richelieu und Mazarin und den Politiker Colbert an die Spitze der Staatspyramide Frankreichs – unmittelbar neben die Schlafzimmer der Mächtigen.

Es kommt mir auf dem Almwiesen und vor den Felswänden als Erleuchtung: François ist geleitet von einer fanatischen Ambition – ein neuer Richelieu werden – Kardinal-Premierminister – dazu gehört auch Festungsbauwesen wie Vauban, Finanzökonomie, Studium der Lebensläufe der großen Politiker des 17. Jahrhunderts wie Richelieu, Mazarin, Colbert, Fouquet.

Genug sei es nun mit den philosophischen Reminiszenzen.
Auf Venedig hatte ich mich sorgfältig vorbereitet – ein Quartier im Viertel San Marco mußte ich leider ausschlagen, da man den für die Sicherheit des Dogen und seiner oberen Behörden zuständigen Geheimagenten schon verdächtig vorkam, wenn man sich trotz perfekten Passportes direkt unter ihrer Nase bewegte. Also fügte ich mich der Order meines Königs und logierte mich in einer Gasse mit Blick auf das Meer und die Insel Murano hinter der Kirche San Marziale im nördlichen Stadtteil Cannaregio ein – weit weg von San Marco. In der Nachbarschaft hatte ich das Glück, gleich mehrere kleine Kirchen zu finden. Zwei volle Tage mühte ich mich mit dem Italienischen ab, um die biblischen Texte und die Texte in den ausliegenden Gesangbüchern zu verstehen. Verwunderlich, wie oft ich den Namen Maria Maddalena fand. Ob die Venezianer eine besondere Affinität zu dieser Heiligen haben? Sogar eine der Kirchen des Stadtteils ist nach ihr benannt.

Und da war an einem der nahen Kanäle auch eine Wunsch-Taverna  – nachmittags und abends gut besucht, so daß ich mehr als eine Gelegenheit hatte, Gesichtsstudien zu betreiben, die Gestik und Mimik der Italiener zu beobachten und ihren Gesprächen zu lauschen. Am dritten Tag fiel mir ein junger Mann auf, der nach mir eingetreten war und sich – wie ich – im hinteren Teil der Veranda an einem Nebentisch niederließ. Er schrieb eifrig in einem Heft und – zu meiner Überraschung – fertigte Skizzen von Kirchen an. Er bemerkte, daß ich seine Beschäftigung erkannt hatte und – da sein Blick nicht abweisend war – wagte ich mich ihm zu nähern und ein Gespräch auf italienisch zu beginnen. Er schien nicht abgeneigt, ging dann mühelos zum eleganten französisch über, als er mein Stolpern und Stottern beim italienisch mitkriegte. Er sei ein Bibliothekar aus Innsbruck, der einen braunschweigischen Prinzen begleitete, eine Art Reiseführer, Berater in Kirchen-, Theater- und Museumsdingen. Heute habe er seinen freien Tag, da ginge er seinen eigenen Neigungen nach, da könne er den „Chevalier de la solitude“ freien Lauf lassen! Ich zuckte unmerklich zusammen – das war ein Wort, dass der Kronprinz damals im Gespräch mit mir verwendet hatte, um die Eigenart meines Auftrages zu beschreiben. Ich drang nicht weiter in meinen Tischnachbarn ein, hütete mich, ihn auf deutsch anzusprechen – sollte er doch sein inkognito wahren können, wenn er einer des preußischen Vaterlandes Männer war mit dem Auftrag, mich zu beobachten.

Von der Handvoll prächtiger Kirchen, die ich besuchte, ist mir eine besonders in Erinnerung: die Santa Maria Maddalena in Cannaregio, von den Nenezianern auch kurz La Maddalena genannt. Einer der befraghten Priester klärte mich auf: Spätestens 1155 befand sich an der Stelle der heutigen Kirche ein Oratorium, das sich im Besitz der Adelsfamilie Balbo befand, bzw. an der Stelle der ehemaligen Hausburg, des Castel Baffo. Nach dem Ende eines der vier venezianisch-genuesischen Kriege im 14. Jahrhundert beschloss der Senat, alljährlich Feiern zu Ehren der heiligen Maria Magdalena abzuhalten. Dazu wurde das Gebäude erweitert und ein Turm angefügt, aus dem später ein Campanile wurde. An der Außenseite der Apsis befindet sich eine Madonna mit Kind aus dem 15. Jahrhundert. Das Portal erinnert an die Balbo und spielt wahrscheinlich auf deren Rolle im Templerorden an. Um 1701 wurden die Altäre auf Veranlassung des Gemeindepriesters Francesco Riccardi umgebaut. Als der Priester mein besonderes Interesse an Malerei und Bildhauerei bemerkte, vertraute er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, wie glücklich ich mich schätzen durfte, einer der letzten Besucher der Kirche zu sein, werde doch in den nähsten Moinaten der gesamte Innenraum gesperrt! Kein Besucher, kein Mann der Kirche, kein Mitglied der Gemeinde werde eingelassen – der große Giandomenico Tiepolo habe sich diese Bedingung ausbedungen, wenn er in den nächsten Jahren rechts neben dem Eingang im Innenraum ein Gemälde zum Thema „Das Letzte Abendmahl“ eigenhändig anfertigen werde. Liebste Doro, fahre mit Josias und den Kindern nach Venedig und denke an mich, wenn du dieses Meisterwerk bewunderst !

Am dritten Tag – liebste Doro, du kannst mich verstehen – siegte die Neugier, der Leichtsinn über die Vorsicht und über die Instructionen, mit Hilfe des Herbergswirts mietete ich ein kleines Boot, ließ mir von ihm eine grobe Skizze der Kanäle zeichnen und startete am frühen Morgen verwegen eine Erkundungstour auf dem Wasser. Das Rudern und Steuern des Bootes bereitete mir keine Schwierigkeiten, ich war kräftig, konnte mich nach der Sonne orientieren und hatte bald einen der größeren Kanäle erreicht, wendete mich westwärts und bog nach Süden in eine der Rio genannten Hauptgewässer ein. Der Name der sehr breiten Wasserstraße war Rio de Calle Foscari, wie mir ein Schiffer unterhalb einer Brücke verriet und auf das am Wasser gelegene Palais zeigte, von dem der RIO seinen Namen hatte. Ich steuerte in diese Richtung, ließ mich aber von der Ansicht eines schlanken Campanile über den Dächern der hier sehr niedrigen Uferhäuser zum Abbiegen in einen wieder nach Südwesten abgehenden Seitenkanal verleiten. Plötzlich hatte ich die Orientierung verloren, meine Skizze konnte auch nicht helfen. Der Ausweg war: am linken Ufer an Land gehen in der Nähe einer Brücke, den Kahn an einem der Pfähle fest machen und die Lage zu Fuß erkunden. Ich suche jenen Kirchturm, aber die Häuser am Kanal sind verschlossen, doch da ist eine Ruine, durch die ich zwischen den Häusern durchschlüpfen kann und auf einen großen grünen Platz gelange – und da ist mein Kirchturm! Und da ist auch eine nur angelehnte Kirchentür, aus der gerade ein Priester und eine ältere Frau treten – vermutlich nach der Beichte. Sobald sie in der nächsten Gasse verschwinden, nutze ich diese Tür zum Eintritt in die Kirche – zuerst unsicher, es ist sehr dunkel, keine Beleuchtung, ein stechender Schmerz zeigt an, daß da eine Bank steht, aber eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite zeigt den Weg, er führt in einen Innenhof.

Ich bin geblendet – es eröffnet sich mir ein gotischer Kreuzgang von unerhörter Schönheit. Da werde ich hart von drei Seiten gepackt und zu Boden gedrückt – über mir stehen kräftige, in Schwarz gekleidete Burschen, die mir schweigsam Arme und Beine binden, einen stinkenden schwarzen Lappen auf die Augen drücken, mich als Bündel am Boden einige Meter schleifen, dann in ein Loch stoßen, so daß ich sehr schmerzhaft auf den Boden eines vermutlich unterirdischen Gelasses aufschlug. Hier erwarten mich andere brutale Burschen, durchsuchen mich – begleitet von Schlägen – nach Waffen, nach Geld, nach Papieren – erfolglos, sie finden im abgetragenen Gürtel die sorgfältig eingenähten Golddukaten nicht. Die Kerle beginnen mich auszufragen, aber ich kann ihr venezianisch gefärbtes Italienisch nicht verstehen, sie mein Französisch nicht. Sie stellen mir eine Kanne Wasser in den Raum, verschließen ihn und lassen mich im Finstern.

Als die Grobiane am nächsten Tag wieder auftauchen, hatten sie Fackeln in der Hand, legten mir die Augen frei, so daß ich eine ältere Frau in Ordenstracht in ihrer Begleitung sah, die gebrochen Französisch sprach und mir begreiflich machte, dass die Burschen zu meinem Schutz aufgetaucht wären und ich ihre Protektion durch eine anständige Summe Geldes vergüten solle. Da sind sie also, die berüchtigten Räuber Italiens, die mir ans Leder wollen, die auf mein Geld aus sind, die mich also für vermögend halten. Was soll ich tun? Ich gebe ihnen den Namen meiner Herberge, sie sollten sich nach meinen Vermögensverhältnissen erkundigen – die bescheidenen Mittel meines Unterhalts werden ihnen dann sicherlich aufgehen, damit auch die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens, mir etwas abpresssen zu können.

Die nächsten zwei Tage geschah nichts. Man brachte mir angeschimmeltes Brot und dünne Suppe, dazu wüste Beschimpfungen und Prügel. Am dritten Tag wandelte sich die Szenerie – man führte mich durch die Tür und einen längeren Tunnel in die Krypta, die Treppe hinauf in das Kirchenschiff, das nunmehr durch einige Kerzen schwach beleuchtet war, man setzte mich an eine reichlich gedeckte Tafel; anstelle der Grobiane bewirteten mich nun gut gekleidete Diener, die nun auch zu meiner Verwunderung ein verständliches Französisch sprachen. Man möge doch die Verwechslung verzeihen, einer ihrer Kirchendiener habe mich für einen Dieb gehalten und mich mit seinen Kumpanen entsprechend behandelt. 

Mitten in ihrer blumigen Erklärung flog das Portal auf, ein Herr von Stand mit einer Gruppe Bewaffneter schritt majestätisch auf mich zu, nahm meine Hände und führte mich unter wohlgesetzten Reden ins Freie zum Kreuzgang. Die plötzliche Helligkeit, der Duft der Blumen, der vom Kanal kommende Lärm der Händler und die Rufe der Gondelführer überwältigten mich. Da mich keine Macht der Welt in die Dunkelheit meines Kellergewölbes zurückbringen sollte und ich auch das Halbdunkel des Kirchenschiffes fürchtete, wurde der Tisch mit den Leckereien inmitten der Blumenwiese des Kreuzgangs aufgestellt und der elegante Herr erklärte mir und den nunmehr so höflichen Räubern die neue Lage.

Ich verstand nur soviel, daß er der Conte di Ragusa und ich ein in Frankreich studierender Neffe sei und er sich Vorwürfe mache, mich bei diesem Venedig-Besuch nicht genügend beaufsichtigt habe, so daß ich in meinem jugendlichen Ungestüm in diese mißliche Situation geraten sei. Der Vorsteherin des Ordens, die inzwischen herbeigeeilt war, überreichte er einen Geldbeutel zur Unterstützung der Armen und Bedürftigen, wie er salbungsvoll formulierte. Unter derartigen gegenseitigen Versicherungen und körperlichen Verdrehungen, angesichts derer ich mit Mühe ein Lachen unterdrücken konnte, verging fast eine Stunde, das Glockenspiel mahnte uns zum Abschiednehmen, als Unruhe am Portal der Kirche aufkam und die bewaffnete Wache meines Retters sich zu unserem Schutz postierte. Drei Männer wurden hereingeführt, die ein Paket trugen und uns um ein vertrauliches Gespräch baten. Die Mutter Oberin bot ihr Kabinett an und unter dem Schutz unserer Wache verhandelte der „Graf von Ragusa“, der mich als seinen persönlichen Berater hinzuzog, mit zweien der Neuankömmlinge. Zu viert begannen wir – bei Wein und venezianischen Delikatessen – Verhandlungen über Kauf und Verkauf von Dingen, die mir niemals vorher in den Sinn gekommen wären: gestohlene und über die Grenzen geschmuggelte Kunstgegenstände! Für meinen „Grafen“ schien die Situation nicht außergewöhnlich, er bat nur um das Französische als Verhandlungssprache, was uns gewährt wurde. Die beiden „Kaufleute“ öffneten das Paket und wir konnten ihre „Waren“ bewundern – sie entrollten bemalte Leinwände und Holztafeln, öffneten Schatullen mit wertvollem Schmuck, entnahmen kunstvoll gestaltete Bücher aus dicken Stoffverpackungen und antike Münzen aus besonders dafür angefertigten sicheren Behältnissen. Der Graf bat mich, mir die Gemälde auf den ausgerollten Leinwänden anzusehen und sie auf Echtheit zu prüfen, er schien Gefallen an dem Geschäft zu finden.

Lustlos betrachtete ich ein Stück nach dem anderen, das Übliche, was ich in Paris und Turin gesehen hatte – gotische Madonnenbilder, die Heiligen, die gewöhnlichen biblischen Themen. Doch da war etwas – ich blätterte zurück – da ist die mittelgroße Leinwand mit dem Bild der reuigen Maria Magdalena, dunkel gehalten, sinnlicher Ausdruck, lange über die Schultern herunterfließende Locken, dahinter ein großer roter Vorhang, ein wertvoller Spiegel an der Wand und das zerbrochene Gegenstück auf dem Boden – man beachte die Symbolik – sowie der teure Schmuck, verstreut auf dem Tisch und am Boden! 

Du weißt, liebste Doro, da ich seit meiner Kindheit über ein bewundernswertes Bildgedächtnis verfüge, wie mir mein Vater immer wieder versicherte. Was irritierte mich an der Leinwand? Nicht daß es sich um eine schlechte Kopie handelte, die man uns als Original unterschieben wollte, es war etwas anderes, was mir aber nicht sofort einfiel. Ich holte die Erinnerungen an die damaligen Pariser Kirchenwanderungen zurück – da war es: wir hatten diese reuige Sünderin nicht auf Leinwand, sondern farbig hinter Glas gesehen, in einem Metallrahmen die Wand einer Kapelle schmückend! François meinte, diese kleine Glastafel von etwa 21 mal 25 Zoll im Hochformat wäre ursprünglich nicht für eine Kirche angefertigt worden, sondern entspringe vermutlich dem Wunsch eines fürstlichen Liebhabers, seiner Maitresse in ihrem Boudoir ein würdiges Geschenk zu präsentieren. Diese „Madeleine pénitente parisienne – Mpp“, wie sie François vertraulich nannte, war keine außerhalb unserer Welt driftende Heilige, über ihr schwebt zwar ein Heiligenschein, aber das mehrfach verwendete Motiv der Sonne und des Sonnenlichts im Bild deutet auf Louis XIV hin, den „Sonnenkönig“ und seine Maitresse Louise de la Vallière. Für ihn hat Madeleine keine eindeutig erotische Ausstrahlung, für ihn macht die dargestellte Ekstase der Frau mit dem wunderschönen Haar weltliche Anschauung, Meditation, innere Bewegung der Sinne die Wirkung dieses Bildes aus. Auf meinen Rat hin erwarb mein Begleiter die Leinwandkopie, zusammen mit einigen anderen Stücken und Büchern. Später verriet er mir, er habe dieses „Kleinod“ als Original den Sammlungen des Königs in Sanssouci zum Geschenk gemacht, nachdem er es im Sitzkissen seiner Kutsche über mehrere Grenzen bis Potsdam geschmuggelt habe. Engen Vertrauten soll er die Mär aufgetischt haben, das Gemälde stamme aus der Pariser Kirche Saint-Etienne-du-Mont. Leider durfte ich nicht darüber sprechen, wie überhaupt viele Details dieser Reise in meinem Busen verschlossen blieben und verschlossen bleiben werden, auch dir gegenüber. Soviel kann ich nur verschleiert sagen: die von mir gesammelten Erfahrungen im Umgang mit jungen Leuten in Frankreich und Italien konnten von den leitenden Feldjäger-Offizieren und Diplomaten Friedrichs genutzt werden insbesondere für die Gewinnung von solchen ausländischen Mitarbeitern, die aus Bewunderung für unseren König und weniger aus pekuniairen Gründen sich der preußischen Politik verschrieben.

Es war Zeit zum Aufbruch, der Conte zahlte nach hartnäckigem Feilschen, dann schritten wir zu der am Kanal liegenden prächtig geschmückten, mit einem adligen Wappen versehenen und vier livrierten Dieners ausgerüsteten Gondel und schwebten mit den erworbenen Schätzen und meiner teuer erkauften Freiheit davon.

In der Nähe meiner Herberge legten wir an, ich holte meine Habseligkeiten, zahlte das Quartier und wir genossen eine Rundfahrt durch die Kanäle, bewunderten die Paläste und Kirchen und steuerten schließlich am Abend ein Haus an der Ostküste an, in der Nähe des Arsenals – in den nächsten Tagen mein Quartier. Der „Conte“ lüftete unter Verwendung unserer Passworte sein Geheimnis, ließ kein gutes Haar an meiner waaghalsigen Verhaltensweise, die ihm, wie er augenzwinkernd formulierte, nicht nur zwei schlaflose Nächte bereitet hatte, sondern und unserem König zusätzliche Kosten in Höhe von fünfzig Dukaten für meine Befreiung aus den Händen der Räuberbande verursacht hatte.

An einem der nächsten Tage schlug mir der „Conte“, so nannte sich weiterhin mein Begleiter, bei ruhiger See eine Bootsfahrt nach Istrien vor – zu einer antiken römischen, heute venezianischen Fischerinsel namens Insola, das sei eine gute Gelegenheit, sich unbeobachtet und unbelauscht auszutauschen. Der Conte fordert aus dem Stegreif einen ausführlichen mündlichen Zwischenbericht über Erfolge, Mißerfolge, Personen, Schwierigkeiten und auch erste Schlußfolgerungen meiner mehrmonatigen „Studienreise“, wie er es nannte. Aus der Art, wie er sprach, zuhörte, wie er vertrauensvoll mich durch Fragen unterbrach, seine politischen Erklärungen an angemessener Stelle, aus seiner durchscheinenden staatsmännischen Denkweise erkannte ich die Nähe zum Prinzen Friedrich. Dieser Weltmann, der mich beim Rundgang auf der antiken Fischerinsel examinierte und damit über meine Laufbahn in Preußen entschied, war ganz sicher kein Brandenburger Juncker, sein Französisch hatte einen englischen Beigeschmack. Wir verstanden uns prächtig, trotz des großen Altersunterschieds – er hatte nichts Väterlich-Belehrendes, sondern Kollegial-Freundschaftliches. Wie du scharfsinnig erkennst, liebes Töchterchen, muß sein Bericht in Rheinsberg den Kronprinzen Friedrich – trotz der calamité in Venedig – von meinen persönlichen Werten überzeugt haben, denn die Position eines Oberconsistorialraths in Berlin erreicht man nicht durch theologische Spitzfindigkeiten. Übrigens liefen wir uns 15 Jahre später im Park von Sanssouci über den Weg, der Conte und ich – er lud mich in seine Villa, die Posten salutierten und riefen – „Vivat Herr Lord-Marschall“! Du hast es erraten, es war der schottische Hofmarschall George Keith, älterer Buder des im letzten Krieg gefallenen Generals James von Keith. In Erinnerung habe er nach so langer Zeit, wie ich als junger Student in wenigen Tagen in dem Geflecht der diplomatischen, kirchlichen und politischen Kontakte hinter den Kulissen das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden lernte – in Venedig, der Stadt, die die Wiege der neuzeitlichen Diplomatie und geheimen Agententätigkeit ist. Er habe mir das damals auf der Fischerinsel nicht in dieser Deutlichkeit sagen können, solche weitreichenden Beurteilungen habe er seiner Kgl. Hoheit, dem Prinzen Friedrich überlassen müssen.
Nun wurde es Zeit, die Heimreise entsprechend der Instruction vorzubereiten. Ich besprach mich mit dem Grafen und schlug eine Änderung der Route vor: anstelle des vorgeschriebenen Weges über Graz und Salzburg wollte ich die Stecke über Bozen und Innsbruck nehmen – einem Rat meines französischen Freundes François folgend mir das Kirchlein von Rencio mit ihren einmaligen Fresken zum Leben der heiligen Maria Magdalena anzusehen. Der Graf verstand mich auf Anhieb, er versprach dem „Chevalier de la solitude“ die nötigen Nachrichten und Finanzen entlang der neuen Strecke zu postieren – da war es wieder, jenes Wort des Kronprinzen Friedrich, vielleicht das Losungswort der gesamten Reise, dessen schillernden Inhalt ich bis heute nicht in Gänze erfaßt habe.

Der Graf entließ mich seiner Obhut, damit ich noch einige Tage auf eigene Faust persönliche Erfahrungen sammeln und vielleicht auch Bekanntschaften oder gar Freundschaften schließen konnte, die für „Rheinsberg“ künftig Bedeutung haben könnten.  

Für die Route nach Rencio hatte ich mir die sichere Straße über Verona ausgewählt und auch zufällig eine deutsche Gefährtin gefunden – Angelika, ein junge Bildhauerin, die verwegen genug war, allein zu reisen und die sich die Marmorbrüche in der Toscana ansehen wollte. In Verona übernachteten wir in der Postherberge, hatten uns ineinander verliebt – die Vernunft erforderte aber am nächsten Morgen die schmerzhafte Trennung, die Einzelheiten erspare ich dir, liebstes Töchterlein! Von Verona ging es ins Hochgebirge, ins Land der Etsch, ins entlegene Land der Tiroler Bauern, Gemsenjäger und Handwerker. Einmal im Leben die Füße ins eiskalte, blaugrau-weiße spritzige Gletscherwasser tauchen! Welch‘ eine Wonne!

Über dieses Kirchlein bei Bozen, das Ziel meines Abstechers in die Weinberge, hatte mir François Wunderdinge berichtet, nun durfte ich die berühmten Fresken aus dem 14. Jahrhundert mit eigenen Augen sehen! Was mir aber mein französischer Freund nicht verraten hatte, war der absonderliche Standort des Gotteshauses – inmitten eines Weinberges auf dem Hügel, von dem man das Tal der Etsch weithin überblicken konnte. Für ihn war die Art der Darstellung und der Inhalt der Bilder wichtiger als eine solche „Äußerlichkeit“ wie die Lage der Kirche.

Ich mietete mich für einige Nächte in der Postherberge von Bozen ein, suchte einen kundigen Begleiter – einen Priester der Dominikanerkirche der Stadt Bozen, der auch über einen Schlüssel zur Weinbergskirche verfügte. François hatte mir auf den Weg mitgegeben, dass ich besonders auf die Abweichungen in der Bildergeschichte der Maria Magdalena hier im ländlichen Tirol von den üblichen kanonischen Historiendarstellungen in französischen, deutschen und italienischen Stadtkirchen achten solle. Ohne dass François jemals hier gewesen war, konnte er mir sehr anschaulich die Madeleine-Bildfolge in dieser Kirche beschreiben, so dass ich keine Mühe hatte, den Erklärungen meines Führers zu folgen. Ich verstand nun besser als bei den sehr abstrakten Erklärungen der Lehrer in meinen heimatlichen Lateinschulen und im Kloster Berge, warum für die Bergbauern, Winzer und Jäger im Hochgebirge das Leben der Heiligen Maria Magdalena in ihrer zweiten Hälfte – Vertreibung aus dem Heiligen Land, Überfahrt mit dem Boot von Palästina an die französische Mittelmeerküste, die Predigten in Marseille, das Dasein als Eremitin, die Wundertaten – eine größere Nähe hatte als die biblischen Überlieferungen über ihre Beziehungen als Frau und „Sünderin“ zum Heiland, zu Lazarus, zu Marta und insbesondere über ihre Rolle am Morgen des Ostersonntags beim Entdecken des leeren Grabes des Herrn und beim Empfang des Auftrags durch den Engel, die Kenntnis der Auferstehung den Menschen zu verkünden.
Ich legte mich auf den Kirchboden, spürte die Bewegung der Erdkugel und erfasste nun mit allen Sinnen, wie die Anlage der Kirche in der natürlichen Landschaft zwischen den Weinbergen so in göttlicher Harmonie war mit der Demut, die uns Menschen ergreift, wenn wir uns jenen zehn Fresken im Innern der Kirche zum Leben der Heiligen nähern. Außen und innen; Himmel, Erde, Berge um uns herum – in uns aber die Ruhe, die Beständigkeit, die Bescheidenheit, der Blick nach oben, denn diese Fresken sind ja unterm Dach der Kirche angebracht, über den Fenstern und der Tür. Trotz der dürftigen Lichtverhältnisse erregen mich zwei der links unmittelbar nach dem Altarraum benachbarten Bilder ganz besonders. Der Führer erklärte mir die Themen: im ersten Bild predigt Maria Magdalena vor dem bisher heidnischen Fürsten und seiner Gemahlin in Marseille sofort nach der Ankunft aus dem Heiligen Land und im Bild daneben ermahnt Maria Magdalena das Fürstenpaar im Traum zu einem gottesfürchtigen Leben als Bedingung für eine Erfüllung ihres langersehnten Kinderwunsches. Das seien „für unsre Leute“ aus dem wirklichen Leben gegriffene Angelegenheiten, meinte der Mann aus Bozen, da werde die Religion zur Anleitung für weltliches tagtägliches Handeln! Die Erinnerung an ein Gespräch mit François in Paris drängt sich auf – er kenne gotische Glasmalereien, könne sich aber nicht mehr ins Gedächtnis rufen in welcher Pariser Kirche, möglicherweise auch in Bourges oder Chartres, die die heilige Madeleine zeigen, wie sie die Überfahrt von Palästina nach Marseille in gewohnter Weise dem Schiffskapitän in den Nächten mit ihrem Körper bezahle. (Liebe Doro, wie mir sehr viel später ein anderer französischer Freund in Berlin erzählte, bezieht sich die Darstellung im Fenster der Kathedrale von Bourges nicht auf die Überfahrt nach Marseille, sondern auf die vorher zu datierende Passage von Alexandria nach Jerusalem – wie man sich doch irren kann bei all den Legenden!)

Bitte liebste Doro, beackere deinen Josias, dass er mit dir die Füße in das Gletscherwasser hängt und jenes Kirchlein besucht – es ist etwas Einmaliges im Leben – ich bin Friedrich dem Großen dankbar, dass er mir als jungen Studenten dieses Erlebnis verschafft hat.

Angefüllt mit hunderten neuen Bildern und gleichsam der göttlichen Erde stärker verbunden als je zuvor trennt ich mich mit seelischen Schmerzen von jenem südtirolischen Landstrich, beeilte mich nach Innsbruck zu kommen, blieb aber aus Müdigkeit in einem Bergdorf außerhalb der Stadt in einer sauberen Herberge – „Zur Krone“ – für eine Nacht. Das Heimweh hatte mich nun gepackt, weder Kirchen noch Klöster noch Schlösser konnten mich vom schnellen und rechten Wege nach Preußen abbringen.

Mein liebes Mädchen, liebe Doro, 

Als ich nach Rheinsberg zurückkam, Sommer 1739, war der Kronprinz reifer, der König bei sehr schlechter Gesundheit und ich musste nach Kloster Bergen zurück, so daß keine Gelegenheit war, meinem schriftlichen Reisebericht eine mündliche Erläuterung anzufügen.

Für dich hier aber einige Zeilen – eine Art Resumé: Friedrich schien zufrieden. Nach drei Monaten des Schweigens wurde ich nach Rheinsberg zitiert – der Kronprinz beauftragte mich, unter Vorwänden die Verbindung zum Abbé aufrecht zu halten. Lordmarschall Keith avancirte als mein unmittelbarer Vorgesetzter, arrangirte meine Aufnahme in das Oberkonsistorium von Berlin. Aus wohlverstandenen Gründen durftes du oder andere Personen der Familie ihn niemals persönlich zu Nahe kommen.

Wir tanzten vor Freude, genehmigten uns eine Flasche Champagner, als die Kunde vom Aufstieg des Abbé in die höheren Ränge der königlichen Suite von Versailles uns erreichte. Ich erhielt der Auftrag, der nicht ungefährlich war, mich mit ihm in Versailles nach so vielen Jahren wieder anzufreunden, ihn persönlich einzuladen und ihn incognito mit Friedrich II. in Rheinsberg zusammen zu bringen.

Le Cardinal Francois Joachim de Pierre de Bernis

Friedrich brauchte echte Informationen aus erster Hand über die Kriegsvorbereitungen der französischen Armee – Kardinal Bernis hatte über die Kontakte zur Familie der Pompadour sehr wertvolle Informationen – wirtschaftliche, technische, personelle, die Truppentransporte und die Nachschublagerplätze betreffende.

Der Lord-Marschall, George Keith in jungen Jahren

Der Chef des „Vorbereitungscomités“ war immer der Lordmarschall Keith, aber die Treffs fanden immer nur in Rheinsberg statt, jenseits der höfischen Zeremonielle, auch mit dem nun gekrönten Friedrich II, manchmal auch in Emmerich am Rhein mit Blick auf Holland am jenseitigen Ufer. Heute zehre ich noch von den Erinnerungen an einen Spaziergang mit dem König und George Keith, an Regen und Sturm- Wetter, das uns zum Rückzug in das kleine Landhaus zwang …  das vor langer Zeit einer schönen Frau gehörte, die auch Kurtisane am Hofe eines Königs war – des Großvaters der heutigen Majestät – immer wieder schließen sich die Kreise der Geschichte !!!! Ich packe zusammen, für heute warten die Kumpels der wöchentlichen Skatrunde!

Edda stürzt zur Tür herein, ein kleines Büchlein in der Hand – Bester Chef, hier ist eine Sensation: Alexander von Humboldt war nicht nur Zöling des Latein- und Griechisch-Lehrers Josas Löffler in Frankfurt – er hatte auch eine Liebesaffäre mit einem Assistenten des Professor Löffler !
Was halten Sie davon ? – Laß es uns in Ruhe recherchieren, liebe Kollegin – ich trau der Sensation nicht so ohne weiteres!

Dr. Dieter Weigert 16. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

Die nächste Folge der Erinnerungen des Stadtarchivars von Saalfeld zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler wird in Kürze erscheinen.

Für Interessenten bisher:

LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663

LINK zu Folge 2: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33899

LINK zu Folge 3: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34059

LINK zu Folge 4: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34245

LINK zu Folge 5: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34672

LINK zu Folge 6: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34720

LINK zu Folge 7: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34571

LINK zu Folge 8: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/35034

LINK zu Folge 9: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/35090

LINK zu Folge 10: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/35828

LINK zu Folge 11: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/37611

LINK zu Folge 12: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/38055

Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 12

Kurz und knapp erwähnt Josias das bedeutende private Faktum seiner Frankfurter Jahre in den Lebenserinnerungen: „Löffler verheirathete sich im Winter 1784, am 9. November, mit der Tochter des Oberconsistorialraths Silberschlag in Berlin.“ (Kleine Schriften, Bd.I, S. XVI) Edda wirft bissig ein: Nicht einmal den Vornamen der Erwählten gibt er uns preis ! Also – durchsuchen wir den gesamten Packen nochmals nach Briefen oder ähnlichen intimen Papieren, die uns Auskunft über die Ehefrau des Predigers geben.
Josias hatte die schöne und kluge junge Frau vermutlich schon in den ersten Monaten seiner Berliner Zeit kennengelernt, als er durch die Vermittlung seiner Hallenser Universitätslehrer Semler und Nösselt die Runde bei den Spitzen der lutherischen Kirchen in Berlin absolvierte, auch auf der Suche nach einer Beschäftigung als Privatlehrer, also im Frühjahr und Sommer 1774. Da war sie noch ein Kind, aufgeweckt, eine vielversprechende sinnliche Schönheit, neugierig, aber als Tochter eines Oberkonsistorialrats familienbewusst und auch diszipliniert. Er verliert sie aus den Augen, nimmt am Krieg 1778/79 als Feldprediger teil, kommt 1779 zurück und wird sie um 1780 als junges, aufgeblühtes Mädchen wiedergesehen haben – im Hause ihrer Eltern. Aus Sympathie wird Erregung, Begehren und Liebe, aber der junge Mann hat noch keine Anstellung, die ihm so viel einbringt, dass er die Tochter eines hochgestellten Kirchenpolitikers heiraten kann. Da erscheint die Rettung am Horizont – die Professur in Frankfurt !
Der vor mir liegende Brief vom 1. Juni 1785, eine Kopie aus dem Archiv des Verlegers Frommann, verrät uns nun endlich den Namen des Mädchens: Dorothea ! Das Schreiben strahlt Zärtlichkeit aus, sehr viel Intimität: „dein zärtlich liebendes Dörtchen“ und „bestes Männchen“ sind nicht die Worte einer nur aus Vernunft und Laufbahn-Kalkül angetrauten Ehefrau. Aber lassen wir sie selbst sprechen – manche Krakelei muß ich leider auslassen –
„Glücklich und gesund bin ich gestern Abend um 10 Uhr hier in Berlin angekommen, bestes Männchen. Um 10 Uhr erst, wirst du fragen? Ja, ob mir gleich meine beyden Brüder in Dahlwitz schon erwarteten, so hatten wir doch noch so viel … , daß wir erst ziemlich spät von Dahlwitz abfuhren also auch nicht sehr früh hier ankommen konnten. Mit welchen Umarmungen und Küssen und Freude ich nun hier von meinen lieben Eltern empfangen ward, werde ich dir wohl nicht erst beschreiben dürfen, genug wenn ich dir sage, daß es ganz so wahr, wie wir es uns vorstellten.


Mama räumte sofort „meine“, „unsere“ Chaiselongue frei, damit ich mirs recht gemütlich mache. Ach, wärst du doch hier !!! Erinnerst du dich noch an die lustige Episode, wie Papa mit dir über die griechische Benennung jenes wunderschönen Möbelstücks in eine professorale Debatte geriet? Manchmal wird eben aus dem geruhsamen Consistorialrath ein streitsüchtiger Widder mit eingelegten Hörnern!
Es fehlt mir an nichts mehr hier in meinem väterlichen Hause, als ein gewisser Jemand mir zu Füßen auf dem lieblichen Polsterhocker sitzend, nicht wagte, mir die verliebten Augen zuzuwenden, aus Verlegenheit die gedrechselten Löwenfüße der Chaise longue streichelnd und wer der gewisse Jemand ist, das machst du allein …
Ich sitze jetzt in Mamans-Stube zu schreiben, Du kannst also wohl denken, daß mehrvom Plaudern als vom Schreiben wird, ich muß daher für heute … schließen, und Dir ein andermal, wenn ich oben … allein sitze werde … Ich küsse Dich in Gedanken so viel daß mir der Mund gewiß …

Hast du mich denn auch noch recht lieb, liebes Männchen? Ja wohl bin ich dir gut, dein bestes Dörtchen.

Neues kann ich dir noch nicht von Berlin melden“

Die Sache mit dem Möbelstück beschäftigt mich nun schon einen ganzen Tag – wie kommt „Dörtchen“ vom louis-quinze-Wort „chaiselongue“ auf das Altgriechische? In der Tischler-Berufsschule waren wir in der Geschichte der Möbelkultur vom Neo-Neo-Mix der Gegenwart nur bis zur deutschen Renaissance, zur Eiche und zum Nußbaum, gekommen, es bleibt nur der Anruf bei der Freundin Rita in Weimar. Sie weiß es, hat sie doch Innenarchitektur studiert! Ihre plausible Erklärung: französische Sitzmöbelgestalter der Periode nach dem Tode des Sonnenkönigs suchten neue Formen, neue Ideen, eine neue Sprache für die Innenausstattung der Paläste der gesellschaftlichen Elite, die nun aus Versailles in die urbanen Zentren zurückströmte – dazu gehörten praktische und luxuriöse Sitz- und Liegemöbel für die Damen, auf denen sie ihre Reize den Herren darbieten konnten. Zu bewundern übrigens heute in einigen wenigen Stücken in den Räumen von Fontainebleau und im Museum „Hotel de la Marine“ am Place de la Concorde, also der Pariser Innenstadt.

So wurden aus langweiligen Sesseln die langgestreckten chaiselongues, den man nach antiken Vorbildern lateinische oder griechische Namen zulegte: das Sofa mit nach oben gebogener Kopfstütze für drei Personen wurde als TRICLINIUM ein Modeschlager, wobei die Römer, die es zur Massenware entwickelten, die griechische Wurzel KLINE für Ruheliege im Unterschied zum Bett verwendeten. Soweit Rita. Meine Schlussfolgerung: Vater Silberschlag wollte vermutlich den künftigen Schwiegersohn auf seine Griechisch-Kenntnisse prüfen und nutzte Dorotheas Liebe zum französischen Möbelstück, das irgendwie in den Haushalt des Berliner Theologen geraten war, zu einem sprachgeschichtlichen Disput, dem Josias gewachsen sein musste, wie die in Griechisch eingeflochtenen Begriffe und Wendungen im Briefwechsel mit Semler und anderen Kollegen bezeugen. Wäre er bei dieser Prüfung durchgefallen, hätte „Dörtchen“ sich wohl gehütet, diese Episode zu erwähnen. Sie wird das Möbelstück auch in einem anderen Zusammenhang in Erinnerung haben – die Mädchen des 18. Jahrhunderts unterschieden sich wohl kaum von denen der Gegenwart, wenn sie sich der ersten Begegnung mit einem von den Eltern vermittelten möglichen Schwiegersohn in romantischer Verklärung erinnern.

Viel ist es nicht, was ich während der Abwesenheit der lieben Kollegin Edda herausfinden konnte – sie tröstete mich, es sei doch noch nicht jedes Papierchen mehrfach umgedreht. – Lassen Sie mich mal an jenen schwergewichtigen Packen, der da gesondert auf uns wartet und die Aufschrift „Stendal“ trägt. Sie schafft es, den komplizierten historischen Knoten ohne Beschäfigungen zu öffnen – da die nächste Überraschung – zwei getrennte, wiederum gut verschnürte Pakete – beschriftet: „privée“ und „Vauban“. – Chef, wir sollten uns zuerst ans Private machen, denn noch wissen wir nicht allzu viel über das Liebesleben unseres Predigers, der große Festungsdesigner Vauban kann warten!

Edda hat den Schlüssel gefunden! Briefe und Geständnisse! Beider Handschriften ! Und eine dritte, die vermutlich das Rätsel der Stendal-Aufschrift lösen wird. !

Es sind mehrere Briefe von drei verschiedenen Handschriften: die schon bekannte der Ehefrau Josias Löfflers, Dorothea, zweitens die Schrift einer Frau Namens Sophie Charlotte aus Stendal, einer Cousine unserer Dorothea – identifiziert aus der ihrer Unterschrift und der Anrede aus Briefen von Dorothea. Die dritte war schwieriger zuzuordnen, Dorothea hatte sie mir „Tantchen“ angeredet, und „Tantchen“ hatte mit Sophie Marianne unterschrieben. Wer war jene Sophie Marianne, wer war jene Sophie Charlotte? Wie standen sie zu Dorothea Löffler?

Aufschlußreich ist da zuvörderst jener Brief von Löfflers Ehefrau Dorothea aus Franfurt unmittelbar nach dem Umzug aus Berlin an die Cousine in Stendal, Sophie Charlotte.

Eine colorierte Postkarte flattert von ober auf meinen Tisch: – Bester aller Chefs, kennst du diese Touristenattraktion schon – das alte Kirchenbestückte Stendal?

Iczh verweigere die Antwort, trenne mich ungern vom Thema Eheglück der Löfflers. Die Cousine scheint noch minderjährig zu sein, deshalb hält sich „Dörte“ etwas zurück in der Beschreibung ihres ehelichen Freuden:

„Liebes Schwesterchen, ich darf dich wohl so nennen, da es mir an einer solchen mangelt, es drängt mich von Herzen, dir als nunmehrige ehelich anvertraute Gemahlin eines VIADRINA (!!!)Professors und Predigers an der größten Kirche vom Oderstrand die ersten Erfahrungen seit der Trennung von der Residenz Berlin zu erzählen. …

Hier an der Oder ist alles etwas kleiner, ruhiger, gemächlicher als in der Majestät Residenz. Nachbarinnen oder gar Freundinnen zum Schwatzen gibt es hier nicht – ich bin die verehrte Frau Professorin, man soll es mir ansehen ! Die Kleidung? – auch das kein Stoff zum Plaudern! Die Nachbarn? Preußisch-Zackige Militärs und schwarzgerockte, trockene, maulfaule Kirchenleute von St. Marien. Ach, wie ich mich nach Berlin sehne.
Man sieht schon das Kind im Bauch wachsen, bald wird es kommen, ich habe furchtbare Angst, darf sie aber nicht zeigen . . .

Beim Einräumen der Sachen und Einrichten in der Riesenwohnung hier im Winkel hinter der Kathetrale fand ich einen Zeitunsbereicht, den ich dir zurückschicke – denn es ist nicht mein Vater, sondern es kann nur dein Vater gemeint sein:

Der Schreiber des Berichtes in der Zeitung hätte einen Kupfer mit dem Porträt des „Herrn Conventual Silberschlag“ beifügen sollen, da wäre eine solche Verwechslung – wie sie auch gegenwärtig noch in Berlin bei gewissen Ignoranten geschieht, nicht passiert! Mein Vater war im Jahre 1761 lange dem Klosterjahren entwachsen ! Grüß den Onkel Georg von mir, tausend Küßchen vom Ufer des Oderstromes dem großen Geographen und Sternenkundigen – wenn er mal wieder bei der Familie weilt!

Mein noch jungfräuliches „Schwesterchen“, gewisse intime Nachrichten über die eheliche Liebe, die gegenüber den früheren jungendlichen Bruder-Schwester-Verhalten veränderten Zärtlichkeiten zwischen Mann und Frau in der Ehe werde ich dir trotz mehrfachen, nachdrücklichen Flehens nicht mitteilen – früh genug wird es dich ereilen!“

Die Zurückhaltung der frisch gebackenen Ehefrau Dorothea gegenüber ihrer jüngeren Cousine in Stendal macht mich neugierig auf den Briefwechsel Dorotheas mit der Stendaler Tante Sophie Charlotte, der sich überraschend in diesem Bündel befindet. Vielleicht hat Josias wegen des sehr intimen Gehaltes diese Papiere nicht dem offiziellen Nachlaß anvertrauen wollen – gelesen hat er die Briefe gewiß nach dem Tode Dorothes. Edda und ich hatten einiges Vergnügen beim Lesen der vertraulichen Ratschläge der beiden Frauen für den Umgang im Bett und auf dem Sofa mit ihren theologisch belasteten Männern. Es kling sehr modern, meinte Edda und zwinkerte mit den braunen Äuglein!

Dr. Dieter Weigert 15.August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

Die nächste Folge der Erinnerungen des Stadtarchivars von Saalfeld zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler wird in Kürze erscheinen.

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