Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder Leutnant von Kleist und Superintendent Löffler Folge 19 Besuch in Uniform

Immer noch strenger Winter. Den Vorschlag meiner durch den Landrat temporär zugeordneten Mitarbeiterin Edda, sich in Gotha, also „an Ort und Stelle“, einen anschaulichen, sinnlich wahrnehmbaren Eindruck vom Wirken und von den privaten Lebensbedingungen des Theologen und Kirchenpolitikers Josias Löffler zu verschaffen, habe ich akzeptiert – aber das Wetter müßte schon mitspielen, hatte ich hinzugefügt. Frühestens Mitte März käme in Frage, jetzt ist aber erst Ende Februar. Den versprochenen Text eines Briefes des französischen Bildhauers Houdon an Josias Löffler vom Sommer 1789 lassen wir uns auf der Zunge vergehen – unmittelbar vor dem 14. Juli geschrieben, also am Vorabend der offenen Gewaltausbrüche in Paris, die am Ende in die Revolution und den Sturz der Dynaste der Bourbonen führten.: „Mein lieber Freund, Frankreich und die Welt stehen an einem Wendepunkt ! Unserem Herrscher sind die Finanzen für die Weiterführung seiner luxuriösen Hofhaltung und die abscheulichen Kriege ausgegangen, er muß sich an die Stände wenden – die werden ihm aber wahrscheinlich keine Gunst erweisen, da er nicht zu echten Refomen bereit ist. Die allgemeine Verunsicherung ist – wie ich spüren konnte – auch in den deutschen Fürstenthümern vorhanden, nicht aber der Wille zur politischen Auseinandersetzung mit ihren bisherigen regimes. Obwohl das aufgeklärte Gotha eine rühmliche Ausnahme bildet und Ihr Herzog Ernst mit der französischen Opposition in allen drei Ständen liebäugelt, kann man nichts erwarten von diesen isolierten Tendenzen. Preußen wurde durch den gegenwärtigen regierenden Fürsten und seine korrupte clique um Jahrzehnte zurückgeworfen, wie selbst Prinz Heinrich im vertraulichen Gespräch äußerte. Offiziell hält er sich sehr zurück, immerhin war der verstorbene König sein Bruder, der ihn oft wegen seiner homoerotischen Escapaden gescholten hatte. Als königlicher Prinz ohne Verantwortung lebt es sich aber sehr angenehm in den Schlößern mit den geliebten jungen Offizieren! Seine Urtheile über Frankreich und die Welt fand ich amüsant, aber doch etwas oberflächlich. Er hat leider keine Kontakte. Bester Freund, bleiben Sie mir gewogen – ich würde Sie gern portraitieren, wenn Sie mich hier in friedlicheren Zeiten besuchen mögen – Ihr Jean-Antoine H.“

Edda schien begeistert von der Stimmung, die dieser französische Künstler verbreitete – ein Freund der großen Geister wie Voltaire ! Sie legte zur Unterstützung meines Erkenntnisgewinnes die Kopie einer Abbildung aus einem Katalog hinzu, die eine wunderschöne Skulptur aus den Gothaischen Sammlungen zeigte:

Etwas von der französischen aufgeklärten philosophischen Leichtigkeit färbte auch auf ihr Josias-Löffler-Bild ab, schien mir. Und davon wiederum gewann vermutlich auch ihr Bild des Dichters Heinrich von Kleist schärfere Konturen. – Bester Chef, war nicht dieser Kleist während seiner Kindheit und frühen Jugend doch ein Zögling unseres Theologen und Pädagogen? Hoffentlich finden wir dazu Belege!
Eine Art romantische Leidenschaft hatte Edda gepackt – ich glaubte sie bremsen zu müssen , hatte aber wenig Erfolg. Da half nur der schriftliche oder bildnerische Beweis.
Also nochmals seinen vilebesprochenen, vielbeschriebenen Brief aus dem Jahr 1793 heraussuchen.  Die Kleist-Gemeinde kennt seit ewigen Zeiten jenen Satz aus dem Briefe des Fähnrichs Heinrich von Kleist an sein Tantchen Massow vom März 1793: „In Gotha sprach ich abends um 6 Uhr den Generalsuperintendenten Löffler; er trug mich (?!) auf ihm (?!) bei Ihnen zu empfehlen, und erinnerte sich unsers Hauses mit vielem Vergnügen.“

Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Begegnung für den sensiblen Theologen Josias Löffler ohne bleibenden Eindruck geblieben wäre, ohne das Bedürfnis, sie einem Freund oder Verwandten mitzuteilen. Wem aber in Frankfurt oder Berlin schrieb er in diesen Monaten? Wer war mit den Frankfurter privaten Verhältnissen der Familien Löffler oder Kleist so vertraut, dass er die Erwähnung eines Gesprächs Löfflers mit dem jungen Kleist in der Uniform eines Fähnrichs der preußischen Armee verstand? Vielleicht der Garnisonpfarrer, der Feldprediger beim Frankfurter Regiment, der das Kind am 27. Oktober 1777 getauft hatte ? Oder jener Garnisonpfarrer, der ihn am 20. Juni 1792 konfirmierte? Oder die Briefe an Plothe? Das könnte ein erfolgversprechender Pfad sein –

Da kommt eine andere Erinnerung aus uralten Zeiten, aus den Studienjahren in mir hoch, der Besuch im Antiquariat Peludrigkeit in der Leipziger Münzgasse, einem Geheimtipp unter den Liebhabern von Karten, Militaria, Städtebeschreibungen, theologischer Literatur seit der Reformation. Der Chef selbst, ein Mann von etwa 45 Jahren, wie mein Vater in so jungen Jahren schon glatzköpfig, nahm mich vertraulich am Arm und führte mich ins Heiligtum hinter dem Vorhang, dessen Fenster zum Garten mit starken Eisengittern gesichert war. Verblüffend stellte ich fest, dass der kleine Raum zwar mit Büchern, Karten, Erd- und Himmelsgloben bis unter die Decke vollgestopft war, aber keinen Stuhl oder Sessel aufwies, die zum geruhsamen Studium einluden. Nur ein Stehpult mit verstellbaren Ablageflächen unterhalb der Schreibebene stand vor den Fenstern, auf ihm lag aufgeschlagen ein Schatz, schon vom weiten erkennbar am Ledereinband und der goldbelegten Schrift. Der Chef führte mich zu diesem Kleinod seiner Sammlung, bot es mir an mit den Worten; „Ich kenne keinen würdigeren Menschen in dieser Stadt, der diese Schrift zu schätzen und zu verstehen weiß.“ Wir wurden uns über eine monatliche Ratenzahlung von zwei Jahren einig, selten in jenen Zeiten.

Das Buch war der Traum aller Historiker, Philosophen, Theologen und Kunstgeschichtler meiner Universitätsstadt, jener berühmte Spieker, seine „Beschreibung und Geschichte der Marien oder Oberkirche zu Frankfurt an der Oder“ aus dem Jahre 1835. Der Chef erklärte mir, seinem Vertrauten, dass er sich schweren Herzens dazu entschied, dieses Vermächtnis seines Vaters aus der Hand zu geben. Er hatte sich entschieden, es nun mir anzuvertrauen, da er mich nun „in- und auswendig“ kannte. Sein Vater hatte ihm kurz vor seinem Tode das Buch überreicht – mit der Erklärung. dass ein Offizier einer der Besatzungsmächte im Sommer 1945 unter dem Siegel der Verschwiegenheit jenes Kleinod gegen einige schön gestaltete historische Silbermünzen damals zusammen mit einem Stapel historischer Karten veräußert hatte. Der Offizier habe es wiederum von einem Freund, der wie er meinte, rein zufällig in einem der vielen geplünderten Läden in Deutschland während der letzten Kriegsmonate wie er meinte, „gefunden“. Da mein Vater aus Königsberg kam, wie er dazu setzte, war er hellauf begeistert von diesem Buch, denn wie ich doch schon aus vielen Gesprächen mit ihm wüßte, habe der Vater zuerst versucht in Frankfurt an der Oder nach seiner geglückten Flucht aus Königsberg in den letzten Kriegsmonaten einen Antiquitätenladen aufzumachen, war aber gescheitert. Niemand interessierte sich damals für Antiquitäten oder antiquarische Bücher. Sie lagen zu Hauf in den Straßen. Sie wurden von den Offizieren der Besatzungsarmee, auch unter anderem von polnischen Offizieren – patrouillierend zwischen Spree und Oder – wie Sauerbier angeboten. Direktoren wissenschaftlicher Bibliotheken suchten Leute, um die Raritäten einzusammeln, hatten aber keine Fahrzeuge in den Nachkriegsmonaten.  Daraufhin zog mein Vater mit seinem frommen Wunsche ins Landesinnere und sei nun hier glücklicher Begründer eines Ladens in dieser Universitätsstadt geworden.  Ja, er der Chef sei nun mit Freude Zeuge des Aufschwungs des geistigen Lebens in dieser sächsischen Universitätsstadt und sei auch sehr erfreut, einen Menschen wie mich zum Freund zu haben.

Diese Erinnerung lässt mich zu Hause den Spieker heraussuchen, das Inhaltsverzeichnis nach der Periode zwischen 1780 und 1800 durchkämmen und die Seite 378 aufschlagen, wo Spieker erstmals den Namen Johann Christoph Plothe im Kontext mit der Darstellung der Tätigkeit Löfflers an der Frankfurter Marienkirche nennt. Der bisherige Konrektor der Frankfurter Oberschule Plothe wurde, so schreibt Spieker, im Jahre 1784 zum beigeordneten 2. Diakon an der Marienkirche berufen.  Löffler persönlich hielt schon am 7. Dezember 1783 die Predigt zur Einführung des neuen Pfarrers in der Marienkirche. Sie wurde 1791 in einem Sammelband der Predigten Löfflers veröffentlicht, herausgegeben in seinem „Hausverlag“, Frommann in Züllichau. Der Kern der Predigt: „Ich bin überzeugt, daß Sie die Würde des Geschäfts kennen, das christlichen Predigern obliegt … O! Ich bin überzeugt, daß Sie diese Würde fühlen; und daß Sie nichts anders als Ihre Ehre darein setzen können, einen so hohen Beruf nach Ihren Kräften zu erfüllen … Nehme ich dazu die Einsicht, welche Sie sich sonst, und vorzüglich in Religionskenntnissen erworben haben, die Übung im Unterricht, die Sie bisher gehabt, die eine so gute Vorbereitung für den kirchlichen Unterricht ist; nehme ich dazu Ihren unbescholtenen Wandel, den Sie führen, und das gute Herz, welches Sie zeigen; wie könnte ich anders, als auch aus diesem Grunde der Gemeinde zu einem solchen Lehrer Glück wünschen.“

„Dieser würdige Geistliche von seltener Treue und Rechtschaffenheit, zuverlässig in Wort und That, wohlwollend und hülfreich“ – so bewertet ihn Spieker. Ich entdecke plötzlich bisher für mich unbekannte Seiten an jenem Theologen – nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums an der Viadrina erhielt er schon mit 21 Jahren das Subrektorat an der Oberschule, unterrichtete u.a. privat die Gebrüder Humboldt im mündlichen Beherrschen der lateinischen Sprache und wurde einer der engsten Vertrauten des Generalsuperintendenten Josias Löffler. Er blieb 2. Diakon auch nach Löfflers Weggang, wurde aber erst nach langer Wartezeit 1797 zum 1. Diakon berufen. Spieker würdigt ihn (S. 394) beim Bericht über seinen Tod (1811) nochmals mit rührenden Worten: „Das Leben dieses Redlichen war einfach, aber voll inneren Gehalts und erbaulich für seine Gemeinde. Sein stilles, bescheidenes Wirken, seine geräuschlose Thätigkeit, sein ernster gediegener Charakter und sein redliches Forschen nach Wahrheit hatten ihm die allgemeine Achtung erworben.“

Ich nehme das „goldene Buch“ nochmals in die Hand, betrachte verzückt den kunstvoll gestalteten Rücken, will es in das Regal zurücklegen.  Aus dem ersten Drittel etwa löst sich unverhofft ein Blatt, entfaltet sich – auf der Vorderseite zeigt es eine Landkarte Böhmens von 1778 und auf der bisher verborgenen Rückseite eng geschriebene Notizen – in der Handschrift von Josias Löffler !

Das Glück des tüchtigen Forschers – es ist die Abschrift eines Briefes, den Josias an Plothe geschrieben hatte – sogar das Datum ist vermerkt: Montag, 25. März 1793! Die Handschrift ist unsauber, Josias hat sich keine Mühe gegeben, es war nur für den Hausgebrauch. Ich werde einen scan anfertigen und eine Notiz den Akten beifügen.

Warum und wie diese Karte samt rückseitiger Beschriftung in das Buch geraten ist, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben ebenso die Antwort auf die Frage, wer das Versteck gewählt hat. Die Jahre nach 1793 waren wohl in Deutschland nicht dazu angetan, intime Korrespondenzen mit politischen Freunden offen herumliegen zu lassen. Wie schnell war man der Sympathie zu den Jacobinern oder später den „Demagogen“ verdächtigt! Vermutlich wird einer der Freunde Löfflers nach dessen Tod diese Abschriften in einem „linientreuen“ Buch verborgen haben. Josias Löffler hat die Wende vom freien liberalen geistigen Klima unter Friedrich II. in Preußen zum Dunkelmännertum und zu der Denunziantenatmosphäre unter seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm herannahen sehen – er ist zu ihrem Opfer geworden. Ich kann mich erinnern, wie einer meiner geliebten, sehr belesenen Uni-Professoren gern das Wort von Arnold Zweig über jenen unwürdigen Erben des großen Friedrich auf dem preußischen Thron zitierte: „eine Null von frommem König“!

Noch zu Hause versuche ich mich am Dechiffrieren: „Mein lieber Plothe, Bruder im Geiste, treuer Freund! Ich hoffe es geht Ihnen gut und die Oberkirche steht noch. Meine Montage hier in Gotha sind seit Jahren der correspondenz vorbehalten, so sind Sie der erste am Morgen, der meinen Geist aufheitert. Nichts Dringliches, aber doch das Gefühl Bewegendes möchte ich Ihnen zu Beginn der Karwoche mitteilen. Wann schrieb ich Ihnen das letzte Mal? Es muß wohl zum Weihnachtsfeste im alten Jahr gewesen sein, daher nun die überraschende Neuigkeit von diesem Jahresbeginn! An einem der vorigen Mittwochabende staunte ich nicht schlecht – unangekündigter Besuch aus Frankfurt stand vor der Tür. Ein junger Militair im blau-roten preußischen Tuch, die Mütze verlegen in den Händen drehend, begleitet von einem älteren Diener, einem „Burschen“, wie die Offiziere gewöhnlich sagen. Den Soldaten erkannte ich nicht auf Anhieb, die Uniform verändert den Menschen, aber als er sich vorstellte, umarmten wir uns freundschaftlich, es war der Nachbarsjunge aus der Kleistfamilie, der leicht versponnene, weltkluge, manchmal verschlossene und in sich gekehrte Heinrich. Die königliche Fähnrichs-Uniform schreckte mich zuerst ab, dann übersah ich sie. Der Kleine wird noch hineinwachsen, dachte ich auf den ersten Blick, er wird sie schon bald ausfüllen, körperlich und geistig, hoffentlich wird seine zarte Seele keinen Schaden nehmen! Denn wenn sich sein Traum, Lehrer zu werden, erfüllen soll, dann wird er viel Seele brauchen, mehr Seele als trockene Wissenschaft.

Von diesem Traum, Lehrer zu werden so wie ich, hatte er mir während der Gänge durch St. Marien mehrfach erzählt. Manchmal hatte er sich durch das geöffnete Seitenportal in das Hauptschiff hineingeschlichen, um sich besonders die Tafeln über dem Altar und die Fenster hinter dem Chor anzusehen. Als ich ihn einmal dort allein erwischte, lief er rot an, stotterte etwas von Teufelsfratzen und Hörnern und Satansklauen, Wörtern, die ich im Wortschatz eines Jungen seines Alters nicht vermuten würde. Waren es Gesichter aus jenen farbigen Chorfenstern, die ihn im Traum erschienen waren? Wir gingen den uralten, dunklen Fenstern und er zeigte sie mir, jene mittelalterlichen Szenen, sehr hoch über uns, aber doch erkennbar. Angetan war er insonderheit vom äußersten rechten Fenster, dort häuften sich die Schreckensgestalten, die Teufel, die satanischen Folterknechte, die gehörnten Köpfe, sehen Sie sich das an, lieber Plothe, und erstaunen Sie wie ich damals. Aufgeregt führte er mich ganz nahe heran zur dritten untersten Reihe des rechten Fensters und spielte mir vor in der Art eines Hauslehrers – oder besser – eines Theatermenschen – wie er den ihm anvertrauten Mädchen – er sprach immer nur von Mädchen, niemals von Knaben – die einzelnen Szenen erklären wolle. So zeigte er mir die Darstellung einer Geburt, in der ein Teufel neben der liegenden jungen Mutter steht, aus seinem rosa-braunen Kopf wachsen große goldene Kuhhörner, aus dem Munde ragt ein riesiger Eckzahn, an der Schulter trägt er eine Plakette mit Teufelsantlitz. Dieser hochgewachsene Satan berührt das Neugeborene auf dem Arm einer Hebamme, die beiden Frauen sind nicht erschreckt, finden die Anwesenheit des Teufels vermutlich normal. Der Kleine erregte sich gewaltig bei seiner Erklärung, fragte mich nach der Deutung – ich muß gestehen, mein bester Freund, dass ich keine zur Hand hatte und ihn auf ein andermal vertrösten mußte. Nun war es an mir, die Szenen allein für mich zu studieren und Erklärungen zu suchen für Abbildungen aus dem gotischen Mittelalter, für die es vermutlich weder kunsthistorische Beschreibungen noch Experten gab, die mir beistehen konnten. Ich sollte Ihnen, lieber Plothe, offenbaren wie wenig ich mich auf Kunstgeschichte und insbesondere die gotischen Gemälde verstehe. Durfte ich aber das dem Knaben beichten und somit seinem Traum vom allwissenden Lehrer einen Stoß ins Bodenlose versetzen? Nein, dreimal Nein ! Ich nahm mir vor, in allernächster Zeit diese Beschäftigung nachzuholen, bin aber bis heute säumig. Der Besuch des „Herrn Fähnrichs“ erinnerte mich schmerzhaft an die Lücke in meinem Wissensgebäude, nun werde ich mich dransetzen – vielleicht können Sie, lieber treuer Plothe, mir nach nochmaliger Besichtigung der Fenster einige Anregungen zum Nachdenken und zu neuerer Literatur senden.

Der Junge im preußischen Blau-Rot war höflich genug, mich nicht auf jene meine Mängel hinzuweisen, er scheint jedoch über ein veritables Gedächtnis zu verfügen – im Verlaufe des über einstündigen Gesprächs im Schloßpark und des eiligst durch meine liebe Köchin zusammengestellten Abendessens kamen wir auf das Satanische in den Kriegen der Gegenwart zu sprechen. Er war auf dem Wege zu einem dieser schrecklichen Untaten der Menschheit, verblüffte mich durch das Geständnis, er wisse überhaupt nichts darüber und bat mich, ihm etwas von den Erfahrungen meines Einsatzes als Feldprediger 78/79 mitzuteilen. Woher wußte er von diesem Krieg und meiner Teilnahme? Ich entschied mich, ihm von den Thränen jener schlesischen Bauersfrau zu erzählen und Erinnerungen an einige Szenen der Chorfenster von St. Marien einzuflechten, in denen Waffen sprechen, in denen Opfer von Steinigungen ihre brechenden Augen erschreckt dem Betrachter darbieten, in denen abgeschlagene Köpfe am Boden liegen, in denen das Feuer menschliche Glieder frißt. Die Keule, das war die Waffe, die den Knaben am stärksten beeindruckte – mit ihr erschlug man die Heiden, mit ihr folterten die Heiden die ersten christlichen Märtyrer. Der 15-Jährige überraschte mich mit der kühnen These, die Keule sei bestens geeignet für massenhafte Tötungen durch den Mob – sie kräftig schwingend und im Kreise um sich schlagend könne ein Täter ohne abzusetzen und ohne Luft zu holen ganze Gruppen seiner Gegner an einer Wand erledigen und sich – bedrohlich eingekreist durch eine Menge – den Weg über Leichen bahnen: Schädel zerspringen wie Melonen, Blut spritzt an die Wände. Ich erschrak – welche Phantasien bewegen diesen Knaben! Welche Anleitungen zum Verhalten im Gefecht entnimmt der künftige Offizier den Szenen der Chorfenster von St. Marien? Ich beobachtete verstohlen das Gesicht meines Besuchers – unbewegt, nüchtern sachlich spricht der Sproß eines der berühmtesten Offiziersgeschlechter Preußens diese Worte.

Da stand er nun vor mir, der Knabe, der vom Lehrerberuf träumte und in dessen Phantasien satanische Grausamkeiten sich austobten. Lieber Plothe, würden Sie mir helfen, diesem Jungen, wenn er sich künftig wieder dem Elternhaus nähert – sollte er diesem unsinnigen Krieg gegen Frankreich lebend entrinnen können – den guten Weg zum Lehrer zu finden? Bieten Sie ihm in guter Tradition die gemeinsame Besichtigung der Chorfenster an – vermutlich wird er nach den schrecklichen Kriegserlebnissen von selbst das Gespräch über die Keulen, Richtschwerter, Geißelpeitschen suchen. Bitte schreiben Sie mir! Ihr treuer Freund Josias Löffler“

Ich brauche viel Zeit, Geduld und philosophische Neugier zum Verdauen des Fundes. Eddas Fragen werden hoffentlich dabei helfen. Ich fühle schon das Bohrende in der ersten Frage: Heinrich von Kleist – der Junge aus dem Nachbarhaus – als Fähnrich zieht er sich das Preußisch Blau über, als Leutnant der Garde wirft er es ab ! WARUM ??? Welchen Einfluß hatte Josias Löffler auf diese Entscheidung eines von Kleist ?

Dr. Dieter Weigert 2. September 2023 Berlin Prenzlauer Berg

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Autor: Sternberlin

Dr. phil. habil.(Philosophie und politische Wissenschaften) , inzwischen Pensionär - aktiv in Denkmalschutz und Denkmalpflege, besonders Kirchen und historische Friedhöfe in Berlin an Wochenenden - unter der Woche in unregelmäßigen Abständen engagiert in Lehrerfortbildung (Geschichte, Architektur, Literatur und Theater,Bildende Kunst)

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