Herrn MdB Gauland ins Stammbuch

  1. August 2011: Gedenken an Dr. Wilhelm von Braun

  2. kardinal

Wir gedenken heute eines Mannes, dessen Lebens- und Leidensweg mehrfach die überkommenen Leitlinien des königlich-preußischen Offiziers des 19. /20. Jahrhunderts durchbricht. Das Leitbild, wie es die Knesebecks, Brauchitschs, Holzendorffs, Lützows hier auf diesem Berliner Offizierskirchhof an der Linienstraße verkörpern, wird durch die vier Eckpunkte bestimmt:

erstens – Offizier von der Wiege bis zur Bahre,

zweitens – protestantisch,

drittens – normgerechtes Familien- und Sexualverhalten und schließlich

viertens – politisch neutral, passiv  und loyal gegenüber der staatlichen Obrigkeit.

Hineingeboren 1883 in eine typische ostelbische Offiziersfamilie – Vater Regimentskommandeur, einer der Ahnen sogar Stadtkommandant Berlins am Ende des 18. Jahrhunderts – nimmt Wilhelm von Braun schon in jungen Jahren, kurz nach der Beförderung zum Artillerie-Leutnant im Jahre 1904,  den Abschied, um sich der Wissenschaft und der Rechtsprechung zu verschreiben. Er promoviert 1910 an der Universität Heidelberg zum Dr. jur. und promoviert nach Aussagen seines Neffen Ralph von Gersdorff (Brief an mich vom 2.Oktober 1995 und mündliche Aussage bei einem Besuch im Jahre 1996) zum Dr. theol. wie auch zum Dr. rer. pol. , was wir bisher nicht nachweisen können.  Der erste Ausbruch muss inkonsequent bleiben, da ihn der erste Weltkrieg holt – an die Ostfront, die er zwar überlebt, und in türkischen Diensten.  Er beendet den Krieg in russischer Gefangenschaft.

Der zweite Ausbruch, das Verlassen der protestantischen Gemeinschaft, der Übertritt zur römisch-katholischen Kirche, erfolgte vermutlich schon im Jahre 1912, wie der Journalist Hansjakob Stehle nach Recherchen in den Archiven des Vatikan schreibt. Es war die Freundschaft mit dem katholischen Priester Giuseppe Pizzardo, dem späteren Unterstaatssekretär im Vatikan und Kardinal, die ihn zu diesem Schritt führte.  Pizzardo war ab 1909, also während der Studienzeit Brauns, in München Mitarbeiter der dortigen päpstlichen Nuntiatur. Über geistige, weltanschaulich-philosophische Beweggründe für diese Entscheidung ist nichts bekannt.

Den dritten Bruch mit der Tradition, das offene Bekennen zur Homosexualität, vollzieht Braun auch schon in der Zeit vor dem Weltkrieg. Um den Verfolgungen auf der Grundlage des § 175 im Kaiserreich zu entgehen, geht Braun in das in dieser Hinsicht liberale  und tolerante Italien.

Und schließlich der endgültige Bruch – unmittelbar nach den Erlebnissen des Krieges der Eintritt in die praktische Politik, der Einsatz für die Ziele des Humanismus, des Friedens, der internationalen Zusammenarbeit. Es ist wiederum der befreundete Giuseppe Pizzardo, der die Fäden zum Vatikan knüpft. Der Vatikan versucht, die mit der Neuen Ökonomischen Politik Lenins verbundene Öffnung zum Westen zu nutzen und  bemüht sich um Kontakte zur Sowjetregierung, deren offizieller Vertreter als Chef einer Handelsmission in Rom der aus einer polnischen Familie stammende Ingenieur, Ökonom und Publizist, der Katholik Worowski ist, den Terroristen zwei Jahre später in der Schweiz erschießen. Worowski und Wilhelm von Braun kennen sich aus der gemeinsamen Zeit in München in den Jahren vor 1910 – Worowski, einer der wichtigsten Vertreter der Auslandsorganisation der Bolschewiki  in Deutschland und der Schweiz und Braun, der Jura-Student. Die erste Aufgabe Brauns in der Zusammenarbeit mit Pizzardo und Worowski im Jahre 1921 ist die Vermittlung von Hilfslieferungen der westlichen Staaten über den Vatikan für die hungernde russische Bevölkerung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese intensiven, aber informellen Kontakte Berlin – Moskau – Vatikan sich in jener Periode festigen, in der der Katholik Joseph Wirth Reichskanzler ist.

Aus diesen ersten Kontakten entwickelt sich eine Kette diplomatischer Aktivitäten, die schließlich in die Konferenz von Rapallo und die enge Zusammenarbeit des Deutschen Reiches mit Sowjetrussland ab 1921 führt. Dr. Wilhelm von Braun hat aktiven Anteil an dieser Entwicklung durch die Herstellung von Kontakten von deutschen Großunternehmen wie z.B. Siemens & Halske und Banken mit Sowjetrussland und daraus folgenden Angeboten von joint ventures zwischen dem Vatikan, Deutschland und Sowjetrussland.

Nach 1924 lebt Braun in verschiedenen Ländern, vermutlich in China, Italien, Deutschland – meist bei den Benediktinern.  Die politischen Hintergründe liegen im Dunkel, auch die weiteren Kontakte zu Moskau, geben aber Anlass zu Spekulationen – ebenso wie der überraschende Eintritt in die Nazipartei 1933.

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Die vier Ausbrüche enden 1935 mit der Verhaftung durch die Gestapo und die Einlieferung in das Konzentrationslager Dachau. Damit beginnt der Leidensweg durch die Gefängnisse und Konzentrationslager des NS-Regimes – Dachau, Mauthausen, Buchenwald. Nichts bleibt ihm erspart, der Status als politisch Prominenter wird sein Leiden noch verschärft haben, wie der Vermerk „Steinbruch“ auf einer Karteikarte der SS vom Jahre 1940 belegt.

In den KZ-Unterlagen wurde er als „prominenter Häftling“ geführt.

Was hatte es mit dem sogenannten Prominentenblock im KZ Buchenwald auf sich? Im Archiv Arolsen gibt es zwei undatierte Listen, jeweils überschrieben: „Prominente Häftlinge im K.L. Buchenwald“. Eine ist mit Sicherheit nach dem Februar 1940 angelegt worden, sie enthält Namen, darunter auch den des Dr. Wilhelm von Braun mit folgender Personenbschreibung: „Theologe, § 175, Hauptmann a.D., Polizei-Agent, Verbindungsmann zum Vatikan, Sowjetbotschafter in Rom“.  Die zweite Liste ist zwar auch überschrieben mit „Prominente Häftlinge im K.L. Buchenwald“, wurde aber in den Unterlagen des KZ Dachau gefunden. Die Eintragungen zu einzelnen Namen zeigen, dass die Liste von Mitte April 1940 stammt. Die Eintragung zu Braun ist gestrichen mit dem Vermerk 14.4.40.

Zur „Prominenz“ dieser Listen zählen u.a. Funktionäre der KPD auf Landesebene der Weimarer Republik, Hohe Staatsbeamte, katholische Priester, Militär und Gendarmerieoffiziere der ehemaligen Republiken Österreich und Tschechoslowakei.

Am 29. August 1941 wird Wilhelm von Braun durch eine Gift-Injektion ermordet. Die Schwester Bertha erhält im Winter 1941 die Habseligkeiten ihres ermordeten Bruders. Offiziell schreibt der zuständige SS-Offizier auf die Rückseite der Karteikarte mit der Auflistung des Eigentums.  „Der Nachlaß wurde am 19. Dezember 1941 der Kripo-Leitstelle Berlin zur Aushändigung an die Schwester des Verstorbenen übersandt.“

Seine Schwester, selbst dem Widerstand gegen das NS-Regime verbunden und später  vor dem „Volksgerichtshof“ angeklagt, setzte mutig durch, dass die Urne mit der Asche des Ermordeten im Familienbegräbnis auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof im Oktober 1941 ihren Platz fand.

Die Mutter Geros von Gersdorff, Bertha Friederike von Gersdorff-Büttikofer, geb. von Braun, wurde durch das NS-Regime nach dem 20. Juli 1944 festgenommen, da sie in Verbindung zu einer Widerstandsgruppe stand. Sie wurde vom „Volksgerichtshof“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und am 23. April 1945 durch die angesichts der sich nähernden Roten Armee verunsicherten Wärterinnen des Gerichtsgefängnisses in Berlin-Charlottenburg freigelassen.

Das Familienarchiv (Texte, Dokumente und Fotos) wurde uns freundlicherweise in den 90er Jahren durch den in Washington, D.C. (USA) lebenden Bruder des Rittmeisters Gero von Gersdorff und Neffen Wilhelm von Brauns, Dr. Ralph von Gersdorff, zur Verfügung gestellt. Er ist im Jahre 2006 verstorben, wie aus einem Nachruf der Washington Post hervorgeht.

Leider ist die Grabanlage der Familie von Braun mit den Grabdenkmalen des Vaters und der Mutter Wilhelm von Brauns, die noch 1978 in der von Peter Rohrlach angelegten Liste der auf dem Garnisonfriedhof vorhandenen Grabstätten aufgeführt sind (Platz 4, 3. Reihe, Nr. 299), abgeräumt worden.

Gedenken gilt ebenfalls der polnischen Widerstandskämpferin Sonia Horn, die während der Straßenkämpfe in Berlin ums Leben kam sowie zwei deutschen Soldaten, die noch in der letzten Kriegswoche bei den Kämpfen im Stadtzentrum dem Wahn der NS-Führer zum Opfer fielen – dem 18-jährigen Toni Feller (getötet am 2. Mai 1945) und dem 50-jährigen Johannes Volkmann (getötet am 27. April 1945), beide in Einzelgräbern auf dem Friedhof beigesetzt.

Dr. Dieter Weigert, Förderverein Alter Berliner Garnisonfriedhof e.V.

 

Marmorstein, Eisen und … Glas

blog-lucia-bildEinführungsworte von Dr. Dieter Weigert, Vorsitzender des Fördervereins Alter Berliner Garnisonfriedhof e. V.  zur Eröffnung der Ausstellung „Farben des ewigen Friedens“ der Berliner Malerin Lucia Fischer am 9. September 2017:

zum fünften Mal seit 2014 lädt unser Verein zur Eröffnung einer Kunstausstellung im Lapidarium und im ehemaligen Verwalterhaus des alten Offizierskirchhofs, diesmal unter dem Titel „Farben des ewigen Friedens“ und diesmal nicht figürliche, nicht gegenständliche, sondern abstrakte Kunst, Arbeiten der Berliner Malerin Lucia Fischer, einer dezidierten Vertreterin des abstrakten Expressionismus.

Angesichts dieser abstrakt-expressionistischen Arbeiten, angesichts des Fehlens jeglicher religiöser oder moralischer Symbole, der Abwesenheit von Bildern des Schreckens von Krieg und Gewalt, ebenso von figürlichen Darstellungen eines friedlichen Paradieses im Jenseits – woher nehmen wir das Recht, ihre Arbeiten unter dem Titel „Farben des ewigen Friedens“ auszustellen? Die Antwort liegt in den unendlichen Dimensionen der Farben, die auf uns einwirken und die das Leben, die Träume, den Humanismus, die Freiheit von Gewalt und Tod verkörpern. Kräftige Farben in ihrer Durchdringung, in ihrem Fluss, in den Verästelungen bis in winzige Linien und Punkte – das ist die Sprache dieser Malerin, die sie dem Krieg und der Gewalt entgegensetzt, das ist ihre Botschaft. Diese Sprache bedarf keiner Figur, keines Gegenstandes, keiner religiösen oder moralischen Symbolik. Es ist die Sprache des abstrakten Expressionismus seit Wassili Kandinsky, seit über einem Jahrhundert. Bleiben wir einen Augenblick im Geschichtlichen – der große kirgisische Dichter Tschingis Aitmatow zitierte in der Einführung zu seinem Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ Fjodor Dostojewski. Ich erlaube mir dieses eine Zitat: „Das Phantastische muss sich so eng mit dem Realen berühren, dass es nahezu glaubhaft wird.“ In diesem Satz liegt für mich das Wesen der Kunst von Lucia Fischer.
Die Absage an das Figürliche in der Periode zwischen 1900 und 1915, das Eigenleben, die Eigendynamik, die „Befreiung“ der Farben – von Lyrikern und Prosaikern wie Rilke, Dostojewski, Döblin, van Hoddis, Johannes R. Becher begleitet und inspiriert. Das Figürliche ist der Schein, das Phänomen – das Wesen, das Innere ist die Abstraktion, die nur in der Spontaneität der Farbsetzung ihren Ausdruck finden kann.
Gemeinsam ist den Dichtern und bildenden Künstlern dieser Zeit: die seelische Vertiefung, die Sensibilisierung der Kunst, die Verbindung zum Nichtmateriellen, zum Unsichtbaren und Nichtgreifbaren, sie sind politisch und weltanschaulich engagiert, sie fühlen sich mehrheitlich sozialistischen Idealen verpflichtet. In dieser Bewegung sieht sich Lucia Fischer verwurzelt – ästhetisch und weltanschaulich-politisch. Der Zufall wollte es – Hegel hätte das Wirken des Weltgeistes zur Erklärung bemüht – , dass Lucia Fischer aus der Stadt Essen kommt, der Waffenschmiede der preußischen Könige und der deutschen Kaiser, der Region, aus der die Mehrheit der auf diesem Friedhof liegenden Offiziere ihre Kanonen, Degen und Säbel bezogen.

Wie ihre Vorläufer vor über einhundert Jahren sucht Lucia Fischer nicht zu vermitteln – weder in der Kunst, noch in der Weltanschauung, noch in der Politik – sie kämpft, sie sucht neue Wege, sie reibt sich an den Widerständen, am Material, sie will neue Räume entdecken – unser bisher den Spinnweben vorbehaltenes Lapidarium wurde ihr neuestes Experimentierfeld, womit wir wieder bei den Farben wären.
Haben die einzelnen Farben für den abstrakt-expressionistischen Künstler auch keinen figürlichen Bezug, so sind sie doch nicht bedeutungslos, sie korrespondieren mit Werten, Grundmustern, die wiederum unendliche Variationsreihen und Verbindungen erlauben. Bei Wassili Kandinsky beispielsweise ist Grün die Farbe der Ruhe, ist Weiß das große Schweigen, die Spannung zwischen Blau und Gelb bedeutet ihm Leidenschaft und Geistigkeit.
Zurück zum Thema: Wir suchen in den Bildern den gegenständlichen Frieden, und was finden wir? Expressiv-abstrakte Farben in einer Formensprache, die überrascht, die verblüfft, die erregt, die alle unsere Sinne anspricht.
Die Erregung kommt aus dem Fließen der Farben, einer Technik, erfunden im Kontext der Glasinstallation von Lucia Fischer. Wie setzt sie die Farben? Die Frage ist falsch gestellt – wie bringt sie die Farben zum Fließen, wie bringt sie die Farben zum Halten, was entsteht, wenn der Farbfluss zum Halten kommt? Winzige, aber doch wahrnehmbare erhabene Spuren in der Fläche. Es ist wie beim Puddingkochen – das Bild des warmen Puddings in einer Porzellanform – das Positiv – lässt ahnen, aber nur ahnen! wie das Bild des kalten, gestürzten Puddings auf dem Teller aussehen könnte – aber erst zum Finale ist die endgültige, die negative Form erkennbar. So beim Glas – erst das Vorzeigen auch der Rückseite, auch der Unterseite führt uns zum totalen Erlebnis des Kunstwerkes. Lucia Fischers Gemälde, Aktionen, Glasinstallationen präsentieren uns Seelenzustände, die aber nicht vordergründig lesbar sind. Es bedarf einer Öffnung für jene ausdrucksstarken Bilder, für die expressive Sprache der Künstlerin, um ihr Anliegen in unsere Gefühlswelt eindringen zu lassen: der EWIGE FRIEDEN, die Abkehr von Gewalt, die Rückkehr zur natürlichen GEMEINSCHAFT mit ihren gewaltfreien, solidarischen Spielregeln, wie sie Jean-Jaques Rousseau beschrieb und Dichter wie Rainer Maria Rilke poetisch benannten.
Damit steht Lucia Fischer in der Tradition amerikanischer Künstlerinnen und Künstler des 20. Jahrhunderts, überschreitet aber vor allem in ihren Glasinstallationen die Grenzen jener amerikanisch dominierten Periode – aus dem Paint-Dripping von Jackson Pollock, dem lyrischen Action-Painting der Helen Frankenthaler und insbesondere dem leuchtenden, ostasiatisch-lustvollen spontanen Farbspielen von Sam Francis hat sie eine ästhetisch und stilistisch auch für sich selbst neue Herausforderung geschaffen, für die die Kunstwissenschaft und Kunstkritik noch eine treffende Bezeichnung finden muss.
Sehr deutlich wird diese Grenzüberschreitung doppelt sichtbar beim Vergleich des Gemäldes von Helen Frankenthaler „Blaue Raupe“ aus dem Jahr 1961 und den heutigen neun Glastafeln von Lucia Fischer.
Erstens: Diese Glastafeln, eigens für unsere Ausstellung hier in unserem Lapidarium des altehrwürdigen preußisch-deutschen Offiziersfriedhofs in einem mehrmonatigen spannungsgeladenen, intellektuell anstrengenden Prozess geschaffen, lassen jeden Bezug zur Figürlichkeit vermissen. Keine bewusste, gezielte, gewollte Andeutung einer Raupe, einer Frau, einer Blume, eines Himmelskörpers, wenn auch die spontan sich herausbildenden dominierenden Rundungen viel Raum zu spekulativen Assoziationen bieten.
Zweitens: das Material Glas verhindert das spontane Verschmelzen von Bildträger und aufgetragenen dünnflüssigen Farben mit überraschenden Ergebnissen für den Künstler und den Betrachter, das einen Wesenszug der Malerei Helen Frankenthalers ausmachte. Glas widersetzt sich solchen Bestrebungen, die spontan verlaufenden Farben bei Lucia Fischer liegen zum Teil unvermischt aufeinander und demonstrieren so den Prozess im Ergebnis, dem eigentlichen Anliegen der Künstlerin. Und das für uns Betrachter Spannende: herumwandernd erfühlen wir durch das Glas sozusagen den Entstehungsprozess ein zweites Mal beim Betrachten der Farbschichten in umgekehrter Richtung, fast wie die Wirkung eines mittelalterlichen Kirchenfensters.
Abschließend: Das heutige weltanschaulich-politische Engagement von Lucia Fischer, ihre aktive Suche nach Wegen und Formen, die menschlichen Beziehungen von Krieg und Gewalt zu befreien, übersteigt den Einsatz der Helen Frankenthaler und ihrer Freunde in den USA der Nachkriegszeit des letzten Jahrhunderts für Bürgerrechte und intellektuelle Freiheiten. So ist auch Lucia Fischers Traum zu verstehen, ihre Glastafeln vielleicht eines Tages in Berliner oder Potsdamer Kirchen zu finden, deren Gemeinden sich weltanschaulich den globalen Zielen des ewigen Friedens, der Gewaltlosigkeit und des Humanismus verpflichtet fühlen. Auf diese Art hat sich Lucia Fischer auch mit dem Motto des diesjährigen Tages des offenen Denkmals MACHT UND PRACHT auseinandergesetzt: die Pracht der Farben gegen die Macht des Krieges – die Farben des ewigen Friedens gegen eine Zukunft des Krieges.

 

 

 

Natali Legance‘ Fotokunst zwischen klassizistischen Grabmalen

Der Zufall führte mich vor vier Jahren mit der Berliner Fotokünstlerin Natali Legance zusammen, wir vereinbarten die Präsentation einiger ihrer Fotos in den Ausstellungsräumen auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof und … waren ein Jahr später beiee vollommen überrascht von der ästhetischen Wirkung dieser Zusammenarbeit. Der Nachhall ist noch heute zu vernehmen, deshalb wage ich die Veröffentlichung meiner Eröffnungsrede zur Vernissage im Mai 2015

Wir haben Sie , verehrte Gäste

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zu einer Vernissage und zwei Premieren eingeladen, danke dass Sie so zahlreich erschienen sind. Es ist die Premiere einer jungen Künstlerin – sie tritt mit ihren photographischen Arbeiten erstmalig an die Öffentlichkeit. Natali Legance ist in Georgien geboren, erhielt ihre allgemeine und musischen Ausbildungen in Israel und arbeitet seit Jahren als Ärztin in Berlin.

Für den Förderverein ist die Präsentation von Fotokunst im Lapidarium ebenfalls eine Premiere:  zwischen die ehrwürdigen Sandsteine, Marmorstücke aus Carrara und Schlesien, zwischen die gusseisernen Kreuze und Gipsabformungen haben wir für einige Monate moderne Fotographie gehängt. Das ist spannend, erregend, unkonventionell.

Gefragt sind unsere Impressionen – ich werde Ihnen meine mitteilen und hoffe auf einen fruchtbaren Dialog.

Was Natali präsentiert, gruppiert sich vornehmlich um Arbeiten der digitalen Photographie. Modern, revolutionär an dieser Art von Photographie und Bildbearbeitung ist das In-die-Tiefe-Gehen, die Unzufriedenheit mit der klassischen Einheit und Geschlossenheit des Bildes, das Infragestellen der traditionellen Linearität.

Werden wir konkret – sehen wir uns die Gruppe von Fotos an jener Wand an, deren Motive auf den ersten Blick Wasserspiegelungen sind. Der Amateurfotograf ist entsetzt, wenn eine Ente oder ein von einem Kind geworfener Stein die glatte Wasseroberfläche  zerstört, in der sich ein farbenprächtiges Schloss spiegelt. Natali aber ergreift die Chance der gebrochenen Spiegelung und vermittelt uns die moderne philosophische Bot­schaft: die digitalen Pixel als die letzten Bausteine des photographischen Bildes  lösen die strengen Linien des Mauer­werks auf, Pixel zerlegen die Kontinuität, eine neue, nun virtuelle Gesamtheit wird uns vor Augen geführt. Neue Sichtweisen entstehen, darauf folgen neue Denkweisen – in einer Zeit, wo scheinbar logische Abfolgen wie Krieg, Leiden, Zerstörung außer Kraft gesetzt werden müssen.

Folgen wir der Natalis Logik, so kann am Ende nur die Abstraktion, die Un-Gegenständlichkeit stehen – da hängt sie, jene drei Bilder an der gegenüber­stehenden Wand.  Die Linien sind absolut zerbrochen, von der Ursache der Zerstörung der Einheit, dort noch die Wellen­be­wegung des Wassers, ist hier abstrahiert. Der Philosoph in mir sagt: Die Pixel haben die Photographie revolutioniert – eine virtuelle Realität entsteht – Es ist die Visualisierung des normalerweise Verborgenen. Nur dadurch aber kann moderne Kunst ungewöhnliche Sichtweisen erschaffen oder unsere Sehtraditionen und Denk­traditionen verändern helfen. Wir nötig die Welt solche Veränderung hat, macht uns der Blick auf jene Steinbrocken zwischen beiden Wänden unseres Lapidariums: es sind in den letzten Jahren gefundene Bauteile der 1943 durch Bomben zerstörten Berliner Garnisonkirche am Hackeschen Markt, Steine aus den Werkstätten der königlichen Baumeister Gerlach und Stüler.

Die dritte Richtung dieser neuen Ästhetik wird repräsentiert durch ein einziges Foto: Ein toter Hauseingang, eine Ruine aus der georgischen Hauptstadt Tbilissi des Jahres 1992. Georgien – damals wie heute noch Krise und Bürgerkrieg, versteckt und offen.  Ein georgisches Wohnhaus – aber mit der Wirkung eines menschenleeren Bühnenturms im Theater ohne Kulissen, das Kulissenartige scheint die harten Realitäten des Krieges, des Brudermordes – nichts anderes ist ja Bürgerkrieg – zu übertünchen. Natali schiebt in diesen Photographien die Kulissen beiseite, öffnet uns den Blick – oder wie Stanley Kubrick in einem seiner Filme titelt: EYES WIDE SHUT! Vor der Realität der weltweiten politischen Krisen und Bürgerkriege kann man und muss man die Augen nicht verschließen.

Die photographische Botschaft auch hier wieder: weg mit den bisherigen Seh- und Denk­gewohnheiten – wir dürfen uns nicht an den Anblick von Ruinen und von Menschen entleerten Gebäuden gewöhnen ! Natali ver­frem­det den Anblick der Ruine, damit keine neuen Ruinen entstehen!!! Sie fotografiert nicht die Toten des Bürgerkrieges oder die Verletzten, sie fotografiert den toten Stein, das vergewaltigte Haus, die zerstörte Glasscheibe im Haus – noch dominieren die grauen und schwarzen Töne, aber Sonne und Licht erobern sich zaghaft ihren Raum im zerstörten Haus zurück, damit gibt es Hoffnung, Zukunft, Leben. Kontrapunkt des photographierten georgischen Hauses – jenes Photo, zu dessen näher Betrachtung der Gang die Treppe hinauf einlädt.

Für mich sofort eine instinktive Assoziation zu meinem Photo-Idol, dem Franzosen Henri Cartier-Bresson und seinem bekannten Schnappschuss aus dem Paris des Jahres 1952 – es zeigt zwei ältere Damen auf dem Bürgersteig, zwischen ihnen der drängelnder Hund. Paris auch des Umfeld der Frau mit Kind – ein Schnappschuss ebenfalls mit aktuellem Hintergrund – die beiden streben auseinander, gehören aber zusammen

Krönender Abschluss  – das sind die Lichtreflexe Caravaccios auf dem dahinschwebenden Oberkörper in der Diagonale des Bildes eines leidenden, die nackte Brust mit den Händen beschützenden und verhüllenden jungen Mannes, das Gesicht schon fast in der Dunkelheit verschwindend – Leiden Zerstörung Kontinuität

Ein Knabe, ein heranwachsender junger Mann, aus dem Bildrahmen diagonal hinausstrebend – vielleicht flüchtend vor einer körperlichen Bedrohung, Hilfe suchend. Das Motiv des diagonal hinausstrebenden Mannes ist so alt wie die bildende Kunst selbst – die Speerwerfer und Diskuswerfer der Antike, die diagonal nach oben springenden Tänzer – sie sind aktiv, kämpfend, die Pose ist nicht die des Leidenden, des Schutzsuchenden. Hier aber sehen wir Caravaggios Johannes der Täufer, El Grecos Verkündigung, die Assoziationen aus der Malerei drängen sich auf. Und Brüche drängen sich dazwischen – Egon Schieles Akte, in denen sich der Zerrissene, Zerbrechliche selbst darstellt – schließlich die Ikone des Homoerotischen – der von Pfeilen durchbohrte, nach oben aus dem Bild strebende, stumm um Hilfe schreiende heilige Sebastian! So kommen wir von der Malerei der Gotik und Renaissance zur Fotografie. Diesen von Natalie fotografierten jungen Mann muss man retten, muss man schützen, vielleicht sogar vor sich selbst! Natali fotografierte ihn nicht schrill, nicht laut, sie zeichnete ihn behutsam, helfend, verstehend, solidarisch, seine Tragik begreifend, die sich aber erst  auf den zweiten, oder gar erst auf den dritten Blick erschließt.

Zwischen den Fotos des Knaben und der Ruine des Hauses hängt das Marmorkreuz vom Grabe des Garnisonpfarrers Emil Frommel – eine fast unerträgliche Spannung! Frommel war ein erzkonservativer Prediger des Krieges, ein enger Freund Kaiser Wilhelm I. Wer war der Bildhauer Trebst? Ein Schüler des großen Fritz Schaper, des Kaisers Monumentalbildhauers, nationalistisch wie Frommel selbst.

Natali neben Frommel, ihre Fotos neben dem Jesus am Kreuz aus Carrara-Marmor, ihre Bilder gegen den Kriegspropagandisten Emil Frommel, der Engel der Verkündigung gegen den protestantischen Pietisten, Caravaccios Knabe gegen den Freund des Kaisers. Hegels List der Vernunft zeigt sich beim näheren Hinsehen ebenfalls am Marmor – Christus hat nach einem Jahrhundert Berliner Lufteinwirkung seine Spitzen verloren – eine stumpfe Dornenkrone, Hände und Füße ohne feine Endungen.

Spannend auch die künstlerischen Widersprüche in der Fotografie Natalis zu den Bildwerken des Friedhofs, den Biographien der Offiziere, zu den Arbeiten der bildenden Künstler und Gestalter, zu Schinkel, Tieck und Soller. Noch spannender aber ist die Beziehung des Knaben zu jenem jungen Steinmetzen George Fromme, der bei einem Arbeitsunfall 1802 am Berliner Schloss ums Leben kam. Von diesem Knaben haben wir kein Porträt, nur eine Steinplatte. Sie ist in viele Teile zerschlagen, aber für den Betrachter wieder zusammengefügt, so dass wir den Text lesen können, der von der Folgsamkeit des Knaben Georg berichtet. Es schließt sich der Kreis – ich wünsche Besinnung beim Betrachten –

Philosophischer Epilog:

Diese Photokunst fällt aus dem Rahmen, sie greift zurück auf Fragenstellungen seit der Antike und lässt sie wortwörtlich in neuem Licht erscheinen. Erinnern wir uns an den Wettlauf von Achill mit der Schildkröte?,  an Zenon von Elea?  Die Photographie ist schon immer ästhetisierend und grafisch – aber heute ist nicht der Zeitpunkt des Draufdrückens so bedeutend wie etwa bei Henri Cartier-Bresson (im richtigen Moment am richtigen Ort sein), sondern der entscheidende Blick auf den Fluss der Dinge, das Herausholen des Diskreten aus der Kontinuität.  Zusammengefasst: Pixel ist diskret, ist Trennung, Heraushebung, endlich – Linie dagegen  ist kontinuierlich, ist Einheit, ist unendlich, ist Tradition. Unser bisheriges Sehen und Denken ist auf Kontinuum gerichtet, die Linie, die Gesamtwirkung eines Bildes. Das gilt es zu durchbrechen – die ausgewählten Fotoarbeiten von Natali zeigen uns die Richtung.

Beginnen wir die Betrachtung bei jenem uns so vertraut scheinenden Motiv der Auflösung von Linien durch Spiegelung im Wasser, mehrfach variiert. Wellenförmige verzerrte Spiegelungen machen aus kantigen Formen des Mauerwerks organische Gestaltungen, machen aus strengen Horizontalen und Vertikalen lebendige Ornamente. Das Mauerwerk löst sich auf. Das konkrete Foto wird zur Abstraktion. Was soll‘s? werden manche denken, Nichts Neues, nichts Spannendes.

Das erste spannende Moment ist jener tonnenschwere Stein, der da vor uns liegt. Er hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich, bevor er hier auf dem Friedhof durch uns vor sechs Jahren zur letzten Ruhe gebettet wurde – er symbolisiert Krieg und Zerstörung – diese Säulentrommel war tragendes Element des Eckturmes der Berliner Garnisonkirche am Hackeschen Markt, zerstört durch Fliegerbomben im Jahre 1943. Mauerwerk ist endlich, ist zerstörbar durch Feuer und Wasser – das ist die spannende Botschaft in dieser Eckes des Lapidariums.

Das Neue, das Revolutionäre dieser Fotos – im Wasser ist kein ästhetisch schönes Spiegelbild zu sehen, sondern die Bewegung des Wassers zerstört die scheinbar festen Mauern, das für die Ewigkeit errichtete Mauerwerk. Die Pixel lösen die bisherigen Strukturen auf, der Hegelsche Ausgangspunkt der Philosophie der Neuzeit – alles was entsteht ist wert dass es zugrunde geht! Also – Krieg, Leiden, Zerstörung als Instrument des Weltgeistes? Genau das stellt Natali durch ihre Art des Fotografierens in Frage!

Denn: gehen wir zur zweiten Gruppe der Fotos – auch hier die aufgelösten Linien, aber das auflösende Moment ist nicht zu sehen. In der Abstraktion bleibt das Resultat: Zerschlagung fester Strukturen. Der Mensch steht ohnmächtig, nicht begreifend vor dem Chaos der zerbrochenen Linien, das Material ist noch vorhanden, nicht mehr die Strukturen.  Der Altartisch Stülers aus schlesischem Marmor und die wenigen geretteten Steine aus der zerstörten Garnisonkirche unter diesen Fotos bedeuten die Auflösung Preußens als Staat, als Ordnungsfaktor im Feuer des Krieges, so wie die Zurückführung des scheinbar einheitlichen Bildes der Weltordnung auf Pixel. Kirchen zu zerstören durch Bomben, durch Sprengung – dagegen muss man sich wehren, aus Ohnmacht wächst Widerstand – eine alte Losung der Demokraten.

 

Rühle von Lilienstern II – Auction in der Burgstrasse 10

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anno 1848 – am 10. April. Unruhige Tage im revolutionärer Berlin. Angereist sind Kunsthändler von Rang aus Kopenhagen, London, aus Köln, Hamburg, Breslau, Leipzig, Braunschweig, anwesend die Herren Meyer und Walter aus Berlin. 56 wertvolle Stücke kommen unter den Hammer – von Hans Holbein bis Bartolomé Esteban Murillo. Eine Sammlung aus dem Nachlass des preußischen Generals Rühle von Lilienstern, verstorben vor einem Dreivierteljahr in Salzburg.

Wer war dieser General, dessen Name nicht nur den Militärhistorikern, sondern auch den Germanisten und Kunstwissenschaftlern geläufig ist, dessen Schriften auch heute noch im renommierten Wiener Karolinger Verlag herausgegeben werden (Man lasse sich nicht durch die martialisch anmutenden Titel abschrecken – „Reise mit der Armee 1809“ oder „Apologie des Krieges).

Geboren wurde er 1780 in der Prignitz, im kleinen Dörfchen Königsberg, das Gutshaus aus jener Periode steht noch, mehrfach umgebaut, eine Schule angehängt, aber doch noch erkennbar als Schmuckstück der einfachen adligen Grundbesitzerfamilie aus friderizianischen Zeiten. Der Vater schickte den 13-Jährigen in die Berliner Kadettenanstalt, dort fiel Johann Jakob Otto August durch Fleiß, Neugier, Sprachbegabung und und Zeichentalent auf. Nicht verwunderlich, waren doch zwei seiner Professoren die in der Kulturszene der königlichen Residenz hochangesehenen und später in Spitzenpositionen gelangten Karl Wilhelm Ramler (Intendant des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt)  und Heinrich von Minutoli (einer der Gründungsväter der ägyptischen Sammlungen).  Der begabte Jüngling erstieg schnell die ersten Sprossen der militärischen Stufenleiter, schon mit 15 Jahren ist er Fähnrich in der Potsdamer königlichen Garde. Obwohl ihm die Kriegserfahrung fehlt, ist er bald Leutnant im Regiment Nr. 5, versetzt dank seines Zeichentalents in die „Plankammer“, der topografischen Abteilung des Generalstabes.

In jenem Potsdamer Eliteregiment kommt es zur schicksalhaften Begegnung mit dem Leutnant Heinrich von Kleist, beide vereint in der Ablehnung des Kadavergehorsams, der Säule der preußischen Armee, für denkende und humanistisch gesinnte Offiziere in der Periode der Aufklärung eine Schande, ein hassenswertes Überbleibsel aus den Tagen des großen Friedrich. Kleist demissioniert, Rühle von Lilienstern bleibt, aber in der Nische der Plankammer. Ihre enge Freundschaft überdauert die Jahre, überdauert den nächsten Krieg, ihr Idol wird der  Stabsoffizier Christian von Massenbach, einer der politisierenden Köpfe in Preußens Militär, der den Leutnant Rühle von Lilienstern in die Gruppe der jungen Talente aufnimmt, denen er in der „Militärischen Gesellschaft zu Berlin“, in der „École de génie de Potsdam“ und in einer topographischen Spezialeinheit des Generalstabes eine Sonderausbildung zukommen lässt.

Informell wird Rühle persönlicher Adjutant des Obersten von Massenbach, teilt auch dessen politische Auffassung, dass nicht das revolutionäre Frankreich, sondern die konservativen Mächte Russland, Österreich und England die strategischen Gegner Preußens seien. Der Oktober 1806 findet Rühle nun offiziell als Adjutant im Stab des Fürsten Hohenlohe, kommandiert von Massenbach, verheerend geschlagen durch die Truppen Napoleons in Thüringen. Rühle veröffentlicht als einer der Ersten einen schonungslosen Bericht über den Zusammenbruch von Armee und Staat Preußens in jenem Herbst („Bericht eines Augenzeugen …“, herausgegeben bei Cotta in Tübingen). Dem Schicksal der längeren Gefangenschaft entgangen, trifft Rühle 1807 seinen Freund Kleist in Dresden wieder und wird in die kulturpolitischen Auseinandersetzungen um die neue Ästhetik der Künstlergruppe um Caspar David Friedrich hineingezogen. Seine publizistischen Arbeiten aus diesen Jahren sind heute noch lesenswert, insbesondere zum Gemälde „Kreuz im Gebirge“. Er unterstützt Kleist bei der Herausgabe der Zeitschrift „Phoenix“, im Ringen um die Aufführung der Theaterstücke, beim Aufspüren von Geldmitteln.

Nach dem Tode Kleists und dem Ende der Napoleonischen Kriege wird Rühle zu einem der herausragenden und geschätzten höheren Offiziere im Berliner Großen Generalstab Preußens. Er initiiert die Schaffung eines eigenen lithograpischen Instituts der Armee, setzt sich leidenschaftlich für die Erhöhung der Qualität der Kartographie ein, für intensive Forschungen auf den Gebieten der Orientalistik, der Afrikanistik, der Statistik, der Wirtschaftsgeographie. So ist es nicht verwunderlich, dass der nunmehrige General Rühle von Lilienstern, Abteilungsleiter im Generalstab, im engen Kontakt zu den Freunden in Dresden, Weimar, Erfurt, Jena und im Rheinland sich auf dem Laufenden hält über neuen Tendenzen der Kunst- und Literaturszene und auch auf dem Kunstmarkt aktiv ist. (Interessierte können jenes Auktionsverzeichnis ab Mitte Oktober auf Anfrage über meine e-mail-Adresse dr.dieter.weigert@gmail.com bestellen)

Dr. Dieter Weigert, 29. September 2018

 

Die Grenzüberschreitungen des Christian von Massenbach

Massenbach

Als er das Licht der Welt erblickt hatte, stand seine Wiege in der Stadt Schmalkalden, heute in den Grenzen des Landes Thüringen, damals dem Herrscher von Hessen-Kassel gehörig.

Schloss Massenbach, heutiger Zustand

Das Schloss seiner Familie jedoch lag im Württembergischen, in der Nähe von Heilbronn – der Vater unseres Helden war als beschäftigungsloser Offizier in hessische Dienste getreten und …

der Vater – Georg Wilhelm von Massenbach

nach Schmalkalden abkommandiert worden.

Die Wilhelmsburg (Schmalkalden, Thüringen, im Jahre 1758 zu Hessen gehörig)

So also wurde Grenzüberschreitung im Jahre 1758 dem Knaben Christian als familiäre Mitgift in die Wiege gelegt.

Bruder Ferdinand, um 1810 in Berlin mit Heinrich von Kleist befreundet

Dem württembergischen Herzog lag viel an der Bildung und Erziehung seiner Landeskinder, deshalb holte er Christian und zwei seiner Brüder auf die Lateinschule nach Ludwigsburg und auf die neugegründete Universität, die „Hohe Karlsschule“ nach Stuttgart.

Bruden Julian, schon mit 12 Jahren gestorben

Wir meinen heute den üblen Ruf jener „Pflanzschule“ zu kennen, hatte doch der Herzog den Zögling Friedrich Schiller daran gehindert, seinen poetischen Neigungen nachzugehen und ihn zum Studium der Rechtswissenschaft und danach der Medizin zu zwingen. Möglicherweise hatte unser Christian an jenen verbotenen nächtlichen Lesungen des künftigen Dramatikers Schillers teilgenommen, blieb aber davon unbeeindruckt und absolvierte mit Erfolg seine Studien im Felde der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Ballistik, was ihm den Rang eines Artillerie-Leutnants in der kleinen Armee des Herzogs einbrachte.

Jakob Friedrich Rösch, Professor für Militärwissenschaften an der Hohen Karlsschule

Die Ferne jedoch lockte, der Drang zum Ausbruch aus der Enge, zum Überwinden der Grenzen des Herzogtums wurde übermächtig, der Offizier verließ ohne Genehmigung seinen Standort und meldete sich in Potsdam beim Idealtyp des Herrschers, dem preußischen König Friedrich. Solche wagemutigen Kerle gefielen der Majestät, nach zwei Tagen harter theoretischer und praktischer Prüfung versprach er Christian ein Offizierspatent in seinem Heer – wenn er persönlich beim wutentbrannten Herzog die Genehmigung zum legalen Übertritt nach Potsdam erreichen sollte. Die goldene Zukunft vor Augen,schaffte auch das unser Held und durfte nun anstatt eng begrenzter taktischer Aufgaben in Stuttgart grenzüberschreitende strategische Probleme von europäischem Format im preußischen Generalstab bearbeiten.

Mit königlicher Erlaubnis nahm nun Christian eine Grenze besonderer Art in Angriff, die Überwindung der konfessionellen Schranken zwischen den Lagern der Lutheraner und der Französisch-Reformierten, der Hugenotten. Natürlich auf rein familiärer Ebene, nicht politisch! Er hatte sich zur Gemahlin die Tochter eines reformierten Geistlichen erwählt, Amélie Gualtieri aus Rheinsberg.

Grabstein der Ehefrau Massenbachs im Wald von Bialokosz

Wie eng es in der preußischen Hofgesellschaft zuging, zeigt sich daran, dass Amélies Schwester Marie einen von Kleist heiratete und in die Literaturgeschichte als jene Hofdame der Königin Luise einging, die durch moralische und regelmäßige finanzielle Unterstützung den ständig in Geldsorgen sich befindlichen Dichter Heinrich von Kleist unterstützte.Nach dem Tode des großen Friedrich traten die politischen Grenzen als Herausforderung in der militärischen Laufbahn Christians in den Vordergrund. Auf halbem Wege zwischen Küstrin und Posen hatte der neue preußische König Friedrich Wilhelm II. dem nunmehrigen Obristen im Generalstab mehrere Rittergüter aus der Kriegsbeute nach der Niederschlagung des polnischen Aufstandes von 1794/95 übereignet – ohne Grenzzäune konnte Christian nun aus der Mark Brandenburg ins königliche Südpreußen reisen, was nicht von Dauer war, aber zu Lebzeiten Christians galt. Die Kenntnisse und praktischen Erfahrungen eins Artillerieoffiziers befähigten Christian von Massdenbach, ein größeres Gutshaus, fast schon Schloß, zu entwerfen und und den Bau zu leiten.

(aus dem Katalog der Massenbach-Ausstellung von 2006)

Idyllisch gelegen am Ufer eines Sees das schlossartige Gutshaus von Bialokosz – heute noch zu besichtigen, als Hotel genutzt!

Die Niederlagen der preußischen Armee gegen die Heere der französischen Republik (bei Goethe ist das Debakel bei Valmy nachzulesen) und Napoleons bei Jena und Auerstedt veränderten grundlegend das Schicksal des ehemals so erfolgreichen Offiziers Christian von M.

Demokratenjäger Metternichs Geheimakte incl. Spitzelberichte aus studentischen Kreisen über die politischen Aktivitäten Massenbachs

Er bäumte sich auf, überschritt bewusst die Grenze vom gehorsamen Untertanen zum disziplinlosen Widerständler – vor allem nach 1815, als die politische Reaktion in ganz Deutschland durch den Einsatz aller Mittel der Gewalt, der Justiz, der Manipulation liberale und demokratische Persönlichkeiten wie Christian zum Schweigen brachte.

Die berüchtigte Festung Glatz, in der Massenbach zehn Jahre wegen „Hochverrats“ eingekerkert war

Als Fußnote nur ging in die Geschichtsschreibung ein, dass Christian von Massenbach (hier nun sollte der authentische Name doch einmal genannt werden) im Jahre 1817 trotz seiner politischen Erfahrungen der Illusion erlag, dass sich konservative Herrschaftssysteme an vereinbarte Grenzen halten. Er vertraute dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass preußische Soldaten in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main keine Exekutivfunktion ausüben dürften – und wurde über mehrere Grenzen innerhalb des Deutschen Bundes nach der Festung Küstrin an der Oder verschleppt, wo über ihn ein preußisches Kriegsgericht das von ganz oben gewünschte Urteil sprach – den sicheren Tod vor Augen wurde er nach zehn Jahren aus der mörderischen schlesischen Festung Glatz in sein Gutshaus Bialokosz entlassen.

Grabanlage Christian von Massenbachs und seiner Tochter im Wald von Bialokozc

Dieter Weigert, Berlin 2022

 

 

 

Neugier und Würde

Mit von weither angereisten Lehrer*Innen und Lehrern durch das alte und neue Berlin, durch Potsdam, Frankfurt an der Oder und Erkner zu wandern, historische Plätze zu erkunden und in lebendigen Debatten manchmal auch den Faden zu verlieren – das bringt Gewinn für alle Beteiligten. Mein Erlös: ein Zuwachs an Neugier! Erschöpft vom Reden, vom intensiven Suchen nach den richtigen Worten, den korrekten historischen und biographischen Daten finde ich so schnell keine Ruhe. Was mich noch Stunden und Tage danach bewegt ist die einfache und doch so umtreibende Frage – wie gelingt es einer Lehrer*In oder einem Lehrer, die ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen mit jener unersättlichen Neugier, jenem Drang nach Wissen auszustatten, die ihn sein Leben lang antreiben sollten.

Aus meiner Schul- und Berufsschulzeit sind mir diejenigen Pädagogen heute noch plastisch in Erinnerung, die mir auf meine ausgefallenen Fragen nicht sofort eine Antwort geben konnten, sondern um einige Tage Geduld baten. Offen verrieten sie mir ihre Unkenntnis, ihr Teilwissen, ihre Lücken in der historischen Chronologie, auch manchmal ihre tief begründete Abneigung gegen gewisse Themen oder Phrasen im Lesebuch, im verordneten Lehrstoff.

Diese Menschen strahlten Würde aus, bewusst oder unbewusst regten sie uns zum Bruch mit den althergebrachten Gewohnheiten an. Alles drehte sich um Neugier, um Interessen, um das Hinaustreten aus dem Bekannten, dem Gewöhnlichen, um das Verstehen fremder Sprachen beim Betrachten und Tauschen ausländischer Briefmarken.

Ich glaube nicht, dass die uns anvertrauten Schüler*Innen und Schüler heute noch so gierig auf Briefmarken aus der Südsee sind wie wir damals. Aber die nicht-englischen Begriffe in der online-Kommunikation könnten ähnlich neugierig machen – wenn wir sie danach fragen, respektvoll, würdevoll, ihre Persönlichkeit achtend.

Meine Erfahrungen der letzten Jahre sagen mir: Digitalisierung und Globalisierung sollten sich im Verhältnis zu den „Zöglingen“ nicht darauf beschränken, mit ihnen über die von den Eltern angebotenen touristischen Highlights zu sprechen, die Schnappschüsse oder Videoclips der mobilen Technik zu kommentieren. Wir sollten solche Fragen zu stellen, die zum Verlassen der eingezäunten Areale in Afrika, in der Karibik, in Ostasien anregen – somit der Neugier und der Würde den Platz einräumen, der uns eigentlich in der globalen Gemeinschaft zu Partnern und nicht zu Besuchern im großen Welt-Zoo macht. Wenn die Schüler*Innen und Schüler dann manchmal gegenüber ihren Eltern oder auch im Freundeskreis Widerstände überwinden müssen, kann das nur gut sein.

Dr. Dieter Weigert, Deutsch-Nordamerikanische Gesellschaft für Lehrerfortbildung Berlin (DENAG)

 

 

 

Rühle von Lilienstern oder Wie kannst du nur . . .

. . . ungezählte Stunden deiner kostbaren Lebenszeit damit verbringen, über die Jugend, über die Liebe, die Taten und Untaten preußischer Offiziere, über ihre Grabmonumente nachzudenken, ihre hinterlassenen Schriften zu studieren? Schlagetots waren sie doch alle, die von Arnim, die von Holtzendorff, von Stülpnagel, von Tempelhoff, von Kleist … Da bricht der Redefluss der Diskutantin […]

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. . . ungezählte Stunden deiner kostbaren Lebenszeit damit verbringen, über die Jugend, über die Liebe, die Taten und Untaten preußischer Offiziere, über ihre Grabmonumente nachzudenken, ihre hinterlassenen Schriften zu studieren? Schlagetots waren sie doch alle, die von Arnim, die von Holtzendorff, von Stülpnagel, von Tempelhoff, von Kleist … Da bricht der Redefluss der Diskutantin ab, bekommt das festgefügte Klischee Risse – war da nicht etwas mit dem Namen Kleist? Gab es da nicht einen preußischen Leutnant von Kleist, der zufällig Dichter, Dramatiker, Erzähler, Journalist und Selbstmörder war?

Ich setze an, von einem gewissen Rühle von Lilienstern zu erzählen, Otto August etc. , Heinrich von Kleists bestem Freund, der es in der preußischen Armee vom Fahnenjunker zum Generalleutnant gebracht hatte. Alles andere als ein Schlagetot, ein begnadeter Zeichner, Stratege, Kunstkenner, Humanist mit demokratischen Idealen. Und dann zeige ich der Diskutantin eine Zeichnung, die jener von Lilienstern in meiner Heimatstadt Erfurt auf dem Domplatz vor 200 Jahren angefertigt hatte. Die Verblüffung ist groß. Hier nun die Zeichnung:

Fortsetzung nächste Woche

Eine Sternschnuppe am Niederrhein

Rhein-2

Es war einmal – vor über drei Jahrhunderten – ein Lustschlösschen in Berlin am rechten Ufer der Spree; die Bomben des letzten Krieges ließen davon nichts als eine ausgebrannte Ruine. An seiner Stelle errichteten die Überlebenden einen Park mit Spielplätzen und einem Schwimmbad für Kinder – eben in Erinnerung an das verschwundene Gebäude Monbijoupark genannt, gegenüber dem monumentalen Bode-Museum. Heute kann man dort Tango tanzen, sich in einem Shakespeare’schen Sommertheater an Schillers Räubern ergötzen oder einfach nur am Wasser flanieren.

Das Schicksal einer der hochherrschaftlichen Schlossbewohnerinnen fiel mir wieder ein als ich an einem warmen Sommerabend auf der Bank der Uferpromenade von Emmerich an der Grenze zu Holland saß und auf den Einbruch der Dunkelheit wartete. Endlich war sie da, mit ihr der Halbmond über dem Rhein; manche helle, sich bewegende Punkte am Himmel und auch eine lange leuchtende, endlich verglühende Sternschnuppe, die ich Catharina nannte in Gedanken an jenes Mädchen vom Niederrhein, wahrscheinlich aus Emmerich oder Kleve.

Die siebzehnjährige, kluge, gewandte, zielstrebige Schönheit träumte vom Glanz der Residenzen in Versailles, Wien, London. Als Frau waren ihre Chancen gering, aus eigener Kraft gesellschaftlich aufzusteigen – die Universitäten waren ihr verschlossen, verwehrt die Laufbahnen der Kirche, der Verwaltung oder gar des Militärs. Es blieben die Waffen der Frau. Jedoch der Vater, Christoffel Rykers, Bierbauer, Gastwirt, kleiner Zollbeamter (einträgliche Kombination in der Grenzregion) hatte andere Pläne mit Catharina. Er gab das Mädchen dem Peter Bidecap zur Ehefrau, einem anderen ebenfalls niedrigen Beamten im Dienst des Berliner Kurfürsten. Warum der Bidecap nach nur drei Ehejahren schon starb, ist nicht überliefert. Aber so war der Weg frei für die junge Witwe, sich mit ihrem Geliebten, dem ranghöheren Berliner kurfürstlichen Rat Johann Casimir Kolbe von Wartenberg,

auf die Fahrt in die entfernte Residenz zu machen und dort im Bunde mit anderen aufstrebenden Höflingen als Gräfin von Wartenberg die Nähe der frisch gekrönten königlichen Majestät zu suchen. Schillers Lady Milford im Stück „Kabale und Liebe“ war als fürstliche Mätresse angesichts der Intrigen Catharinas nur ein schwacher Aufguss. Graf Casimir schob seine Geliebte und nunmehrige Ehefrau dem König ins Bett, die Favoritin logierte jetzt im Monbijou, ein rauchendes Festjagte das nächste – Wartenberg wurde für seine Verdienste kaiserliche Reichsgraf, Erster Minister des Königs, der Komplice von Wittgenstein wurde Finanzminister, der immer neue Schulden aufhäufte, immer neue Steuern und Abgaben erfand, um die Festlichkeiten des Hofes und die kostspieligen Launen und Intrigen der Mätresse im Monbijou bezahlen zu können.

Das Märchen fand ein böses Ende, der Traum platzte: die durch die Wartenbergs gestürzten und davongejagten Konkurrenten fanden für ihre Rachepläne einen willigen und charakterstarken Höfling, der sich an die Spitze der Jagd stellte – den Kronprinzen Friedrich Wilhelm, der um sein finanzielles und materielles Erbe fürchtete. Der Kronprinz rang dem Vater die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ab, damit war das schmähliche Ende der Kabalen, der jähe Sturz der Mätresse und ihrer Clique eingeläutet – zum Weihnachtsfest 1710. Wie sie aufgetaucht war am königlichen Himmel, verlosch die Sternschnuppe vom Niederrhein.  Verarmt, aus dem Monbijou vertrieben, Spielerin und Spielball in einem, aus dem Bett des derzeitigen Liebhabers Lord Raby, des englischen Botschafters, in die Winterkälte, ins Fast-Nichts zurückgestoßen. Über Frankfurt am Main setzte sie sich nach Paris ab, ließ sich von französischen Diplomaten aushalten und starb 1734 im Alter von sechzig Jahren.

Epilog: Als ich auf der Rheinpromenade in Emmerich über das Schicksal Catharinas nachsann, regte sich das Gewissen des Historikers und Publizisten. Gutgläubig hatte ich 1997 im Vertrauen auf preußische Hofberichterstatter und Legendenschreiber den Stab über die Frau vom Niederrhein gebrochen und sie in meinem Buch „Der Hackesche Markt. Kulturgeschichte eines Berliner Platzes“ in eine Reihe mit den damaligen Prostituierten gestellt, ohne mich der Mühe eigener Recherchen zu unterziehen. Heute wollte ich Gerechtigkeit walten lassen – ich kann nur hoffen, dass meine verehrten Leser mich verstehen und mir verzeihen!

Dieter Weigert, Berlin- Prenzlauer Berg   im Juli 2022 (Hitzewelle !)