Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder Leutnant Heinrich und Generalsuperintendent Josias: Folge 2

An der Saale – Josias Löfflers Oma Margarete   

Saalfeld – Rathaus mit Wohnhaus der Familie Löffler

Fragende Blicke von Edda ! Sie kannte bis gestern den Josias Löffler nicht.

Kleist hatte sie 1-mal im Weimarer Theater getroffen – Titel, Akteure, Regisseur und Thema vergessen. Den Rest des Frankfurter Poeten mal in der Schule recht und schlecht hinter sich gebracht.

Also war da ein starkes Bedürfnis nach Aufklärung: Umstritten ist das Erbe des Josias Friedrich Christian Löffler bis heute, wie das aller Rebellen. Und ein Rebell war er, der Prediger und Superintendent, den Gotha, Frankfurt/Oder und Berlin für sich reklamieren, der Spuren hinterlassen hat in Saalfeld, Halle/Saale, Züllichau, heute auf Polnisch: Sulechow.  Eines der merkwürdigsten Steinchen im farbenfreudigen, strahlenden Mosaikbild, auf das alle Wege hinlaufen, auf das Motive und Interessen der meisten handelnden Figuren unserer Suche  gerichtet sind, findet sich in der gotischen Kirche St. Marien in Frankfurt an der Oder, eines der protestantischen Gotteshäuser, für das der Theologe, Kirchenpolitiker und Lehrer Löffler im Laufe seiner jahrzehntelangen Tätigkeit Verantwortung trug. Um präzise zu sein – nicht der Kirchenbau, nicht die theologischen Debatten, nicht die personellen Auseinandersetzungen Löfflers innerhalb der Stadt und an der Universität von Frankfurt an der Oder zwischen 1779 und 1787 stehen im Zentrum unserer Aufmerksamkeit, sondern jene biblischen Szenen der drei gewaltigen Chorfenster von St. Marien, der „Oberkirche“ am Markt von Frankfurt, gerichtet gen Osten, entworfen und gestaltet in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.

Bisher kenne ich nur sehr wenige wissenschaftliche Hinweise auf die Chorfenster und besonders jene Darstellungen zum Thema Antichrist, bezogen auf Josias Löffler und Heinrich von Kleist, obwohl es eigentlich auf der Hand liegt – oder besser gesagt: beim Eintreten in das Gotteshaus sofort in die Augen springt -, dass die Nachbarn aus dem „Nonnenwinkel“ sich im angrenzenden Kirchenschiff Anregungen für ihre literarischen und theologischen Auseinandersetzungen geholt haben könnten. Der Gegenstand wird uns in den weiteren Folgen begleiten – beim „Käthchen von Heilbronn“, bei der „Hermannsschlacht“, bei den kirchengeschichtlichen Studien des Josias Löffler. Und es wird sich uns auch immer wieder die bedrückende und erschreckende Frage aufdrängen, warum dieser Zusammenhang jenen „kleistologischen Weisen“ keine Zeile in ihren weitschweifigen Darstellungen untersuchenswert erscheint – weder als Frage, noch als Hypothese, nicht einmal als Fußnote.

Josias Löfflers gesamtes Leben und Wirken war geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen liberalen, progressiven Kräften in der Theologie der Periode der Spätaufklärung und den konservativen Gruppierungen und Personen. Er hatte sich während seiner Zeit als junger Prediger und Theologe in Berlin aus der Anonymität des Rebellen hervorgewagt und war seitdem jahrzehntelang theoretischen und politischen Anfeindungen ausgesetzt, die auch nach seinem Tod anhielten, wie die scharfen Auseinandersetzungen um eine öffentliche Ehrung in Gestalt eines Denkmals in Gotha belegen.

Josias Löffler – wohin er kommt – wo er tätig ist findet er Gleichgesinnte – im schwarzen Rock des Predigers manchmal im bunten Rock des Königs so auch in Frankfurt an der Oder den herzoglichen Prinzen abgemahnt durch Den König wegen seiner Konzeption des militärischen Vorgehens Wegen seiner Vorstellung von der militärischen Disziplin vielleicht sogar war er Vorbild gleich für den homburgischen Prinzen?

Sie sind Nachbarn sie sind Nachbarn im Geistigen und auch im real Materiellen und vermutlich auch im Träumen – der Offizierssohn im gleichen Haus im Frankfurter Nonnenwinkel der Professor und Generalsuperintendent im Gemeindehaus hinter der Marienkirche 25 Jahre älter als der aufgeweckte junge aus dem Haus über der Straße. Im dritten Haus dazwischen residiert die andere Erwachsene Bezugsperson des Jungen, das fürstliche Idol Prinz Leopold von Braunschweig Chef des Infanterieregiments und Stadtkommandant, dem der Vater des Jungen als Major diente.   

Wie im weiteren Gang der Darstellung detailliert zu sehen sein wird, ist im 19. Jahrhundert im deutschen Protestantismus ein deutlicher Nachhall des theoretischen Erbes Löfflers zu hören – aber auch bis in die Gegenwart ist bei Historikern und vor allem Theologen das Bedauern herauszulesen, dass die Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Erbe Löfflers noch manche Lücken aufweist. Als aktuelles Beispiel sei die Studie von Malte van Spankeren genannt, der im Kontext seiner umfassenden Würdigung des Hallenser Universitätslehrers Johann August Nösselt (1734-1807) beklagt: „Aus der Vielzahl  der Schüler Nösselts erscheint insbesondere eine intensive Beschäftigung mit dem bislang kaum erforschten Josias Friedrich Christian Löffler instruktive Aufschlüsse zu versprechen. Dieser übte nicht nur fast drei Jahrzehnte in Kirchen leitender Position als Superintendent des Gothaer Herzogtums wichtigen Einfluss aus, sondern stimulierte darüber hinaus eine kritische Sichtung der traditionellen Trinitäts- und Genugtuungslehre.“

Der Blick der letzten Tage aus dem Fenster der Dachetage des Saalfelder Schlosse verrät: Ein heißer Sommer ist über uns in Thüringen hereingebrochen, der Fluss verschafft kaum Kühlung, der Wasserstand ist auf ein Minimum gesunken, so dass selbst das Paddeln im althergebrachten Holzboot mir Segeltuchhaut nur mit äußerster Mühe möglich ist. Es ist Sonntag, an der Saaltorbrücke habe ich mein Boot vom Fahrradanhänger gelöst und lasse mich nun treiben – vorbei am Schloss hinter der Uferstraße, unter der Carl-Zeiss-Brücke durch, die Weiden und Pappel am Ufer leiden unter der Hitze, die Blätter beginnen sich schon gelb zu färben und zum Schutz gegen die Sonne und als natürliche Barriere gegen zu schnelle Verdunstung zusammenzurollen, die Villa Weidig und der Festplatz sind hinter den Bäumen und der Uferbepflanzung zu erkennen, nach zwei Brücken unter den Bundesstraßen in Richtung Rudolstadt und Bad Blankenburg kehre ich um. Auf der Rückfahrt – flussaufwärts – muss ich mich etwas mehr  ins Zeug legen, die Strömung ist bei dem Niedrigwasser kaum zu spüren. Auf der rechten Seite sehe ich nun auch das Hinweisschild in Gestalt eines breiten Holzpfeiles in den schwarz-weißen preußischen Farben für historisch interessierte Wassersportler: „400 m: Wöhlsdorf – Gedenkstein Louis Ferdinand von Preußen 1806“ und hinter den Büschen die Häuser des Dorfes, inzwischen in die Stadt Saalfeld eingemeindet.

Da hat mich die Geschichte wieder und insbesondere jene Periode um 1790, illustriert durch die Biographien der Personen meines Konvoluts: Josias Löffler, Herzog Ernst von Gotha, Herder, Heinrich von Kleist, Bertuch, Zedlitz, Semler (ebenfalls aus Saalfeld stammend). Die tiefhängenden Äste der Weiden, deren Zweige oft das Wasser berühren, die Ruhe des träge mir entgegenkommenden klaren Wassers lassen eine Stimmung aufkommen, die mich in die Zeit vor 200 oder gar 250 Jahren zurückversetzt. Sehr viel anders wird sich der schmale Flusslauf im 18. Jahrhundert dem Wanderer, dem Flößer, dem Fährmann zwischen zwei größeren Orten an den bedeutenden Handelsstraßen auch nicht geboten haben als mir heute. Ich lenke mein Boot unter eine Weide und lasse das erfrischende Wasser an Füßen und Händen vorbeiziehen. Ich träume nicht, aber ich lasse das Heute für eine Stunde nicht an mich heran, versinke in die romantische Saalelandschaft des Jahres 1752.

*

Am nächsten Tag, gegen neun Uhr: „Chef, wann geht es denn richtig los?“ – „Guten Morgen, liebste Edda, es ist schon losgegangen, in meinem Kopf …“ – „Kann ich nicht – Gedanken lesen“

JOSIAS war der Name der Saalfelder Fürsten aus dem Geschlecht der Ernestiner. So lässt also im Januar jenes Jahres der Saalfelder Bürger Johann Christoph Löffler den Sohn, den ihm die eheliche Gemahlin Magdalene Susanna, geb. Mahn, geboren hatte, auf den ersten Namen Josias taufen, dazu noch Friedrich und Christian, die Namen der beiden Großväter.

Man hat standesgemäß eine Wohnung unmittelbar neben dem Rathaus, der Status erlaubt die Anmietung einer Stube nebenan für Oma Margarete, der Witwe des Großvaters väterlicherseits.

Der den sächsisch-thüringischen Wettinern zugetane Vater, dessen Stand als „Stadtsyndicus“ und „Hofadvocat“ angegeben wird, lässt dem Sprössling eine solide Schulbildung angedeihen – Syndicus bedeutete ja immerhin der oberste Jurist der Stadtverwaltung dieser reichen herzoglichen Residenz mit ihren etwa 15 000 Einwohnern und die ihren Wohlstand dem Bergbau und dem Fernhandel verdankte.

Ein Glücksfall, dass Vater Löffler mit einem „gelahrten“ Universitätsprofessor befreundet ist, Johann Salomo Semler, der aus Saalfeld stammt, aber saaleabwärts in Halle einen Lehrstuhl für protestantische Theologie innehat. Die Saale – wie der Main, der Neckar, die Oder – hat eine herausragende Bedeutung als Lebensader für die wirtschaftliche, politische und geistige Verbindung der Territorien des zersplitterten deutschen Reiches – neben den dominierenden Strömen Rhein, Donau und Elbe. Die Saale durchfließt im 18. Jahrhundert weltliche und geistliche Fürstentümer Frankens, Thüringens, Sachsens, Anhalts, fügt fürstliche Residenzen, städtische kirchliche, geistige und Universitätszentren zusammen wie Saalfeld, Rudolstadt, Jena, Naumburg, Weißenfels, Merseburg, Halle und Bernburg.
Das Saaleabwärts gelegene Halle ist die letzte größere brandenburgisch-preußische Siedlung  an der Grenze zu Sachsen, empfängt nicht nur den akademischen Nachwuchs, sondern vor allem das edle Bauholz aus den thüringischen Wäldern in großen Flößen, sendet es weiter ins Anhaltinische, auf der Elbe nach dem sächsischen Wittenberg und auch zu den Schiffswerften nach Hamburg und Dänemark. Das preußische Halle wird den jungen Josias prägen, wird ihm Freunde und strenge akademische Lehrer bieten und die moralischen Werte einer pädagogischen und theologischen Laufbahn vermitteln.

Noch aber lernt der aufgeweckte, neugierige Josias fleißig an der Saalfelder Schule. Jahre später schreibt Josias Löffler an den Freund Philipp Lieberkühn in Neuruppin:

„Mein gestrenger Herr Vater wollte aus mir einen ebenso strengen Beamten machen; es setzte zwar keine Prügel, aber in der Wirkung ebenso demütigende moralisierende Sprüche, tägliche Vorträge über die hohen Werte der Sittlichkeit des Soldaten, des Beamten, des von Gott auserwählten Fürsten. Oma Margarete war meine eigentliche Erzieherin, sie lehrte mich heimlich Lesen und Schreiben lange bevor ich in die gestrengen Hände der bestallten Lehrer fiel. Sie lies mir Papiere zukommen, weggeworfene Briefe, Rechnungen des Weinhändlers, Spielkarten mit den Köpfen und Palästen der einheimischen und fremdländischen Königen sowie den dazugehörigen Jahreszahlen. Sie fragte mich ab, ob ich auch alles richtig verstanden habe – im zarten Alter von 4 bis fünf Jahren. Ich wünsche jedem Kind eine solche Oma.

Saalfeld prägte meine Kindheit. Aber da ist schon die erste Korrektur fällig – nicht die Stadt, nicht die herzogliche Residenz habe ich in Erinnerung, sondern Garnsdorf, ein paar verschlafene Bauernhäuser an der Straße nach Schmiedefeld und Sonneberg.  Das Haus des Großvaters mütterlicherseits, gelegen am Hang, gab den Blick frei in Richtung Osten, auf Saalfeld, auf den gewundenen Lauf der Saale, auf die Hügel hinter der Stadt, die mittelalterlichen Burgen der fränkischen und thüringischen Raubritter. Die Großmutter Else schickte uns fünf Kinder auf Futtersuche für die beiden Ziegen im Stall, das Dutzend Hühner im Hof. Eines Tages, ich war als Ältester der Geschwister mit 10 Jahren von der Mutter schon eine Woche vorher eingeweiht, zog unsere Tante Lisbeth mit drei weiteren Kindern in unser Haus. Ihr Mann war als Soldat in Böhmen gefallen, so blieb nur die Zuflucht zur Großmutter. Nun waren wir zu acht im Kinderzimmer, neben mir hatte sich im großen Bett für die Älteren die dreizehnjährige Cousine Dorothea einquartiert, die mich nachts im Schlaf an die Wand drückte. Aber tagsüber konnte ich mit ihr über mein Seelenleid sprechen, über mein Fernweh, über meinen Wunsch als Flößer auf der Saale heimlich nachts bis aufs große Meer zu fliehen und als Schiffsjunge nach China zu segeln. Wir übten schon mal auf dem Holzstapel hinter dem Haus – ich oben auf der Brücke, sie unten auf Deck. Wir waren glückliche Kinder. So ertrug ich auch die nächtliche Enge zwischen der kalten Wand und dem warmen, erregenden Körper von Charlotte.

Meine Mutter verstand unter Glück etwas anderes, die Familie, das Wohnen bei den Großeltern, die Stadtschule für die Kinder. Dann traf uns das Schicksal hart – der Vater starb und wir mussten ein Stadt- Haus ziehen – neben der Kirche, ohne Aussicht, ohne Ziegen und Hühner, aber von morgens bis abends mit dem Geläut der Glocken. Wir wohnten neben der Poststation, wir Kinder lernten die Klänge aus dem Horn des Postillons lieben, wir bewunderten die bunten Röcke der Reisenden, ihre Koffer und Kisten auf dem Dach der schweren Kutsche. 

Dennoch traf ein anderes Glück mich, den Jungen nunmehr ohne Vater, aber immer unter Beobachtung eines väterlichen Freundes, des ebenfalls aus Saalfeld kommenden Professors Semler in Halle, der mir einen Platz an der Lateinschule der Franckeschen Stiftungen sicherte – einen letzten Freundesdienst für meinen verstorbenen Vater. Ich verstand selbst mit 11 Jahren diese Güte des Hochgelehrten Professors, ich war vorbereitet auf die höhere Bildung durch das Lyzeum in Saalfeld in den Grundlagenfächern Latein, Religion, Lesen und Schreiben und durch die liebe Betreuung durch Oma Margarete.

Das Weitere kennst du aus eigenem Erleben – ich erwies mich meinem Gönner außerordentlich dankbar, erwählte den Freund der Familie zu meinem akademischen Vorbild, strebt ihm nach in wissenschaftlicher Neugier, Ehrlichkeit, Akuratesse.“

Philipp Lieberkühn,  der Adressat des Briefes, gehörte zusammen mit Johann Stuve zum engsten Freundeskreis von Josias Löffler während der Studienzeit in Halle. Sie hatten protestantische Theologie gewählt – auf Empfehlung Professor Semlers. Löffler war 16 Jahre, als er von der Lateinschule der Franckeschen Stiftungen an die Universität wechselt. Sprachbegabt, historisch interessiert, humanistischem Engagement zugeneigt, so studiert er Theologie, Kirchengeschichte, Geschichte des Protestantismus, wissenschaftlich begründet auf dem Verständnis des Hebräischen, des Griechischen, des Lateinischen.

Da ist noch eine andere Sache, die Josias in dem Brief nicht nennt – die besonderen Umstände jenes Jahre 1763, in dem er in die Franckeschen Stiftungen aufgenommen wird: das Ende des schrecklichen mehrjährigen Krieges, in dem die Stadt Halle in regelmäßigen Abständen von den durchziehenden gegnerischen Sachsen, Franzosen, Österreichern und Russen zerbombt und geplündert, die öffentlichen und privaten Kassen bis auf den letzten Heller geleert wurden, wobei die Bürger oftmals für die „Eigenen“, die Preußen, bei deren gelegentlichen Durchmärschen und Biwaks auch bluten mussten.

Lieberkühn und Stuve, die beiden Freunde, kamen erst lange nach Josias nach Halle – noch waren alle Kriegswunden nicht verheilt, die Lethargie nicht überwunden, von Gewerbefleiß konnte lange Jahre nicht wieder die Rede sein, die Handelsbeziehungen in die benachbarten sächsischen und thüringischen Städte und Dörfer immer noch am Boden.

Davon liest man nichts in den Briefen. Das Leiden in Frieden und Krieg, das Intime vom Körperlichen und Seelischen, die Zweifel, die täglichen Ungerechtigkeiten … das vertraut man den Briefen nicht an, zu viele Unbefugte lesen mit.

(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)

LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663

Dieter Weigert, Berlin 19. Juli 2023

Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant Heinrich und Generalsuperintendent Josias

FOLGE 1: Das Konvolut

Es ist geschafft. Die Uhr zeigt 0:35, der Samsung-Drucker schiebt das letzte Blatt in die Ablage – unter dem einsam in der Mitte der Zeile prangenden Wort ENDE erscheinen mein Name und das Datum des neuen Tages. Der automatisierte Seitenzähler unten rechts präsentiert eine schockierende 525. Zeitlebens habe ich mich um Kürze meiner Texte bemüht, die ausufernden Zeilen gezähmt, aus Mitleid mit dem Leser das Unwesentliche dem Kern der Aussagen geopfert. Nun das – ein Archivar, ein dem Gehalt der historischen Dokumente verpflichteter Historiker verzettelt sich, kommt ins Schwatzen, verbreitet sich in unerheblichen Details, vermengt die notwendig verknappte, verdichtete Darstellung der Sache aus Eigenliebe des Langen und Breiten mit der Weitläufigkeit von Einzelheiten, die vielleicht seine eigene Neugierde und Darstellungssucht befriedigen, aber für die intellektuelle Welt um ihn herum keinerlei Gewicht haben. Weg mit dem ketzerischen Zweifel, mit Spinoza und Descartes: Ich habe der Welt etwas zu sagen und wenn ich dazu 525 Seiten brauche, dann muss man sich eben die Zeit nehmen für diese Menge an Druckseiten.

Edda kommt mit der Flasche Rotkäppchen trocken und den Gläsern, das Feiern im kleinen Kreis gehört zur Arbeit wie der Schäferhund Alf zum Hof meiner Kindheit. „Auf unseren Erfolg!“ – „Auf deine Beharrlichkeit und dein Verständnis für unseren Josias!“ erwidere ich und küsse die kluge, schöne und sehr weibliche Kollegin auf die Stirn. Die Freudentränen in ihren Augen übersehe ich wohlweislich.

Aber beginnen wir an jenem sonnigen, trockenen Juni-Morgen, als in meiner Heimatstadt etwas geschah, was mein bisher so geruhsames Leben aus der Bahn warf.  Zwischen der alten Stadtapotheke und der Johanniskirche im südthüringischen Saalfeld waren einige Arbeiter dabei, den Boden des historischen Stadtkerns aufzubaggern mit dem Ziel, zusätzliche Tresore sowie eine nötig gewordene geräumige Tiefgarage für den Erweiterungsbau der Stadtsparkasse zu schaffen, als sie auf eine schwere metallene mit Eisenbändern umschlossene Kiste stießen. Dieser Fund sei in der genannten Region nichts Besonderes, versicherte der leitende Ingenieur, wäre da nicht die verwunderliche Lage des Objektes – nicht waagerecht, nicht senkrecht, sondern irgendwie völlig windschief auf einer plattgedrückten Ecke stehend präsentierte sich das brandgeschwärzte Stück im Erdreich. Es muss wohl beim verheerenden Brand in der Apotheke damals aus den Wohnräumen in den Keller und von dort in eine Art Höhle abgestürzt sein, vergessen von den Bewohnern, überlagert durch den Straßenschutt, nun aber der Vergessenheit plötzlich entrissen.

Die Mitarbeiter der zuständigen Abteilung der Bodendenkmalpflege des Landratsamtes in der dritten Etage des ehemaligen herzoglichen Schlosses, denen die Baufirma aus dem fränkischen Kronach den kostbaren Fund ins Chefzimmer bugsierten, erklärten sich nach einigem Zögern bereit, den Inhalt der Kiste inspizieren zu wollen – obwohl sie sich hinter vorgehaltener Hand nicht viel davon versprachen, man habe ja wichtigere Aufgaben auf den Tischen und in den Rechnern zu liegen.

Ein erster Blick ins Innere des schwarzen Ungetüms bestätigte ihre zögerliche Haltung – Papierkram, aber ohne amtliche Siegel, halbverbrannte Fetzen von Pappschachteln, … und dann doch zwischen dem Plunder ein zwei intakte schwere Pakete, verschnürt mit grünschwarzer gedrehter Kordel, die Aufschrift des ersten oben und auf den vier Seiten noch lesbar – Geheim! Eigentum der Generalsuperintendentur des Herzogtums Gotha (1787 – 1817), auf dem zweiten Packen ein Verlags-Stempel „Frommann-Erben – JENA.

Jetzt endlich kommt meine Person ins Spiel!  Ich – der nun aber doch eiligst herbeigeholte Stadtarchivar! Ich kann mein Glück bis heute noch nicht fassen – da war es also – das seit Jahrzehnten gesuchte Konvolut von Papieren des großen Sohnes Saalfelds, des gothaischen Oberkonsistorialrats und Generalsuperintendenten, des rechtschaffenen, über die Grenzen Thüringens hinaus bekannten kämpferischen Theologen und Pädagogen Löffler, dem einige – aber leider nur sehr wenige – Kenner der Literaturgeschichte nachsagen, eine der interessantesten, vom Schleier des fast Mystischen verhangenen Personen im Umkreis des Dichters Heinrich von Kleist gewesen zu sein !

Dem Chef des Amtes für Bodendenkmalpflege gelingt es nur mit großer Mühe, mich in meinem Glückstaumel von der Einberufung einer sofortigen Pressekonferenz abzubringen, man solle doch erstmal einen ernsthaften Blick ins Innere des Konvoluts werfen, sich von der Authentizität der Papiere überzeugen, bevor man sich selbst und die gesamte Behörde im Falle eines Fehlschlages dem Gespött der Zeitungen und lokalen Fernsehstationen aussetze! Im Zeitalter der FAKE-NEWS durchaus vergleichbar mit dem Prager Fenstersturz von 1618!

Er, der Amtsleiter, mache nun von seinen Befugnissen Gebrauch, versiegele eigenhändig sein Büro doppelt und dreifach und lade die relevanten Beamten des Landratsamtes und auch mich als Amtsperson für den nächsten Morgen, 10 Uhr, zu einer Sondersitzung ein. Einziger Tagesordnungspunkt: die Papiere des Josias Friedrich Christian Löffler! Bis dahin außerordentliches Stillschweigen – auch in den Familien der hier Anwesenden!

Zu Beginn der morgendlichen Sitzung im kleinsten Kreis der höchsten Würdenträger des Landratsamtes fühle ich mich doch gedrängt, einige einführende Worte zur Bedeutung dieser Besprechung zu sagen. Wenn alles so verlaufe, wie ich als Ergebnis meiner jahrzehntelangen wissenschaftlichen Studien vermute, würden die Anwesenden in den nächsten Minuten Zeugen des erstmaligen Anblicks von Dokumenten aus der Feder des Theologen und Politikers Löffler, eines bedeutenden Sohnes unserer geliebten Stadt Saalfeld, sein, die ein neues Licht auf die Geschichte nicht nur der thüringischen Herzogtümer Weimar und Gotha am Ausgang des 18. Jahrhunderts werfen, sondern die nunmehr Fragen beantworten könnten, die seit langem europäische Historiker von Rang bewegten – die Fragen nach dem endgültigen Schicksal des deutschen Fürstenbundes. Aber auch Kirchenhistoriker und thüringische Heimatforscher hatten immer wieder in Briefen angemahnt, auf den Spuren dieses Mannes nach Belegen für sein Wirken zu suchen. Neuerdings aber auch Germanisten, Regionalhistoriker aus Frankfurt an der Oder, aus Berlin und Halle an der Saale meldeten sich bei mir. Ich war inzwischen auf das meisterhafte Formulieren von Absagen, Vertröstungen, Hypothesen, sogar abenteuerlichen Spekulationen stolz. Die erwähnten Orte hatte ich besucht, mit den fleißigen Frauen und Männern in den Kirchen, Stadt- und Universitätsarchiven viele Stunden verbracht – erfolglos. Ich ersparte es mir und den vermutlich im Labyrinth der mannigfaltigen persönlichen Beziehungen Löfflers, vor allem dem „Irrweg“ Kleist, nicht heimischen Landratsbeamten, zu sehr ins Detail zu gehen.

Nun liegt es auf dem Tisch vor uns – enthält das versiegelte dicke Bündel die Antworten auf die vielen Fragen?

Ich werde gebeten, das Konvolut zu öffnen und einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen auf den Tisch zu legen. Den habe ich schon im Kopf – Zeit gewinnen und unserem Archiv die Bearbeitung zu übergeben – unter strikter Wahrung des Dienstgeheimnisses, den Medien nur das Allernötigste mitzuteilen, um auswuchernden Spekulationen Einhalt zu gebieten. Ein entsprechendes lapidares Press Release steckt schon in meiner Tasche – zweisprachig selbstverständlich!

Die Knoten der Verschnürung und die Siegel lassen sich leicht lösen – die Papiere scheinen in gutem Zustand. Obenauf ein Blatt, das säuberlich nummeriert eine Liste von 217 Positionen enthielt: Briefe, Urkunden, Rechnungen, Quittungen, auch einige gebundene Bücher und Zeitschriften, Tagebuchnotizen, ein gesondert eingepacktes dünnes Päckchen in größerem Format und sehr viele bekannte und mir auf den ersten Blick fremde Namen. Ich schlage der Versammlung vor, diese Liste vorzulesen und mir das Paket aus konservatorischen Erwägungen für die weitere Bearbeitung in unserem Archiv zu übergeben. Bedingung des Vortrags der Liste aus meiner Sicht: es wird nichts mitgeschrieben und kein Wort vom Inhalt an Außenstehende weitergegeben. Ein mehr oder minder vernehmliches Murren wird durch den Landrat unterbunden, der meine Bedingungen protokollieren und zur Unterschrift herumgehen ließ, dann darf ich die Liste verlesen.

Zu meiner Verblüffung tauchen Namen auf, die ich im Zusammenhang mit Löffler nicht vermuten würde: die Brüder Humboldt, die Herzogin von Sachsen-Gotha, Friedrich Wilhelm Gotter, die Berliner Oberkonsistorialräte Silberschlag und Spalding, der preußische Minister von Zedlitz, Münter, General von Prittwitz, … Nach dem Verlesen lege ich das Blatt wieder auf den Papierstapel, klappe das Packpapier wieder zu, verschnüre es sachgemäß und bitte den Landrat um die Versiegelung – sicher ist sicher im Medienzeitalter! Die Presseerklärung lasse ich auf dem Tisch liegen.

Am Nachmittag sitze ich nun spannungsgeladen vor dem Stapel Papiere an meinem Schreibtisch. Noch darf keiner meiner Mitarbeiter einen Blick auf den Schatz werfen.

Meine Philosophie des Umgangs mit der Schatzkiste ist noch unvollkommen: Wir wissen nicht alles, wir können nicht alles wissen, aber da sind die Indizien, die Spuren der Begegnungen jenes geheimnis-umwitterten Theologen Josias Löffler, geboren hier in Saalfeld, gestorben in einem Nest bei Gotha, mit Zwischenstationen in Halle an der Saale, Berlin an der Spree und Frankfurt an der Oder – Briefstellen, die Topographie von benachbarten Wohnungen, einige wenige Reiseberichte.

Es klopft, zögerlich und verhalten. Edda, die graue Maus mit der zierlichen Gestalt einer Ballerina und dem passenden Pferdeschwanz, die Chefin der Tourismus-Abteilung, studierte Diplom-Journalistin, steht in der Tür: „Hallo – es war nicht mein Wunsch, es war die verrückte Idee des Chefs! Er meint, du brauchst jetzt kräftige Hilfe! Meine Abteilung könne mich einige Wochen entbehren, meint er!“ – Ich sinke zurück in die Tiefe meines antiken Schreibtischsessels – „Er meint wohl, er braucht eine vertrauenswürdige Spionin, damit er aus erster Hand erfährt, was hier oben unterm Dach ausgegraben wird?“

Noch lachen wir, nicht ahnend was vor uns liegt und uns nicht etwa einige Wochen, sondern ein volles Jahr an Gemeinsamkeiten bringen wird. Der nächste Morgen bringt „zuvörderst“ – das Lieblingswort meines verehrten Professors aus der Studienzeit in Leipzig – eine Blumenvase und dem dazu gehörigen farbenfreudigen Vorgarten-Gemisch für meinen Tisch, sowie einen Schreibtisch für Edda mit eigenem Rechner.

Die erste Beratung, die erste Festlegung: alles muss säuberlich protokolliert werden! „Muss das sein? Schade um die Zeit, das bleibt ja an mir hängen, aber so Gott will gibt es dafür schon eine passende Software“ murrt Edda, kuscht aber unter meinem zurechtweisenden Blick.

Was und wo suchen wir zuerst? Wollen wir mit Frankfurt an der Oder beginnen.? Finden sich in jenem Papierbündel eindeutige Belege, die unsere Annahme stützen und wasserdicht machen, dass der Prediger und Oberpfarrer der protestantischen Kirche St. Marien in Frankfurt an der Oder Josias Friedrich Christian Löffler in den Jahren zwischen 1783 und 1788 dem neugierigen Nachbarsjungen Heinrich von Kleist die Botschaft der Chorfenster seiner Kirche St. Marien aus dem 14. Jahrhundert vermittelt hat? Die Zeit ist so schnell-lebig, dass ich schon vergaß, wer mir gestern oder vorgestern diese Frage bei einem der Pausengespräche in der Kantine zugeflüstert hatte. War es die theaterbeflissene Ute? War es die Zugezogene aus Frankfurt – wie hieß sie doch gleich ? Oder war es der Kulturredakteur des Weimarschen Tageblättchens ? Ich bleibe vorsichtig, nüchtern, zugeknöpft. Zu Hause frage ich mich –  ist die Stadt, ist die Universität, ist die Marienkirche an der Oder wirklich der Beginn? Liegt der nicht an der Saale, in Halle oder doch schon saaleaufwärts hier in Saalfeld?

Vielleicht sollten wir den Beginn am Ende des Lebens unserer beiden Antipoden suchen – des Dichters und des Predigers? Was ich schon aus anderen Quellen wusste: So wie sie lebten sind sie gestorben – der eine auf der Kanzel einer lutherischen Kirche, der andere schon fünf Jahre vor ihm in dramatischer Geste mit der Pistole in der Hand – der thüringische Prediger, Theologieprofessor, Bildungspolitiker, Familienmensch Josias Friedrich Christian Löffler (1752-1816) und der märkische Dichter, Offizier, Journalist Heinrich von Kleist (1777-1811).

Dieter Weigert, Berlin, 17. Juli 2023

(In unregelmäßigen Abständen wird der Verfasser weitere Folgen der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars an dieser Stelle erscheinen lassen – wie in den guten alten Zeiten die Zeitungsredakteure in täglichen Fortsetzungen im „Keller“ von Seite 3 die Spannung eines guten Romans dem Publikum zum Frühstück servierten)

Mein Thüringen – begehrt, bekehrt, bedauert

NO WAR !

NO WOKE !

Das ist der Schlachtruf der hier künftig erscheinenden BLOGS: kein Krieg, kein Woke !

Auf gut Deutsch: FRIEDEN, DIPLOMATIE, Respekt gegenüber historisch gewachsenen familiären Werten, Achtung vor der Lebenserfahrung der Älteren, politische und kulturelle Toleranz !

Aktuelles Symbol der friedliebenden Nicht-Woken:

Doch nun zu unseren Thüringern, geschrieben von einem Thüringer in der DIASPORA

Keine Sorge – es geht hier nicht um Dr. Martin Luther, den Mitteldeutschen, den Judenfresser und Bauernschlächter, den die US-Amerikaner so sehr lieben, dass sie zu Scharen bei schönem Wetter Wittenberg und Erfurt heimsuchen ! Es geht um Märchenfiguren in aktueller Verkleidung:

Es war einmal ein im schönen armen Niedersachsen ein Salzsieder, der hatte drei Söhne, Balduin, Bernhard und Bruno.

Balduin,der älteste und größte, erbte die Saline, den beiden anderen, die kleinwüchsig an Körper und Geist geblieben waren, befahl der Vater auf dem Sterbebette, in der Fremde, flußaufwärts von Weser und Werra ihr Glück zu suchen. So wanderten sie entlang der Weser, dann weiter die Werra bergauf,

schlugen sich durch das Unterholz, mieden die Städte und Dörfer aus Furcht vor den Räuberbanden und Wegelagerern, bis sie in der Ferne Salzsieder erblickten. „Hier lassen wir uns nieder“ flüsterte Bruno dem Bruder Bernhard, der etwa träge im Geiste war, ins rechte Ohr, „die Siedlung heißt Salzungen ! Sieh‘ mal, wie die Leute sich tummeln!“

Nach einem erfrischenden Bade machten sie sich auf den Weg, um sich bei einem Salinenmeister zu verdingen. Ach, wie groß war der Schreck! Der Meister und seine Altgesellen wiesen ihnen die Tür -„Euch Wichtel brauchen wir in Thüringen nicht, wir haben genügend einheimisches Gesindel, versuchts doch mal in den Klöstern, die Brüder suchen immer Rechts- und Linksgläubige! Drei Tagesmärsche immer der Sonne nach hat der Mainzer Erzbischof eine Niederlassung, ich wünsche Euch Glück“. Sprachs und knallte ihnen die Tür vor der Nase zu.
Da weinten die Brüder bitterlich und trennten sich, Bruno wendete sich nach links, Bernhard nach rechts. Bruno fand Unterschlupf bei den hessischen Brüdern im Kloster zur heiligen Brüderlichkeit, die ihm bei guter Führung den immerwährenden Sonnenschein und die 20-Stunden-Woche versprachen und einen stolperfreien Aufstieg auf den schmalen Leitern zur Spitze der Gemeinschaft zusicherten, als sie seine Geisteskraft, seine Gerissenheit und Gewandtheit im Umgang mit den Oberen erkannten.

Bernhard jedoch, dem rechten Weg vertrauend, zu dem ihm der Vater im Stillen bei der Erinnerung an früherer Kreuzzüge gen Osten geraten hatte, wanderte stracks zur Mainzer Siedlung am Fluß Gera und fand sofort Gleichgesinnte – entwurzelte Raubritter, Glücksspieler, Tagediebe und Lohnschreiber auf der Krämerbrücke. In der Hinterstube der Bierkneipe „Zum Heiligen Kreuzritter“ erzählten die Alten von den siegreichen Schlachten „damals im Osten“, von den Aufmärschen hinter den Totenkopf-Bannern, vom schmählichen Ende ihrer Träume hier in der thüringischen Einöde. Sie begrüßten den Zuwanderer mit aufgereckten Armen, wählten ihn, der schnell die richtigen Sprüche fand, zum Anführer. Noch sei die Zeit nicht reif zum letzten Gefecht, aber wenn er die Posaune bläst, marschieren sie hinter ihm „wie die Kälber“ hinter dem Hirten – wohin auch immer! Bernhard schwelgte in Glückseligkeit, das war nun seine neue Heimat, wie stolz wäre der Vater, ihn so noch erleben zu dürfen.

Vollkommen war sein Stolz und Glücksgefühl, als er in der Menge bei einer seiner Umzüge im Andreasviertel seinen verloren geglaubten Bruder Bruno erkannte – nicht jubelnd, aber doch anwesend – und ein Banner gegen ihn schwenkend: „Nieder mit den Rechtgläubigen!“
Sie trafen sich in der Nacht und verabredeten für den nächsten Sonntag einen öffentlichen Kampf um die Führung in der Stadt und im Lande Thüringen.

Zur Wahlstatt wurde die an dieser Stlle sehr seichte Gera hinter der Krämerbrücke auserkoren. Die braven Bürger lachten über die gerüsteten, bannerumschlungenen Zwerge auf den Eseln – der rechtgläubige Totenkopf gegen den linkshändigen Sonnenschein! Sonnenschein gelang es, Bruder Bernhard in die stinkende Brühe zu werfen und sich damit den Ehrenplatz im Kreise der Thüringer Edlen zu sichern. Bernhard blieb der Platz hinter ihm in der Hohen Ratsversammlung – der Platz des in den Rücken stichelnden Führers des gegnerischen Lagers.
So hatten sie es sich nun gemütlich gemacht, die zugewanderten armen Brüder von der Weser im goldenen Thüringen.
Damit könnte das Märchen nun zu Ende sein – aber, aber !!!

Die Haß-Liebe der Brüder wurde plötzlich durch den Einfall der Riesen aus dem OSTLAND in das benachbartes Bandennest STEPANKA gestört. Man hatte sich so herrlich eingerichtet mit dem Räubernest STEPANKA – die Thüringer lieferten Speere und Salz, die STEPANKAER stichelten als Gegenleistung an der Grenze zum OSTLAND und verbrannten manchmal auch aufmüpfige OSTLÄNDER (Männer, Frauen und Kinder), die innerhalb ihrer Mauern siedelten, auf Scheiterhaufen und ersäuften sie in den Sümpfen und Flüssen hinten am Dunklen Meer.
Nun aber griffen auch die OSTLÄNDER zum Speer und marschierten gegen STEPANKA. Was erfrecht sich dieser Fürst OSTLANDS ? Unsere beiden Zwergenbrüder – vereint im väterlich eingeflößten Haß gegen OSTLAND – begruben feierlich (natürlich im Geheimen!) ihren Zwist und setzten sich an die Spitze des Kreuzzuges gegen die Ungläubigen – der Rechtgläubige Bernd und der Linksgläubige Bruno. „Mehr Speere für STEPANKA ! Nieder mit dem Fürsten des OSTLANDES ! Verbot aller Lieder und Banner des OSTLANDES in unserem FREIEN REICH !“ tönte es nun auf dem Domplatz der Mainzer Kolonie:

vereint, Arm in Arm die nun endlich vereinten Brüder !!!

Potztausend – was kommt denn da ?

Von der anderen Straßenseite winkten ihnen zwei holde Frauen zu – sie riefen den Brüdern entgegen: „lasst uns doch gemeinsam im handwerklichen Wettkampf dem Osten entgegentreten ! Ohne gepanzerte Waffen, ohne fliegende Drachen!“

Zu Brunos Überraschung bat Bernhard die Frauen um einen Platz in ihren Reihen, diese holde Anhängerschar gefiel ihm – der friedliche Wettstreit kam ihm gelegen, so konnte er dem Bruder die Anhänger abspenstig machen!

Bruno, der nur seiner reinen Lehre folgte, für den seine Follower keinen Frieden mit dem bösen Ost-Tyrannen wollten, musste sich nun von seinem Bruder trennen! Er blieb bei den reich gedeckten Tischen der Herren, verband sich noch enger mit den Rittern unter ihren schwarz-weißen Bannern und führte seine Gläubigen Linksschaffenden ins WOKE Himmelreich – und wenn sie nicht wegen ihrer schweren Panzerhemden in den Sümpfen des Ostens erstickten, träumen sie heute noch von den Reichtümern unter der Schwarzerde der Steppen.

ENDE vom Lied: Aus der sehr enttäuschten BERLINER FERNE – Märchen nach den Brüdern Grimm – Ähnlichkeiten der Brüder mit aktuellen Persönlichkeiten sind nicht angedacht und auch ausdrücklich verboten durch die neueste Bundesgesetzgebung!!!!

Berlin, Prenzlauer Berg, 4. März 2023

Von zwei niedersächsischen Zwergen, die auszogen, den Thüringern Glück zu bringen

Es war einmal ein im schönen armen Niedersachsen ein Salzsieder, der hatte drei Söhne, Balduin, Bernd und Bruno.

Balduin,der älteste und größte, erbte die Saline, den beiden anderen, die kleinwüchsig an Körper und Geist geblieben waren, befahl der Vater auf dem Sterbebette, in der Fremde, flußaufwärts von Weser und Werra ihr Glück zu suchen. So wanderten sie entlang der Weser, dann weiter die Werra bergauf,

schlugen sich durch das Unterholz, mieden die Städte und Dörfer aus Furcht vor den Räuberbanden und Wegelageren, bis sie in der Ferne Salzsieder erblickten. „Hier lassen wir uns nieder“ flüsterte Bruno dem Bruder Bernd, der etwa träge im Geiste war, ins rechte Ohr, „die Siedlung heißt Salzungen ! Sieh‘ mal, wie die Leute sich tummeln!“

Nach einem erfrischenden Bade machten sie sich auf den Weg, um sich bei einem Salinenmeister zu verdingen. Ach, wie groß war der Schreck! Der Meister und seine Altgesellen wiesen ihnen die Tür -„Euch Wichtel brauchen wir in Thüringen nicht, wir haben genügend einheimisches Gesindel, versuchts doch mal in den Klöstern, die Brüder suchen immer Rechts- und Linksgläubige! Drei Tagesmärsche immer der Sonne nach hat der Mainzer Erzbischof eine Niederlassung, ich wünsche Euch Glück“. Sprachs und knallte ihnen die Tür vor der Nase zu.
Da weinten die Brüder bitterlich und trennten sich, Bruno wendete sich nach links, Bernd nach rechts. Bruno fand Unterschlupf bei den hessischen Brüdern im Kloster zur heiligen Brüderlichkeit, die ihm bei guter Führung den immerwährenden Sonnenschein und die 20-Stunden-Woche versprachen und einen stolperfreien Aufstieg auf den schmalen Leitern zur Spitze der Gemeinschaft zusicherten, als sie seine Geisteskraft, seine Gerissenheit und Gewandheit im Umgang mit den Oberen erkannten.

Bernd jedoch, dem rechten Weg vertrauend, zu dem ihm der Vater im Stillen bei der Erinnerung an früherer Keuzzüge gen Osten geraten hatte, wanderte stracks zur Mainzer Siedlung am Fluß Gera und fand sofort Gleichgesinnte – entwurzelte Raubritter, Glücksspieler, Tagediebe und Lohnschreiber auf der Krämerbrücke. In der Hinterstube der Bierkneipe „Zum Heiligen Kreuzritter“ erzählten die Alten von den siegreichen Schlachten „damals im Osten“, von den Aufmärschen hinter den Totenkopf-Bannern, vom schmählichen Ende ihrer Träume hier in der thüringischen Einöde. Sie begrüßten den Zuwanderer mit aufgereckten Armen, wählten ihn, der schnell die richtigen Sprüche fand, zum Anführer. Noch sei die Zeit nicht reif zum letzten Gefecht, aber wenn er die Posaune bläst, marschieren sie hinter ihm „wie die Kälber“ hinter dem Hirten – wohin auch immer! Bernd schwelgte in Glückseligkeit, das war nun seine neue Heimat, wie stolz wäre der Vater, ihn so noch erleben zu dürfen.

Vollkommen war sein Stolz und Glücksgefühl, als er in der Menge bei einer seiner Umzüge im Andreasviertel seinen verloren geglaubten Bruder Bruno erkannte – nicht jubelnd, aber doch anwesend – und ein Banner gegen ihn schwenkend: „Nieder mit den Rechtgläubigen!“
Sie trafen sich in der Nacht und verabredeten für den nächsten Sonntag einen öffentlichen Kampf um die Führung in der Stadt und im Lande Thüringen.

Zur Wahlstatt wurde die an dieser Stlle sehr seichte Gera hinter der Krämerbrücke auserkoren. Die braven Bürger lachten über die gerüsteten, bannerumschlungenen Zwerge auf den Eseln – der rechtgläubige Totenkopf gegen den linkshändigen Sonnenschein! Sonnenschein gelang es, Bruder Bernd in die stinkende Brühe zu werfen und sich damit den Ehrenplatz im Kreise der Thüringer Edlen zu sichern. Bernd blieb der Platz hinter ihm in der Hohen Ratsversammlung – der Platz des in den Rücken stichelnden Führers des gegnerischen Lagers.
So hatten sie es sich nun gemütlich gemacht, die zugewanderten armen Brüder von der Weser im goldenen Thüringen.
Damit könnte das Märchen nun zu Ende sein – aber, aber !!!

Die Haß-Liebe der Brüder wurde plötzlich durch den Einfall der Riesen aus dem OSTLAND in das benachbartes Bandennest STEPANKA gestört. Man hatte sich so herrlich eingerichtet mit dem Räubernest STEPANKA – die Thüringer lieferten Speere und Salz, die STEPANKAER stichelten als Gegenleistung an der Grenze zum OSTLAND und verbrannten manchmal auch aufmüpfige OSTLÄNDER (Männer, Frauen und Kinder), die innerhalb ihrer Mauern siedelten, auf Scheiterhaufen und ersäuften sie in den Sümpfen und Flüssen hinten am Dunklen Meer.
Nun aber griffen auch die OSTLÄNDER zum Speer und marschierten gegen STEPANKA. Was erfrecht sich dieser Fürst OSTLANDS ? Unsere beiden Zwergenbrüder – vereint im väterlich eingeflößten Haß gegen OSTLAND – begruben feierlich (natürlich im Geheimen!) ihren Zwist und setzten sich an die Spitze des Kreuzzuges gegen die Ungläubigen – der Rechtgläubige Bernd und der Linksgläubige Bruno. „Mehr Speere für STEPANKA ! Nieder mit dem Fürsten des OSTLANDES ! Verbot aller Lieder und Banner des OSTLANDES in unserem FREIEN REICH !“ tönte es nun auf dem Domplatz der Mainzer Kolonie:

vereint, Arm in Arm die nun endlich vereinten Brüder !!!

Aus der sehr enttäuschten BERLINER FERNE – Märchen nach den Brüdern Grimm – Ähnlichkeiten der Brüder mit aktuellen Persönlichkeiten sind nicht angedacht und auch ausdrücklich verboten durch die neueste Bundesgesetzgebung!!!!

LIEBE – LIOBA – LEOBA

Dunkles, erstarrtes Mittelalter ! Plötzlich bekommt es Farbe, Lichter, Dynamik, Menschlichkeit. Zu studieren in Thüringen und Hessen – wenn man nicht dogmatisch an den alten Texten der sogenannten Aufklärung klebt wie die Fliege im Netz der Spinne. Der Petersberg in Erfurt,

Erfurt Petersberg

die St. Michaelskirche in Fulda helfen bei der Blickerweiterung.

Fulda

Zur Sache: Meine Kindheit und Jugend waren geprägt durch Aufklärung, aber vor allem durch die graue Lutherbrille. Romanische und gotische Kirchen und Klöster – reichlich zu finden im Zentrum Erfurts waren vor allem und fast ausschließlich Gegenstand der Architekturgeschichte für den angehenden Möbeltischler und späteren Philosophiestudenten. Der legendäre Bonifatius, „Apostel der Deutschen“ fand sich im Lesebuch der Großmutter aus Kaisers Zeiten, aber das wars auch.

Die atheistischen (aber luthertreuen) Großeltern hatten keine Antworten aus meine kindlichen Fragen nach jener Ur-Epoche der thüringischen Zivilisation. Frühes Mittelalter? Ja, Paris und Canterbury, die Scholastik, Thomas und die Kirchenväter, mit Mühe noch Meister Eckhart. Ansonsten Dunkel – am Rande die seltsame Geschichte des Grafen von Gleichen und seiner beiden Frauen aus dem Grabstein im Erfurter Dom.

Nach Jahrzehnten nun die Erleuchtung -geblendet durch den plötzlichen Einfall der Farben, der lebendigen Vielfalt in der Biographie einer vergessenen Frau jenes frühen Mittelalters – der großen Liebe des Asketen Bonifatius.

LIOBA -LEOBA

Ihr Name weckt Assoziationen – warum auch nicht zu LIEBE? Im frühen Mittelalter waren die frauenverachtenden Gebote des Klerus noch nicht peerfektioniert, es gab vielfältige Kontakte zwischen Mönchen und Nonnen, die Äbtissin LIOBA hatte einen guten Ruf, ihre hinterlassenen Briefe wie auch die ihres Verwandten Bonfatius zeugen sowohl von strenger Askese wie auch von Humanität und Achtung gegenüber dem anderen Geschlecht.

Grabkirche Liobas bei Fulda

Leider ist Leben und Wirken der in England geborenen und aufgewachsenen Nonne und Äbtissin LIOBA, der Vertrauten der Kaiserin Hildegard, in Deutschland weitgehend unbekannt.

Ich kann nur die Publikation der Historikerin Dorothee von Kügelgen zu Bonifatius empfehlen, in der – lesbar geschrieben und gut dokumentiert – an alles finden kann, das dem deutschen Publikum bisher entgangen ist.

Vuel Vergnügen beim Lesen

Dieter Weigert, Berlin, Juli 2022