An der Saale – Josias Löfflers Oma Margarete

Fragende Blicke von Edda ! Sie kannte bis gestern den Josias Löffler nicht.

Kleist hatte sie 1-mal im Weimarer Theater getroffen – Titel, Akteure, Regisseur und Thema vergessen. Den Rest des Frankfurter Poeten mal in der Schule recht und schlecht hinter sich gebracht.

Also war da ein starkes Bedürfnis nach Aufklärung: Umstritten ist das Erbe des Josias Friedrich Christian Löffler bis heute, wie das aller Rebellen. Und ein Rebell war er, der Prediger und Superintendent, den Gotha, Frankfurt/Oder und Berlin für sich reklamieren, der Spuren hinterlassen hat in Saalfeld, Halle/Saale, Züllichau, heute auf Polnisch: Sulechow. Eines der merkwürdigsten Steinchen im farbenfreudigen, strahlenden Mosaikbild, auf das alle Wege hinlaufen, auf das Motive und Interessen der meisten handelnden Figuren unserer Suche gerichtet sind, findet sich in der gotischen Kirche St. Marien in Frankfurt an der Oder, eines der protestantischen Gotteshäuser, für das der Theologe, Kirchenpolitiker und Lehrer Löffler im Laufe seiner jahrzehntelangen Tätigkeit Verantwortung trug. Um präzise zu sein – nicht der Kirchenbau, nicht die theologischen Debatten, nicht die personellen Auseinandersetzungen Löfflers innerhalb der Stadt und an der Universität von Frankfurt an der Oder zwischen 1779 und 1787 stehen im Zentrum unserer Aufmerksamkeit, sondern jene biblischen Szenen der drei gewaltigen Chorfenster von St. Marien, der „Oberkirche“ am Markt von Frankfurt, gerichtet gen Osten, entworfen und gestaltet in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.
Bisher kenne ich nur sehr wenige wissenschaftliche Hinweise auf die Chorfenster und besonders jene Darstellungen zum Thema Antichrist, bezogen auf Josias Löffler und Heinrich von Kleist, obwohl es eigentlich auf der Hand liegt – oder besser gesagt: beim Eintreten in das Gotteshaus sofort in die Augen springt -, dass die Nachbarn aus dem „Nonnenwinkel“ sich im angrenzenden Kirchenschiff Anregungen für ihre literarischen und theologischen Auseinandersetzungen geholt haben könnten. Der Gegenstand wird uns in den weiteren Folgen begleiten – beim „Käthchen von Heilbronn“, bei der „Hermannsschlacht“, bei den kirchengeschichtlichen Studien des Josias Löffler. Und es wird sich uns auch immer wieder die bedrückende und erschreckende Frage aufdrängen, warum dieser Zusammenhang jenen „kleistologischen Weisen“ keine Zeile in ihren weitschweifigen Darstellungen untersuchenswert erscheint – weder als Frage, noch als Hypothese, nicht einmal als Fußnote.
Josias Löfflers gesamtes Leben und Wirken war geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen liberalen, progressiven Kräften in der Theologie der Periode der Spätaufklärung und den konservativen Gruppierungen und Personen. Er hatte sich während seiner Zeit als junger Prediger und Theologe in Berlin aus der Anonymität des Rebellen hervorgewagt und war seitdem jahrzehntelang theoretischen und politischen Anfeindungen ausgesetzt, die auch nach seinem Tod anhielten, wie die scharfen Auseinandersetzungen um eine öffentliche Ehrung in Gestalt eines Denkmals in Gotha belegen.
Josias Löffler – wohin er kommt – wo er tätig ist findet er Gleichgesinnte – im schwarzen Rock des Predigers manchmal im bunten Rock des Königs so auch in Frankfurt an der Oder den herzoglichen Prinzen abgemahnt durch Den König wegen seiner Konzeption des militärischen Vorgehens Wegen seiner Vorstellung von der militärischen Disziplin vielleicht sogar war er Vorbild gleich für den homburgischen Prinzen?
Sie sind Nachbarn sie sind Nachbarn im Geistigen und auch im real Materiellen und vermutlich auch im Träumen – der Offizierssohn im gleichen Haus im Frankfurter Nonnenwinkel der Professor und Generalsuperintendent im Gemeindehaus hinter der Marienkirche 25 Jahre älter als der aufgeweckte junge aus dem Haus über der Straße. Im dritten Haus dazwischen residiert die andere Erwachsene Bezugsperson des Jungen, das fürstliche Idol Prinz Leopold von Braunschweig Chef des Infanterieregiments und Stadtkommandant, dem der Vater des Jungen als Major diente.
Wie im weiteren Gang der Darstellung detailliert zu sehen sein wird, ist im 19. Jahrhundert im deutschen Protestantismus ein deutlicher Nachhall des theoretischen Erbes Löfflers zu hören – aber auch bis in die Gegenwart ist bei Historikern und vor allem Theologen das Bedauern herauszulesen, dass die Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Erbe Löfflers noch manche Lücken aufweist. Als aktuelles Beispiel sei die Studie von Malte van Spankeren genannt, der im Kontext seiner umfassenden Würdigung des Hallenser Universitätslehrers Johann August Nösselt (1734-1807) beklagt: „Aus der Vielzahl der Schüler Nösselts erscheint insbesondere eine intensive Beschäftigung mit dem bislang kaum erforschten Josias Friedrich Christian Löffler instruktive Aufschlüsse zu versprechen. Dieser übte nicht nur fast drei Jahrzehnte in Kirchen leitender Position als Superintendent des Gothaer Herzogtums wichtigen Einfluss aus, sondern stimulierte darüber hinaus eine kritische Sichtung der traditionellen Trinitäts- und Genugtuungslehre.“
Der Blick der letzten Tage aus dem Fenster der Dachetage des Saalfelder Schlosse verrät: Ein heißer Sommer ist über uns in Thüringen hereingebrochen, der Fluss verschafft kaum Kühlung, der Wasserstand ist auf ein Minimum gesunken, so dass selbst das Paddeln im althergebrachten Holzboot mir Segeltuchhaut nur mit äußerster Mühe möglich ist. Es ist Sonntag, an der Saaltorbrücke habe ich mein Boot vom Fahrradanhänger gelöst und lasse mich nun treiben – vorbei am Schloss hinter der Uferstraße, unter der Carl-Zeiss-Brücke durch, die Weiden und Pappel am Ufer leiden unter der Hitze, die Blätter beginnen sich schon gelb zu färben und zum Schutz gegen die Sonne und als natürliche Barriere gegen zu schnelle Verdunstung zusammenzurollen, die Villa Weidig und der Festplatz sind hinter den Bäumen und der Uferbepflanzung zu erkennen, nach zwei Brücken unter den Bundesstraßen in Richtung Rudolstadt und Bad Blankenburg kehre ich um. Auf der Rückfahrt – flussaufwärts – muss ich mich etwas mehr ins Zeug legen, die Strömung ist bei dem Niedrigwasser kaum zu spüren. Auf der rechten Seite sehe ich nun auch das Hinweisschild in Gestalt eines breiten Holzpfeiles in den schwarz-weißen preußischen Farben für historisch interessierte Wassersportler: „400 m: Wöhlsdorf – Gedenkstein Louis Ferdinand von Preußen 1806“ und hinter den Büschen die Häuser des Dorfes, inzwischen in die Stadt Saalfeld eingemeindet.
Da hat mich die Geschichte wieder und insbesondere jene Periode um 1790, illustriert durch die Biographien der Personen meines Konvoluts: Josias Löffler, Herzog Ernst von Gotha, Herder, Heinrich von Kleist, Bertuch, Zedlitz, Semler (ebenfalls aus Saalfeld stammend). Die tiefhängenden Äste der Weiden, deren Zweige oft das Wasser berühren, die Ruhe des träge mir entgegenkommenden klaren Wassers lassen eine Stimmung aufkommen, die mich in die Zeit vor 200 oder gar 250 Jahren zurückversetzt. Sehr viel anders wird sich der schmale Flusslauf im 18. Jahrhundert dem Wanderer, dem Flößer, dem Fährmann zwischen zwei größeren Orten an den bedeutenden Handelsstraßen auch nicht geboten haben als mir heute. Ich lenke mein Boot unter eine Weide und lasse das erfrischende Wasser an Füßen und Händen vorbeiziehen. Ich träume nicht, aber ich lasse das Heute für eine Stunde nicht an mich heran, versinke in die romantische Saalelandschaft des Jahres 1752.
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Am nächsten Tag, gegen neun Uhr: „Chef, wann geht es denn richtig los?“ – „Guten Morgen, liebste Edda, es ist schon losgegangen, in meinem Kopf …“ – „Kann ich nicht – Gedanken lesen“
JOSIAS war der Name der Saalfelder Fürsten aus dem Geschlecht der Ernestiner. So lässt also im Januar jenes Jahres der Saalfelder Bürger Johann Christoph Löffler den Sohn, den ihm die eheliche Gemahlin Magdalene Susanna, geb. Mahn, geboren hatte, auf den ersten Namen Josias taufen, dazu noch Friedrich und Christian, die Namen der beiden Großväter.
Man hat standesgemäß eine Wohnung unmittelbar neben dem Rathaus, der Status erlaubt die Anmietung einer Stube nebenan für Oma Margarete, der Witwe des Großvaters väterlicherseits.
Der den sächsisch-thüringischen Wettinern zugetane Vater, dessen Stand als „Stadtsyndicus“ und „Hofadvocat“ angegeben wird, lässt dem Sprössling eine solide Schulbildung angedeihen – Syndicus bedeutete ja immerhin der oberste Jurist der Stadtverwaltung dieser reichen herzoglichen Residenz mit ihren etwa 15 000 Einwohnern und die ihren Wohlstand dem Bergbau und dem Fernhandel verdankte.
Ein Glücksfall, dass Vater Löffler mit einem „gelahrten“ Universitätsprofessor befreundet ist, Johann Salomo Semler, der aus Saalfeld stammt, aber saaleabwärts in Halle einen Lehrstuhl für protestantische Theologie innehat. Die Saale – wie der Main, der Neckar, die Oder – hat eine herausragende Bedeutung als Lebensader für die wirtschaftliche, politische und geistige Verbindung der Territorien des zersplitterten deutschen Reiches – neben den dominierenden Strömen Rhein, Donau und Elbe. Die Saale durchfließt im 18. Jahrhundert weltliche und geistliche Fürstentümer Frankens, Thüringens, Sachsens, Anhalts, fügt fürstliche Residenzen, städtische kirchliche, geistige und Universitätszentren zusammen wie Saalfeld, Rudolstadt, Jena, Naumburg, Weißenfels, Merseburg, Halle und Bernburg.
Das Saaleabwärts gelegene Halle ist die letzte größere brandenburgisch-preußische Siedlung an der Grenze zu Sachsen, empfängt nicht nur den akademischen Nachwuchs, sondern vor allem das edle Bauholz aus den thüringischen Wäldern in großen Flößen, sendet es weiter ins Anhaltinische, auf der Elbe nach dem sächsischen Wittenberg und auch zu den Schiffswerften nach Hamburg und Dänemark. Das preußische Halle wird den jungen Josias prägen, wird ihm Freunde und strenge akademische Lehrer bieten und die moralischen Werte einer pädagogischen und theologischen Laufbahn vermitteln.
Noch aber lernt der aufgeweckte, neugierige Josias fleißig an der Saalfelder Schule. Jahre später schreibt Josias Löffler an den Freund Philipp Lieberkühn in Neuruppin:
„Mein gestrenger Herr Vater wollte aus mir einen ebenso strengen Beamten machen; es setzte zwar keine Prügel, aber in der Wirkung ebenso demütigende moralisierende Sprüche, tägliche Vorträge über die hohen Werte der Sittlichkeit des Soldaten, des Beamten, des von Gott auserwählten Fürsten. Oma Margarete war meine eigentliche Erzieherin, sie lehrte mich heimlich Lesen und Schreiben lange bevor ich in die gestrengen Hände der bestallten Lehrer fiel. Sie lies mir Papiere zukommen, weggeworfene Briefe, Rechnungen des Weinhändlers, Spielkarten mit den Köpfen und Palästen der einheimischen und fremdländischen Königen sowie den dazugehörigen Jahreszahlen. Sie fragte mich ab, ob ich auch alles richtig verstanden habe – im zarten Alter von 4 bis fünf Jahren. Ich wünsche jedem Kind eine solche Oma.
Saalfeld prägte meine Kindheit. Aber da ist schon die erste Korrektur fällig – nicht die Stadt, nicht die herzogliche Residenz habe ich in Erinnerung, sondern Garnsdorf, ein paar verschlafene Bauernhäuser an der Straße nach Schmiedefeld und Sonneberg. Das Haus des Großvaters mütterlicherseits, gelegen am Hang, gab den Blick frei in Richtung Osten, auf Saalfeld, auf den gewundenen Lauf der Saale, auf die Hügel hinter der Stadt, die mittelalterlichen Burgen der fränkischen und thüringischen Raubritter. Die Großmutter Else schickte uns fünf Kinder auf Futtersuche für die beiden Ziegen im Stall, das Dutzend Hühner im Hof. Eines Tages, ich war als Ältester der Geschwister mit 10 Jahren von der Mutter schon eine Woche vorher eingeweiht, zog unsere Tante Lisbeth mit drei weiteren Kindern in unser Haus. Ihr Mann war als Soldat in Böhmen gefallen, so blieb nur die Zuflucht zur Großmutter. Nun waren wir zu acht im Kinderzimmer, neben mir hatte sich im großen Bett für die Älteren die dreizehnjährige Cousine Dorothea einquartiert, die mich nachts im Schlaf an die Wand drückte. Aber tagsüber konnte ich mit ihr über mein Seelenleid sprechen, über mein Fernweh, über meinen Wunsch als Flößer auf der Saale heimlich nachts bis aufs große Meer zu fliehen und als Schiffsjunge nach China zu segeln. Wir übten schon mal auf dem Holzstapel hinter dem Haus – ich oben auf der Brücke, sie unten auf Deck. Wir waren glückliche Kinder. So ertrug ich auch die nächtliche Enge zwischen der kalten Wand und dem warmen, erregenden Körper von Charlotte.
Meine Mutter verstand unter Glück etwas anderes, die Familie, das Wohnen bei den Großeltern, die Stadtschule für die Kinder. Dann traf uns das Schicksal hart – der Vater starb und wir mussten ein Stadt- Haus ziehen – neben der Kirche, ohne Aussicht, ohne Ziegen und Hühner, aber von morgens bis abends mit dem Geläut der Glocken. Wir wohnten neben der Poststation, wir Kinder lernten die Klänge aus dem Horn des Postillons lieben, wir bewunderten die bunten Röcke der Reisenden, ihre Koffer und Kisten auf dem Dach der schweren Kutsche.
Dennoch traf ein anderes Glück mich, den Jungen nunmehr ohne Vater, aber immer unter Beobachtung eines väterlichen Freundes, des ebenfalls aus Saalfeld kommenden Professors Semler in Halle, der mir einen Platz an der Lateinschule der Franckeschen Stiftungen sicherte – einen letzten Freundesdienst für meinen verstorbenen Vater. Ich verstand selbst mit 11 Jahren diese Güte des Hochgelehrten Professors, ich war vorbereitet auf die höhere Bildung durch das Lyzeum in Saalfeld in den Grundlagenfächern Latein, Religion, Lesen und Schreiben und durch die liebe Betreuung durch Oma Margarete.
Das Weitere kennst du aus eigenem Erleben – ich erwies mich meinem Gönner außerordentlich dankbar, erwählte den Freund der Familie zu meinem akademischen Vorbild, strebt ihm nach in wissenschaftlicher Neugier, Ehrlichkeit, Akuratesse.“
Philipp Lieberkühn, der Adressat des Briefes, gehörte zusammen mit Johann Stuve zum engsten Freundeskreis von Josias Löffler während der Studienzeit in Halle. Sie hatten protestantische Theologie gewählt – auf Empfehlung Professor Semlers. Löffler war 16 Jahre, als er von der Lateinschule der Franckeschen Stiftungen an die Universität wechselt. Sprachbegabt, historisch interessiert, humanistischem Engagement zugeneigt, so studiert er Theologie, Kirchengeschichte, Geschichte des Protestantismus, wissenschaftlich begründet auf dem Verständnis des Hebräischen, des Griechischen, des Lateinischen.
Da ist noch eine andere Sache, die Josias in dem Brief nicht nennt – die besonderen Umstände jenes Jahre 1763, in dem er in die Franckeschen Stiftungen aufgenommen wird: das Ende des schrecklichen mehrjährigen Krieges, in dem die Stadt Halle in regelmäßigen Abständen von den durchziehenden gegnerischen Sachsen, Franzosen, Österreichern und Russen zerbombt und geplündert, die öffentlichen und privaten Kassen bis auf den letzten Heller geleert wurden, wobei die Bürger oftmals für die „Eigenen“, die Preußen, bei deren gelegentlichen Durchmärschen und Biwaks auch bluten mussten.
Lieberkühn und Stuve, die beiden Freunde, kamen erst lange nach Josias nach Halle – noch waren alle Kriegswunden nicht verheilt, die Lethargie nicht überwunden, von Gewerbefleiß konnte lange Jahre nicht wieder die Rede sein, die Handelsbeziehungen in die benachbarten sächsischen und thüringischen Städte und Dörfer immer noch am Boden.
Davon liest man nichts in den Briefen. Das Leiden in Frieden und Krieg, das Intime vom Körperlichen und Seelischen, die Zweifel, die täglichen Ungerechtigkeiten … das vertraut man den Briefen nicht an, zu viele Unbefugte lesen mit.
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663
Dieter Weigert, Berlin 19. Juli 2023





















