Eine tote Polin in der Mulackstraße – Rings um das Berliner Scheunenviertel (3)

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Das „Scheunenviertel“ im Berliner Osten war Zufluchtsort seit Jahrhunderten für verfolgte aus dem Riesenreich der russischen Zaren – Juden und Nichtjuden aus Polen, der Ukraine, den baltischen Ländern, Weißrussland. Die Kneipen, kleinen Kellerläden, die Hinterhöfe der Münz-, Grenadier-, Hirten-, Dragoner-, Mulackstraße beherbergten die Ärmsten der Armen, aber auch schon diejenigen, die es schon zu etwas gebracht hatten – kleine Straßenhändler, Musikanten, Zuhälter, Spitzel der Geheimpolizei, Flickschuster und Änderungsschneider.

Wir wissen leider nicht, wie die Frau hieß und welche Tätigkeit sie ausgeübt hatte, bei der die Polin Sonia Horn im April 1945 nach ihrer Entlassung aus dem Konzentrationslager Ravensbrück Zuflucht gesucht hatte. Wir wissen, dass sie eine Verwandte oder eine Freundin der Mutter Stanislawa Kowalska war, dass sie in der Mulackstraße 23 wohnte. Und wir kennen das tragische Schicksal der jungen Frau, denn ihr Grabstein in der südöstlichen Ecke des benachbarten alten historischen Garnisonfriedhof gibt Auskunft: sie starb am 29. April 1945, am vorletzten Tag des Krieges.

Was wissen wir aus ihrem Leben? Sonia war die Tochter einer Polin und eines deutschen Vaters, wuchs bei der Mutter in Myslowice (Schlesien) auf, nahm als Kind Tanzunterricht, wird aber in einer Klosterschule auf das „wirkliche Leben“ vorbereitet. Sie verliebt sich in den Lehrer Franticzek Roj, folgt ihm 1939 nach der Niederlage der polnischen Armee, deren Angehöriger ihr Geliebter als Reserveoffizier ist, in den Untergrund und nimmt aktiv am Widerstandskampf teil. Durch Verrat fliegt die Gruppe auf. Franticzek, der die Zusammenarbeit mit den Deutschen im Krieg mit der Sowjetunion ablehnt, wird 1943 von den Nazis in Auschwitz erschossen, Sonia in des KZ Ravensbrück verschleppt. Sie übersteht die Quälereien, spendet ihren mitgefangenen Frauen und Kindern durch Tanz Trost, überlebt das Grauen und kommt im Frühjahr 1945 frei. Zwei mögliche Erklärungen für das „Verschwinden“ des Häftlings Sonia in diesen letzten Monaten des Krieges, als die Rote Armee näher rückt, werden aufgrund mangelnder Archivmaterialien von den Historikern angeboten  – entweder die Flucht aus der Stadt Oranienburg, nachdem es ihr gelungen war, sich eine Stelle als „dienstverpflichtete Helferin“ bei einem SS-Arzt zu verschaffen oder ein Listenplatz für die Transporte nach Skandinavien des Internationalen Roten Kreuzes, den sie sich durch Bestechung oder falsche Papiere besorgt haben könnte.

Es gelingt – sie schlägt sich nach Berlin in die Mulackstraße durch, will das Ende des Krieges hier abwarten. Es ist ihr nicht vergönnt – sie fällt den letzten Straßenkämpfen in Berlin-Mitte, im „Scheunenviertel“ zum Opfer, ihr Körper wird in einem Massengrab Anfang Mai auf dem alten Militärfriedhof zwischen Linien- und Mulackstraße beigesetzt.

Dr. Dieter Weigert, im Oktober 2018

 

Autor: Sternberlin

Dr. phil. habil.(Philosophie und politische Wissenschaften) , inzwischen Pensionär - aktiv in Denkmalschutz und Denkmalpflege, besonders Kirchen und historische Friedhöfe in Berlin an Wochenenden - unter der Woche in unregelmäßigen Abständen engagiert in Lehrerfortbildung (Geschichte, Architektur, Literatur und Theater,Bildende Kunst)

4 Kommentare zu „Eine tote Polin in der Mulackstraße – Rings um das Berliner Scheunenviertel (3)“

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