Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz -oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 20 von Schlotheim

Endlich – ein milder Märzmorgen – der leichte Aufwind vor meinem Fenster wirbelt vom Park zwischen den Schneeflocken ein froststarres, hellgelbes Lindenblatt auf meinen Schreibtisch hoch, die Erinnerung daran, wie lange ich nun schon an Josias Löfflers „Erbe“ sitze. Die immer noch fahle Wintersonne scheint mir zuzurufen: Ab in die Wälder, es ist Zeit für die Suche nach den Schneeglöckchen!

Da schiebt der Wirbelwind ein einsames Blatt aus dem Konvolut auf den Boden unterm Fenster, gerad noch kann ich es greifen, bevor es den Weg zum Schloßteich wählt. Auf den ersten Blick ziemlich fremd für unseren Theologen – gezeichnete Fossilien. Ein Anruf in Gotha beim Kollegen im Staatsarchiv – er konnte sofort helfen – ich möge doch in den Annalen des großen Schlotheim das Jahr 1823 aufschlagen, da seien die Vorarbeiten aus der Frühzeit des Mineralien- und Fossilien-Forschers abgedruckt – und schon könne ich mich glücklich über diese Entdeckung schätzen. Also zwischen 1810 und 1812, noch zu Lebzeiten von Josias, er müsse ja den großen Meister gekannt haben und er habe ihm vermutlich die Vorab-Skizze geschenkt – Beipiel für Gottes Schöpferkraft in Mutter Natur!

Ich entscheide mich für eine Woche Auszeit: eine Reise durch die partnerschaftlichen historischen Archive Thüringens. Sie sollte mich zuerst nach Weimar und Gotha führen. Das Ergebnis war gemischt. Obwohl die Person Löfflers nicht unbekannt war, zählte sein Nachlass nicht zu den gesuchtesten der Forschergemeinden außerhalb Thüringens. Überraschend für mich war, dass die Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt an der Oder und in den kirchlichen Einrichtungen Berlins Josias Löffler wenig Interesse entgegenbrachten. Ja, den Namen kannte man, aber er sei doch nur ein Mann der zweiten Reihe gewesen! Die Beziehung zu Kleist war auch in Frankfurt nur für Wenige des Nachdenkens wert. Selbst mein Hinweis auf die Nachbarschaft der Familie Kleist zu Löfflers „Hauskirche“ St. Marien im Nonnenwinkel schien sie nicht vom Hocker zu reißen – es gäbe nichts Neues zu suchen, alles sei schon geschrieben. Also zurück in den selbst gesetzten Rahmen der im Konvolut überkommenen Papiere und zum Vergleich mit den Schätzen in Weimar und Gotha, den ich Edda in einer ruhigen Stunde vortrage:

Anhand der überkommenen und im Goethe-Schiller-Archiv  aufbewahrten Briefwechsel Löfflers mit Herzog Ernst und der Herzogin kann man ohne Übertreibung sagen, dass zwischen dem Herrscherpaar und ihrem obersten Kirchen- und Schulpolitiker ein echtes Vertrauensverhältnis, wenn nicht gar eine sehr enge Bindung bestand, deren Grundlage gegenseitige Achtung und wohl auch Sympathie füreinander gewesen sein muss.

Mit dem erzwungenen Weggang aus dem königlich-preußischen Frankfurt verliert Josias Löffler seine Professur, damit seinen unmittelbaren Einfluss auf Studenten, aber die Stellung als Generalsuperintendent in Gotha bringt ihm den Gewinn des direkten Kontaktes zum Souverän – ohne Vermittlung eines Ministers und einer ihm nicht immer wohlgesinnten Bürokratie und Zensur. In Frankfurt hinterlässt er Freunde und Vertraute, Plothe berichtet ihm regelmäßig über die neusten politischen, kirchlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen. Er verliert den familiären Kontakt  zu den Kleists im Nachbarhaus, er gewinnt in Gotha neue Freunde – den Literaten  Friedrich Wilhelm Gotter und dessen Ehefrau Luise, seit Kindstagen eine Vertraute der Göttinger Professorentochter Caroline Michaelis, spätere Böhmer, Schlegel, Schelling. 

Zurückgekehrt in meine Dachstube: Da liege nun die Mengen an Papieren, Fotos, Scans – beginnen wir mit den Jahren nach 1806!

Ich zwinge mich zur sachlichen Niederschrift: Das Herzogtum und die Residenz beginnen sich von den Schrecken des Krieges zu erholen, ein geregelter Alltag zieht ein in die Tätigkeit des Generalsuperintendenten, auch die Post hat zu ihrem Vorkriegsrhythmus gefunden. Am Montag nach dem vierten Advent des Jahres 1811 sitzt Josias Löffler am Schreibtisch vor dem Fenster zum verschneiten Schlosshof. Morgen ist Heiligabend, da wird er den Schlitten vom Boden holen, mit den Kindern im Park unterhalb des Friedenstein einen Schneemann bauen und am Nachmittag Lieder singen.

Jetzt aber noch vor ihm der übliche Stapel Briefe, sorgsam sortiert durch den emsigen Secretarius. Da fällt sein Blick auf zwei abseits liegende Schreiben, die Siegel noch nicht erbrochen – der Sekretarius hatte respektvoll den Schriftzug „Persönlich“ beachtet; die Briefe waren auch nicht mit der regulären Post gekommen, sondern ein Freund hatte sie aus Berlin privat befördert – die beamteten Schnüffler der Post mussten ja nicht alles erfahren, was man sich so unter Freunden austauschte.

In den versiegelten Umschlägen lagen jeweils ebenfalls versiegelte Schreiben – beide aus Frankfurt, einer vom Professor Wünsch und der andere vom Pfarrer Carl Samuel Protzen, seinem Nachfolger im Amt an der Marienkirche.

Carl Protzens Umschlag, etwas umfänglicher als der des Kollegen Wünsch,  trug auf der Rückseite das Datum vom 7. Dezember, dessen Siegel brach er zuerst. Die Nachricht – schon im ersten Satz schonungslos mitgeteilt – traf ihn hart: Plothe war gestorben. Josias Löffler zwang sich zum Weiterlesen: Johann Christoph Plothe, derjenige unter den Kirchenmännern in Frankfurt, dem er am meisten vertraute und dessen politische Einschätzungen er in den monatlichen Briefen seit dem Weggang aus Frankfurt vor über zwanzig Jahren sehr schätzte, war lange krank gewesen. Den „treuen und rechtschaffenen Plothe“ hatten ihn die Frankfurter genannt, ein Märker aus Lagow auf der Ostseite des Oderlandes, der Neumark, ausgebildet an der Viadrina, verströmte auch im reifen Alter noch die Gefühle der heimischen Wälder und Seen, man meinte in seiner Gegenwart das Rauschen der Blätter von Birken, Pappeln und Linden zu hören, das Tschirpen der Spatzen auf der Dorfstraße, das Quaken der Frösche an den Bächen.

Plothe war vier Jahre jünger als Löffler, in ihren Gesprächen spürten beide diese Differenz kaum, von Anfang an waren sie offen im Umgang – wie leibliche Brüder, Löffler ließ den Jüngeren das Untergebenenverhältnis nicht anmerken. Sie waren einander so ähnlich, auch in ihrer Neigung zum Lehrerberuf. Plothe hatte den Vorteil, dass er die praktische Arbeit in der Schule kannte – er war schon mit 21 Jahren Subrektor an der Oberschule, hatte neben der Lehrtätigkeit wegen der zusätzlichen Thaler Privatunterricht gegeben, bei dieser Gelegenheit hatten sie sich schon getroffen als beide das Berliner Brüderpaar Humboldt in den antiken Sprachen Griechisch und Latein unterrichteten.

Josias hatte Mühe, sich in die Gegenwart zurückzuholen. Gedankenlos kramte er in den von Pfarrer Protzen beigelegten Papieren – Briefe, Briefentwürfe, Namenslisten, Notizen über Gespräche in Frankfurt und Züllichau. Der gute Protzen hatte vermutlich beim Ausräumen von Plothes Arbeitszimmer den Inhalt einer Schreibtischschublade unsortiert eingepackt, da obenauf ein an ihn, Josias, gerichtetes Schreiben von Plothe auf blauem Papier lag, die Tinte begann schon zu verblassen. Das Wort Teufelsfratzen schon auf der ersten Seite ließ ihn stutzig werden – das war kein Alltagskram, warum sollte Plothe ihn auch mit Nichtigkeiten behelligen? Josias sucht nach einem Datum, da war es, zierlich unten rechts plazirt – Frankfurth, Samstag, d. 23. November 1799  – warum hatte Plothe den Brief nicht abgeschickt?

Aber sehen wir uns den Text an, vielleicht erledigen sich ein einige Fragen beim Lesen von selbst:

Mein lieber ferner Freund, verehrter herzoglicher Generalsuperintendent! Außer der Reihe und auch per nichtöffentlicher Sendung durch einen Vertrauten schreibe ich mir etwas von der Seele, was ein Erdbeben in mir ausgelöst hat – die Teufelsfratzen erschienen mir mehrfach im Traum! Erinnern Sie sich an jenen Brief aus dem Jahre 93, als Sie mir den Besuch des Soldaten-Knaben von Kleist in Gotha beschrieben? Aus dem Knaben ist nun ein Mann geworden, reife Gesichtszüge, körperlich gerundet, kaum aber an Höhe gewonnen. Er hat nun den Armeedienst als Gardeleutnant quittiert und ist – Student an der VIADRINA !!!! Retour in die Heimat, in das Haus im Nonnenwinkel !!!

Da ich nur sehr wenig mit der Universität in contact bin und auch kaum Gelegenheit und Not hatte, das Kleistsche Haus nebenan zu besuchen, war mir die Rückkehr des Nachbarsohnes entgangen. Doch er selbst fand zu mir, kam eines Morgens in unsre Oberkirche. Ich sah ihn versunken in Gedanken vor dem Altarbild sitzend – in unscheinbarer Civilkleidung, ein Heft in der Linken, den Stift in der Rechten. Ihn nur aus den Augenwinkeln wahrnehmend, wollte ich unerkannt vorübergehen, da sprach er mich an und bat um Hilfe beim Verständnis der dargestellten Personen. Nun erkannten wir einander wieder – es waren ja sechs Jahre vergangen seit der letzten Begegnung, seit jenem denkwürdigen Gespräch über die Teufelsfratzen in den Chorfenstern. Heute aber war sein Interesse auf die beiden Heiligenfiguren neben der Gottesmutter im zentralen Altarbild gerichtet – links der Märtyrer Adalbert, den die Heiden in Preußen vor 700 Jahren erschlagen hatten und rechts Hedwig mit dem Modell einer Kirche auf dem linken Arm.

Während er die Namen in ein Heft notierte, beschrieb mir der nunmehr erwachsene Kleist in kurzen Worten die Stationen seines Lebens der letzten Jahre und auch den Grund seiner Rückkehr in die Vaterstadt – die Aufnahme eines Studiums an der Viadrina.
Er nahm mich schließlich am Ärmel und zog mich zu den wohlbekannten Chorfenstern – da würde ich ihn wohl besser verstehn!

Er zeigte mir im rechten Fenster eine Szene, die er „brennendes Fleisch“ nannte – Flammen schlagen aus dem weit aufgerissenen Rachen eines Ungeheuers, in den nackte Menschen an einer grünen Kette hineingezerrt werden durch teuflische Gestalten. Die Menschen versuchen sich zu schützen, indem sie die Hände vor ihr entsetztes Gesicht heben.

Er habe das gesehen im Krieg! In einem Dorf in der Nähe von Mainz, Bäuerinnen waren zwischen die Artilleriefeuer geraten und in einer Scheune schreiend verbrannt, den Geruch brennenden Menschenfleisches werde er wohl niemals los werden. Vor Erregung stotternd wies er mit der Hand auf eine Szene im gleichen Fenster, in der zwei freundlich erscheinende Männer dargestellt sind, die einen Jüngling  mit einer dicken Stange mitleidlos in ein loderndes Feuer stoßen.

Mich zum nun mittleren Fenster ziehend, erklärte er unter Thränen, hier fände ich den endgültigen Beweggrund dafür, weshalb der dem König weiterhin den Dienst im bunten Offiziersrock verweigere: Mitten im tiefsten Frieden habe er als Gardeleutnant seinen Leuten die erbarmungslose Verprügelung von zwei Grenadieren befehligen müssen, denen bei der Alarmierung auf dem Kasernenhof ein Knopf an der Uniform gefehlt habe!

Hier nun sehe er in zwei religiösen Geißelungsszenen, dabei zeigte er nach oben auf die drastisch dargestellte Auspeitschung des Heilands und des Jeremias, die Unmenschlichkeit des preußischen Militärwesens. Die seelischen Schmerzen könne er nicht mehr aushalten!

Verehrtester Freund, Sie können ermeßen, wie aufgewühlt ich nach dieser Confeßion unseres Studiosus war. Er hatte mir mein seelisches Gleichgewicht gestört, dass ich brauche in Ansehen all des Elends in unseren Straßen,  des Leids der Frauen und Mädchen unter der Schwere der familiären Lasten, der drückenden Armut in den Dörfern, des jämmerlichen Zustands unsere Schulen. Seither verbringe ich jede freie Minute vor den Fenstern, dringe ein in die Gefühlswelt jener Künstler des Mittelalters, die den Schrecken ihrer Zeit, den Kriegen, der Pest, dem Ausgeliefertsein der Willkür der Herrschaften, nur Beten entgegensetzen konnten. Selbst das Beten, das keine Grundlage in den Texten der Bibel fand, da die Massen nicht lesen konnten, brachte keine Erlösung.

Gestern nun fand ich eine Szene im rechten Fenster, die über das hinausging, was den Studiosus so sehr ergriffen hatte: ein Mann, der kopfüber an den Beinen aufgehängt ist, wird von einem Jüngling, der durch ein freundliches Gesicht, fast kindlich noch, characterisirt ist, mit einem Rutenbündel gnadenlos ausgepeitscht.

Hinter dem peitschenden Jüngling steht eine Person, die ihm Befehle gibt, von einer zweiten Figur hinter ihm sind nur die Teufelshörner, die Kuhgehörn ähneln, zu sehen. Es war die biblische Umsetzung der täglichen Erfahrung des preußischen Leutnants – hunderte Jahre zuvor durch einen Künstler in unserer Kirche gestaltet!!! Ein nochmaliger Blick zeigt ein weiteres biblisches Thema – der Befehlsgeber mache sich nicht die Hände schmutzig, er schaut gelassen auf die brutale Szene, so wie es der preußische König von seinen Offiziers verlangt!

Als der Studiosus zum nächsten Gespräch kam, hatte ich nicht die Kraft, ihm diese Szene zu zeigen, sondern orientierte ihn auf ein mehr „friedliches“ Geschehen – die Macht des Goldes. Im rechten Fenster gibt es dazu drei Bildnisse, in denen besonders deutlich auch Teufelsfratzen gestaltet sind: die teuflische, dämonische Macht der Verführung der Menschen durch das Gold.

Er meinte dazu trocken, daß ihm diese Illustrationen helfen würden, die finanz-ökonomischen Lehrsätze des Professors Wünsch zu verstehen.

Lieber treuer Freund, bester verehrter herzoglicher Generalsuperintendent! Unser Herrgott beschert uns doch manchmal mehr Überraschungen als wir menschliche Wesen verkraften können – meinen wir. So geschehen gestern morgen gegen 9 Uhr, gerade hatte ich im Amtszimmer die Diakons-Angelegenheiten auf dem Tisch ausgebreitet, da stürzt polternd ohne zu klopfen unser Herr Studiosus herein, zerzaust, wilden Blickes, nahm mich am Arm und führte mich Zaudernden kraftvoll in das Kirchenschiff, vorbei am bronzenen Leuchter hin zum Hochaltar. Ich konnte ihn kraftvoll davon abhalten, auf das Podest zu steigen und mit Fingern auf jenen Bildausschnitt zu zeigen, der die heilige Hedwig – barfuß – mit den blau-weißen halbhohen Schuhen in der rechten Hand dargestellt war. Er meinte, ich solle mir das Bild gut einprägen, denn er würde in einigen Minuten ein Ratespiel mit mir veranstalten. Dann zog er mich zu den uns inzwischen wohlvertrauten gläsernen biblischen Szenen und wies im linken Fenster auf die Wiedergabe eines sehr weltlichen Themas hin – drei junge Männer bei der Feldarbeit, mit eisernen Hacken, angebracht an langen Holzstielen, bearbeiten sie den steinigen Boden!

Soweit er die alttestamentarische Erzählungswelt kenne, meinte unser Studiosus, müsse es sich um die Söhne von Noah handeln, denn in den benachbarten Szenen sei die Trunkenheit Noahs wie auch In den vorangegangenen Bildern der Bau der Arche und die Rettung von Mensch und Getier vor den Wellen der Sintflut dargestellt.

Was ich davon halte? Das sei nun das Rätsel für mich. Und was ich davon halte, wenn man diese drei jungen Bauern im Zusammenhang mit der barfüßigen Heiligen vom Altarbild betrachte. Das sei das Ratespiel, das er mit mir vorhabe. Er lachte hämisch und ich war verwirrt. Was soll ich darauf antworten? Ich hatte mich mit diesem Bilde und auch mit der Heiligen Hedwig nun nicht so im Detail beschäftigt, dass ich sofort eine Antwort darauf hatte. Unser Studiosus war richtig erfreut und stolz, dass er mich bei einer Unkenntnis ertappt hatte. Und begann eine, wie er meinte, sehr wissenschaftliche Erklärung., die er bei der nächsten Disputation dem Professor Wünsch präsentieren wolle. Ich nickte zum Zeichen des Einverständnisses und lauschte aufmerksam. Wir seien nun also nach den Kriegszeiten zurück in eine friedliche Welt gekommen. Da brauche man keine Schuhe – wie Hedwig demonstriere – und da müsse man sich durch harte Arbeit sein täglich Brot verdienen. Die Gesichter der drei Noah-Söhne zeigten keine Unzufriedenheit, sie haben sich mit Gott versöhnt, die Arbeit schein für sie sogar eine Art Befreiung, eine Art menschlicher Schöpfungsakt zu sein. Hedwig zeige aber auch noch eine andere Tugend, die der leidenschaftlichen Liebe! Ob ich das auch an der Figur erkenne? Erkennen Sie die Verzückung, die Leidenschaft in den Gesichtszügen, das Stürmische im Faltenwurf des blauen und goldenen Gewandes?

Die Sinnlichkeit selbst im nackten Fuß, der erregt unter dem Saum des Kleides sich nach draußen wagt? Kräftig zog er mich am Rock zum linken Chorfenster, streckte wie ein Ertrinkender beide Arme nach oben zum nackten Bauch der Eva in der Verlobungsszene, unterdrückte mit Mühe einen Schrei der Verzückung – lieber Plothe, verehrungswürdiger Lehrer, fühlen Sie nicht die Leidenschaft, die uns Männer hin zu diesem Angebot der Hingabe zieht? Ist es nicht der Quell alles Lebens, der Drang zur innigen körperlichen Vereinigung, den Bauch und Schenkel der Eva uns darbieten? –

Im Innersten erschreckt wage ich einen Blick in das Gesicht des jungen Studenten: wie von Sinnen gestikuliert er, schreit er die Worte laut in den leeren Kirchgenraum, die Augen geweitet, das Wams geöffnet, die Haut krankhaft gerötet, die Mütze vom Haupt gerissen. Lieber Plothe, fleht er mich an, verstehen Sie, warum der Künstler den Busen der Frau hinter den schützenden Armen versteckt? Die Sinnlichkeit der Brüste soll uns nicht ablenken vom eigentlichen Mittelpunkt des Menschlichen, vom Schoß des Weibes, dem Brunnen, aus dem Alles kommt und zu dem Alles strebt.
Der Studiosus fällt auf die Knie, schlägt mehrmals mit der Stirn auf den Boden, rollt zur Seite, erhebt sich schwankend und stürzt zum Portal. Einige Wochen ließ er sich nicht blicken, dann bat er um ein ausführliches Gespräch, wenn es mein Zeitplan erlaube, um mit einem – wie er meinte – erfahrenen Pädagogen und Theologen seinen „Lebensplan“, den Weg zur Vollkommenheit“ zu beraten. Mit Professor Wünsch habe er es versucht, der sei aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Bevor ich zusage, suche ich eine Schrift heraus, die Sie, bester Freund und Lehrer, mir vor Jahren zugeschickt hatten mit der Bitte um eine Meinungsäußerung und deren Thema die bildliche Vorstellung der Schöpfung und der Geschichte des Falles der ersten Menschen ist. Ich glaube, Sie waren damals dem ehrenwerten Dr. Teller verpflichtet, der an einer längerdauernden Arbeit zu einigen alttestamentarischen Fragen saß und gern auf Ihre Erfahrungen als Pädagoge und Kanzelredner zurückgreifen würde.“
Der Text bricht unvermittelt ab, vermutlich ist ein Blatt verloren gegangen. Da Edda inzwischen an ihren Platz zurückgekehrt ist, führen wir eine Debatte über die Schwierigkeiten, die Jahre nach der Demission des Leutnants von Kleist und seine Versuche des „Heimischwerdens“ als Ziviler an der Viadrina zu verstehen. Kleist ist nun Student, beginnt nach der Sommerreise im Riesengebirge ernsthaft bei Professor Wünsch u.a zu studieren, sucht innere Ruhe auch bei St. Marien, seiner „Heimatkirche“ – dort kam es wahrscheinlich zu mehreren Zusammentreffen mit dem Theologen Plothe.
Plothe hofft auf weitere Gespräche, deshalb sind die Notizen und Briefentwürfe unvollendet, abgebrochen – Kleist jedoch ist verunsichert, geht auf Reisen, bricht das Studium ab, es kommt zu keinen weiteren Treffen.
Edda bemüht sich um eine psychologische Erklärung – Plothe registriere beim Zivilisten, beim Studenten Kleist eine erhöhte Verletzlichkeit, eine tiefe seelische Verwundung durch die Kriegserlebnisse und die emotionalen Qualen des regulären Militärdienstes. Er läßt die dargestellten Qualen in den Szenen der Chorfenster lange auf sich wirken, er saugt sie ein, er wendet sich nicht ab, sondern wendet sich ihnen zu! Sie sprechen darüber – der Diakon und der junge Student. Und zur Überraschung Plothes spricht Kleist vom Erlebnis des Überirdischen auf den Gipfeln der schlesischen Berge. Plothe wußte nichts von den Ausflügen, Kleist berichtete davon.

Edda bringt uns in das heute zurück. Es sei Freitagnachmittag im Amt, wir sollten uns dem wöchentlichen Aufräumen widmen, das ich so gut beherrsche, wie sie aus meinen Jugendbeichten wisse. Nichts sei mir doch so sehr verhasst wie Chaos am Montagmorgen; sie glaube dieser Charakterzug sei mir von den Handwerksgesellen in der Reihe meiner Ahnen in die Gene gepresst und während meiner eigenen dreijährigen Lehrzeit (nicht das Technokraten-Wort-Ungetüm AZUBI !, sondern stolzer, aktiver, sehr neugieriger Lehrling !) in der gediegenen Möbeltischler-Werkstatt von Meister Pfeiffer in Unterwellenborn veredelt worden. Das Werkzeug musste Freitagnachmittag geschärft, auf der Hobelbank durfte kein Span oder gar Sägemehl liegen geblieben sein, die Schürze nicht hingeschmissen, sondern säuberlich am Haken angehängt. Mein Schreibtisch eine Hobelbank – ein schöner schöpferischer Gedanke. Daher mein anerzogener i8nnerer Drang zum Sortieren der Ergebnisse der letzten Tage, um am Montagmorgen mit Freude und frischer Neugierde die Woche beginnen zu können. Wir nehmen uns die verschiedenen Stapel der Papiere vor und gruppieren nach Fertigem, Halbfertigem und noch nicht Angesehenem.

Das letzte Häuflein nehme ich mir vor – es war auf ein Drittel seiner ursprünglichen Höhe abgeschmolzen, ich rücke es gerade, sauber die Blätter an der unteren und linken Kante ausgerichtet. Ein Blatt etwa in der Mitte sperrte sich meinen Bemühungen, kein rechter Winkel! Instinktiv sehe ich nach, denn so mit der chaotischen Montagmorgen-Perspektive konnte ich nicht aus dem Büro gehen. Der Störfaktor erweist sich als ein einzelnes Kunstblatt, es war mir bisher noch nicht aufgefallen.


Ein colorierter Steindruck, die Farben hell und teilweise leuchtend, der Titel unter dem Bild zweisprachig, links Französisch, rechts Deutsch; Künstler- und Druckerhinweise winzig klein, aber mit der Lupe lesbar: A. Adam, Augsburg und v. Schlotheim, Gotha! Ich zucke zusammen – ein jedem Thüringer wohlbekannter Name: SCHLOTHEIM! Nach ihm war das monumentale Museum in Gotha unterhalb des Schlossparks benannt.   Vermutlich war das Blatt in der Museumsdruckerei entstanden – oder auch nicht. Denn in Fachkreisen munkelt man schon eine Ewigkeit, dass es innerhalb der weitverzweigten Schlotheim-Familie noch andere gebildete Männer gegeben haben soll, denen man durchaus derartige Fabrikate zutrauen durfte.

Ich suche nach einem verwertbaren Datum – da springt es schon ins Auge – 1809! Mit dem Text des Titels kann ich nicht viel anfangen, ich lasse die Worte einzeln auf der Zunge zergehen: „Treffen bei Ebersberg d. 3. May 1809. Nachdem die K. K.  französische Armee bis an die Traun vorgedrungen war, setzte sich derselben bei Ebersberg das Corps des Kayserlich Oesterreichischen Generals von Hiller entgegen und vertheidigte diesen wichtigen Posten auf das Tapferste, so dass es dem Kayserlich Königlich französischen General Claparede nur mit der größten Anstrengung gelang sich der Brücke zu bemächtigen. Drey muthvolle Angriffe wurden zurück gewiesen und nur durch die angestrengteste Tapferkeit der Schützen vom Po konnte endlich diese Position von der französischen Armee genommen werden.“

Nun hatte es mich auf dem falschen Fuße erwischt – da war ich nicht zu Hause: Napoleonische Kriege zwischen 1806 und 1813, also zwischen dem unrühmlichen Tod des Prinzen Louis Ferdinand bei Saalfeld und der Völkerschlacht von Leipzig! Dunkel beginnen sich Fetzen des historischen Erinnerns unter der Schädeldecke aneinander zu fügen – im Jahre 1809 gab es da nicht Aspern und Wagram? – jedem Franzosen ein Begriff. Was tun? Anstelle eines ruhigen gemächlichen Wochenendes mit Hund, Kindern und Frau heißt es nun den bis oben hin zu packenden Rucksack mit militärgeschichtlicher Literatur durchzuarbeiten – Orte, Offiziere, Künstler – ich kenne meine spontane Natur: die Neugierde hat mich voll an der Leine.

Zu Hause schlage ich zuerst im Band 1 meines geliebten Konversationslexikon von Meyer aus dem Jahre 1904 unter „Aspern“ nach und werde fündig: eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse vom Sommer 1809 samt „Textkärtchen“, also eine vereinfachte kleine Karte in den Text gesetzt! Tausendfach lebendiger beschrieben als die übliche leidenschaftslose, langweilige Texterei bei WIKIPEDIA. Der Hinweis auf das Dorf Wagram lässt mich im Band 20 unter „Wagram“ suchen – auch hier voller Erfolg, ebenfalls mit „Kärtchen“. Aber die Daten verwirren mich: der Schlacht beim Dorf Aspern wird der 21. Mai 1809, der bei Wagram das Datum 5./6. Juli zugeordnet. Was sagt mein ebenfalls geliebter „Petit Larousse“? Schließlich waren es für den Franzosen Napoleon bedeutende „batailles“! Fehlmeldung unter Aspern, aber Erfolg bei Wagram: „Wagram, bataille de, (6 juillet 1809), victoire de Napoléon sur l’archiduc Charles, en Autriche, au N.E. de Vienne.“ Die Fehlmeldung erklärt sich: Aspern war kein victoire der Franzosen, sondern ein taktischer Sieg der Österreicher. Strategisch war Aspern ein Remis, das Erzherzog Karl aber nicht zu nutzen verstand und deshalb 6 Wochen später mit dem Debakel von Wagram bezahlen musste – und mit 24 000 Toten und Verwundeten. Soweit so klar – aber was hat das mit Ebersberg und dem „Treffen“ vom 3. Mai zu tun? Der Ort ist so winzig, dass er weder bei Meyer noch im Petit Larousse einer Erwähnung wert ist. Aber vielleicht sollte ich unter dem Namen des französischen Generals CLAPAREDE nachsehen, der im Titel des Druckes genannt wird? Weder im Larousse nach bei Meyer die kleinste Notiz. Hatte der Maler oder Drucker sich wichtig machen wollen?

Nach einer sehr unruhigen Nacht kam die Erleuchtung beim Frühstück mit Hund und Familie im Garten – da hatte doch vor Jahren ein Kollege aus Chalons-sur-Marne nach einer wissenschaftlichen Konferenz mir eine Publikation geschickt, die noch ungeöffnet im privaten Bücherschrank im Wohnzimmer stehen musste. Da ist sie schon, leicht angestaubt, aber die Seiten noch bogenweise verklebt, wie es die Franzosen heute noch gern tun: „Les Amis du Patrimoine Napoléonien – Premier & Second Empire – Association culturelle, historique et apolitique, créée en 1993“! Der Divisonsgeneral Michel-Marie Claparede, 1772 – 1842, mit Porträt und Wappen und ausführlichem Lebenslauf, darin detailliert die Darstellung der Ereignisse vom Mai 1809: 

„Dans la matinée du 3 mai 1809, marchant à la tête du corps d’armée du maréchal Oudinot, le général Claparède rencontra l’arrière-garde autrichienne en avant d’Ebersberg, et la fit attaquer par la brigade du général Coehorn, qui aborda hardiment l’ennemi, au moment où celui-ci s’avançait sur le pont qui traverse la Traun pour gagner la rive droite de cette rivière. Le mouvement des Autrichiens étant protégé par une nombreuse artillerie, la brigade Coehorn, qui s’était élancée plusieurs fois avec impétuosité, avait été arrêtée par la violence du feu des batteries ennemies. Le général Claparède s’avança alors avec le reste de sa division, et appuya les bataillons des tirailleurs du Pô et des voltigeurs Corses de la brigade Coehorn, qui continuaient à faire des prodiges de valeur. Bientôt cette masse serrée, s’avançant sur le pont qui était d’une largeur considérable, parvint à culbuter dans la Traun, canons, caissons, chariots et soldats autrichiens. Déjà une partie de la division Claparède était arrivée aux portes d’Ebersberg, lorsque les premières arches du pont, du côté de cette ville, furent coupées par le feu qui s’y était communiqué de quelques maisons incendiées. Par cet événement les troupes de la division se trouvèrent séparées au moment où elles avaient à lutter contre 30000 Autrichiens, que le général Hiller avait formés en bataille sur les hauteurs en arrière de la ville. Cependant la division Claparède, forte seulement d’environ 7000 combattants, soutint un engagement, aussi inégal qu’il fut long, avec une résolution et une intrépidité au-dessus de toute éloge. Une poignée de braves, qui était au-delà du pont, aurait infailliblement succombé, si les communications n’avaient été rétablies par les autres divisions de la Grande Armée, qui accourut au secours de celle du général Claparède. La division Claparède perdit dans cette occasion plus de 300 hommes tués et près de 700 grièvement blessés. La perte des Autrichiens s’éleva à 4500 hommes tués, 6 à 7000 prisonniers, la prise de 4 canons et de 2 drapeaux.


Le 5e bulletin de la Grande Armée, inséré dans le Moniteur du 13 mai 1809, s’exprime en ces termes : « La division Claparède, seule, et n’ayant que 4 pièces de canon, lutta pendant 3 heures contre 30.000 ennemis, et se couvrit de gloire. Cette action d’Ebersberg est un des plus beaux faits d’armes que l’histoire puisse conserver le souvenir. »

Le général Claparède se trouva ensuite aux batailles d’Essling (21 et 22 mai 1809), et de Wagram (6 juillet 1809)

Als Zivilist verstehe ich nun diesen Text in seiner politischen Bedeutung insoweit, dass General Claparedes Männer an der Spitze des Armeekorps Oudinot mit nur 3 Geschützen ihrem Kaiser durch das dreistündige erfolgreiche Gefecht an der Brücke von Ebersberg bei Linz den Weg nach Wien freigekämpft hatte – acht Wochen vor Aspern!

Erleichtert nehme ich unseren Hund an die Leine, wandere mit ihm durch die Gärten und versuche mich in jene Zeit zu versetzen, in der nicht nur die Zahlen der Toten und Verwundeten im Heeresbericht dem Publikum kund getan werden, sondern auch die Zahl der erbeuteten Fahnen!

Der Hund erschrickt über den plötzlichen Tempowechsel meiner Schritte – ich erkenne, dass ich zwei wichtigere Fragen noch beantworten muss: welcher der Herren von Schlotheim hat dieses Bild des Zeichners A. Adam gedruckt und wie kommt dieses Blatt in den Nachlass des Gothaischen Generalsuperintendenten Josias Löffler?

Der Montagmorgen sieht mich beschwingt die steilen Treppen zu meinem Arbeitszimmer unterm Dach hetzen.  Frau Oberthür von der Poststelle am Fuße der großen Freitreppe drückt mir noch einige kleine Pakete in die Hand, vermutlich frisch eingegangene Bücher, dann bin ich oben in meinem Refugium angelangt.

Edda erkennt an meinem Blick und den unwirschen Gesten, daß ich nicht gestört werden möchte.

Ich schiebe die drei vorbereiteten Häuflein Papiere beiseite, nutze nun die gesamte Fläche des Tisches für die Ausbreitung des Materials, das ich mir im Kopf schon zurechtgelegt habe: die Künstlerlexika, die Personalverzeichnisse des Herzogtums Gotha, die veröffentlichten Familiengeschichten der verzweigten Familie von Schlotheim.

Die Logik verlangt, mit den Schlotheims zu beginnen. 

Archivare sind für ihre Macken bekannt – die jahrzehntelange Beschäftigung mit wunderlichen historischen Papieren, mit den verrücktesten Titeln, mit den ausgefallensten Charakteren, kaum lesbaren Schriften und seltsamen Namen müssen selbstverständlich Spuren hinterlassen – daher übernahm zum Beispiel ich die alt-preußische Sitte, also vor 1806, Armee-Regimentern bei Namensgleichheit, entstanden durch brüderliche oder Vater-Sohn-Beziehung des Chefs, das Attribut „Alt“ oder „Jung“ anzukleben und ich verwendete diese Methode  zur privaten Unterscheidung namensgleicher Aktenstücke.

Verständlich also, dass der ältere der Brüder Schlotheim, um die es jetzt geht, zum „Alt-Schlotheim“ avanciert, zum „großen Schlotheim“, der Perle der Geschichte der Wissenschaften im Herzogtum Gotha, deshalb existiert auch ein Porträt von ihm, in den guten Katalogen abgedruckt:

Ich fasse die Ergebnisse des dreitägigen Recherchierens zusammen:  Die Herren von Schlotheim sind urkundlich bis in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts nachweisbar. Ihren Stammsitz hatte die Familie über mehrere Jahrhunderte in Allmenhausen im nordthüringischen Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen.  Dort wurde am 2. April 1764 Ernst Friedrich von Schlotheim, also unser Alt-Schlotheim, geboren. Sein Vater Ernst Ludwig (1736-1797) hatte in Jena Jura studiert und stand seit 1757 als Assessor und seit 1759 als Regierungsrat in den Diensten der Herzoglichen Landesregierung. Vielleicht sollte ich ihn für den Privatgebrauch „Ur-Alt-Schlotheim“ nennen.

Der Jurist und Historiker Johann Georg August Galetti, Absolvent der berühmten Göttinger Universität, auch dieser Name in Gotha nicht unbekannt,  wurde 1772 von der Familie von Schlotheim als Hauslehrer angestellt. Der Vater, Ur-Alt-Schlotheim, legte besonderen Wert auf die Vermittlung von Geschichtskenntnissen, später wurde Galetti Lehrer am Gymnasium Ernestinum in Gotha.

(- Ein sauberer Kupferstich, meint Edda, mir doch neugierig über die Schultern blickend!)
Neben Galettis Bemühungen stand den Kindern auch eine umfangreiche geschichtliche Bibliothek im Hause zur Verfügung. 1776 ernannte der Herzog den Vater zum Amtshauptmann der Herrschaft Tonna (heute  Gräfentonna), wohin die Familie übersiedelte. Die Umgebung des Dorfes bot ein reiches  Betätigungsfeld für naturwissenschaftliche Studien.  Die Travertingruben in der Umgebung von Burgtonna, in denen bereits 1695 die Skelettreste eines pleistozänen Waldelefanten geborgen wurden, dienten dem Schüler als Anregung zur Anlage einer eigenen Fossil- und Mineraliensammlung.

Von 1778 bis 1779 lag die Erziehung des Jungen in den Händen des Geologen und Mineralogen Johann Christian Credner. Ab 1779 begann seine weitere Ausbildung  am Gymnasium Ernestinum. Während seines Gothaer Aufenthaltes vermehrte er eifrig seine Sammlung von Versteinerungen und Mineralen. Nach dem Gymnasialabschluss nahm er 1782 das Jurastudium an der Universität Göttingen auf. Seine Lehrer waren u.a. Professor Meister, Professor Feder, Professor Beckmann und der in Gotha geborene Naturwissenschaftler Professor Johann Friedrich Blumenbach. So entsprach der Student einerseits dem Wunsche des Vaters nach einer juristischen Laufbahn des Sohnes, andererseits nutzte er den Göttinger Aufenthalt zur Vervollständigung seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse. 

Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums kehrte Schlotheim zurück nach Gräfentonna. Hier beschäftigte er sich mit geologischen, paläontologischen und mineralogischen Studien, unternahm zahlreiche Wanderungen in die Umgebung. Bereits mit 23 Jahren verfasste er seinen ersten wissenschaftlichen Beitrag: Er beschreibt darin einen Fund aus dem Gips-Keuper des thüringischen Ortes Niedertopfstädt, den er als organischen Rest deutet. Die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Wanderungen in der Umgebung fasste er in der regional-geologischen Arbeit: „Mineralogische Beschreibung der unteren Herrschaft Tonna“. zusammen, die in Voigts Mineralogischer und Bergmännischer Abhandlung im Jahre 1791 erschien. Zur Vorbereitung seiner Tätigkeit als Bergbeamter am Herzoglichen Hause studierte „Alt-Schlotheim“ 1791/92 an der Bergakademie zu Freiberg, dessen Gebühren der Herzog von Sachsen-Gotha aufbrachte.

Der bedeutendste Professor der Bergakademie Freiberg war seit 1775 der schlesische Bergrat Abraham Gottlob Werner (1749 – 1817), dessen Ruhm zahlreiche Interessenten der  Geologie und des Bergbaus nach Freiberg zog. Zur gleichen Zeit wie Schlotheim studierten in Freiberg auch Alexander von Humboldt, Johann  Carl Freiesleben und Leopold von Buch. Bald entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Werner, Schlotheim, Humboldt, Freiesleben und Buch.  Während des Aufenthaltes in Freiberg wird Schlotheim 1791 zum Assessor, 1792 zum Hofjunker, 1794 zum Kammerrat ernannt und stand seitdem im Dienste des Gothaer Herzogs.
1792 unternahm Schlotheim eine Fußreise in den Harz und besuchte die bedeutenden Bergbau- und Hüttenorte Clausthal und Andreasberg. Auf einer Reise nach München unterrichtete er sich über neue Methoden der Drucktechnik, die er bei der Vervielfältigung der zahlreichen Zeichnungen für seine paläontologischen Werke nutzte.
Den  endgültigen wissenschaftlichen Höhepunkt erreichte er im Jahre 1820 mit  der Herausgabe seiner umfangreichen Monographie: „Die Petrefaktenkunde auf ihrem jetzigen  Standpunkt durch die Beschreibung seiner Sammlung versteinerter und fossiler Überreste des  Thier- und Pflanzenreichs der Vorwelt erläutert“
Durch die erstmalige grundlegende Anwendung der binären  Nomenklatur auf fossile Pflanzenreste erhielt die  Paläobotanik schließlich den Charakter einer Wissenschaft. Zahlreiche pflanzliche und tierische Fossilien wurden erstmals beschrieben. Noch heute führen ihre lateinischen  Namen den Autor Schlotheim als Beweis für  die Gründlichkeit seiner Artbeschreibungen von 1820 bis 1823.

lm Staatsdienst wurde Schlotheim 1817 Kammerpräsident und 1818 Geheimer Rat am Herzoglichen Hause zu Gotha. Am 15. Juli 1822 übertrug  man ihm die Oberaufsicht über die Herzogliche  Kunst- und Naturalienkammer, die Bibliotheken  und das Münzkabinett. Zur gleichen Zeit ist er Direktor der Herzoglichen Bau- und Gartenkunst, Chef der Herzoglichen Oberpostinspektion, des hiesigen Bergwesens und des  Schmelz-und Hüttenwesens von Luisenthal. Den Höhepunkt seiner Laufbahn im Staatsdienst erreicht er Anfang 1828 als Mitglied des  Ministeriums und Oberhofmarschall. Seine letzte wissenschaftliche Publikation erschien 1826. Die wissenschaftlich wertvolle Sammlung wurde auf Anraten Alexander von Humboldts vom Preußischen Staat gekauft und befindet sich noch heute im Museum für Naturkunde Berlin.  

Enttäuscht lehne ich mich am Abend der dreitägigen Recherchen zur Person von Alt-Schlotheim in meinem antiken Schreibtischstuhl zurück: trotz allen Fleißes und allen Schnüffelns – mit kräftiger Unterstützung Eddas – in den entferntesten Winkeln unseres Archivs belegen die Resultate keinen Bezug zu einer Gothaer Steindruck-Anstalt in Verbindung mit Schlotheims Namen.

Um mich abzulenken, öffne ich die Pakete mit den Neuerwerbungen, nichts Aufregendes – aber das letzte Buch, einen Nachdruck der Autobiographie des bekannten Gothaer hohen Beamten und Geologen von Hoff, blättere ich spontan durch, lasse die Blätter mit den Abbildungen vorbeiziehen, da bleiben meine Finger wie magnetisiert am Namen Schlotheim auf Seite 174 hängen: unter dem Datum des 26. Dezember 1806 berichtet von Hoff über einen Besuch in Berlin bei – Schlotheim ! Also gab es doch einen anderen, einen „Jung-Schlotheim“! 

Wörtlich heißt es, nachdem von Hoff in der Gruft der Domkirche die Prunksärge der Hohenzollern bewundert hatte: „Von da ging ich zu Schlotheim, mit dem ich mich viel über seine Beschäftigung mit den polyautographischen Zeichnungen unterhielt …“ Schenkt man von Hoff Glauben, hatte sich „Jung-Schlotheim“ im Herbst und Winter 1806 bei dem bekannten Lithographen Wilhelm Reuter in Berlin aufgehalten und vermutlich in dessen Werkstatt experimentiert. Mehr gibt das Buch nicht her, auch keine Abbildungen, kein Porträt des jungen Schlotheim, also kann ich mich nur dem Stapel der nur noch technisch zu bearbeitenden Publikationen zuwenden.

Am nächsten Morgen gehe ich nochmals die gestrigen Ergebnisse durch, besser gesagt, ich versuche mich dem fehlenden Mosaikstein zu nähern. –  Ich tröste mich: auch Rückschläge muss man verkraften können. Resigniert räumte ich die Familienpapiere der Schlotheims zusammen, da rutschte aus einem der Folianten ein Papier, das mir bisher entgangen war, da es zwischen Bucheinband und Schutzdeckel gelegen hatte.

Es ist der mehrseitige Brief eines gewissen Wilhelm Reuter aus Berlin – „an H. v. S., abzugeben im Büro des Vizepräsidenten v. Schlotheim“. Weshalb diese umständlichen Zeilen, wenn es doch ein Schreiben an den Vizepräsidenten ist? Jetzt plötzlich erkenne ich, dass es sich vermutlich um einen Schlotheim mit Vornamen H. als Adressaten handelt. Also alles zurück – gab es einen H. von S.? Der Briefinhalt gibt für mich auf den ersten Blick keinen Anhaltspunkt – finanzielle Fragen, offene Rechnungen für gelieferte und nichtgelieferte Bücher und andere Druckerzeugnisse. Ich zwinge mich zum gründlichen Durchgehen des vierseitigen Papiers – da ist es, das gesuchte Indiz: H. v. S. wird ein Honorar von einigen Reichstalern angekündigt für das Anfertigen eines Berichts mit gezeichnetem „Plan der Schlacht auf dem Marchfeld“ im Jahre 1809, angefertigt im Februar 1810 ! Reuter bittet um Verständnis, dass er erst im nächsten Jahr die Schuld begleichen kann und führt einige Gründe an. Ein Blick auf die Landkarte verrät – Aspern und Wagram liegen auf dem Marchfeld östlich von Wien !!! Hurra ! Was sagen die Künstlerlexika über Reuter ?

In Berlin lebte und arbeitete ein gewisser Wilhelm Reuter, Kammerherr der Königin Luise, Druckereibesitzer, einer der Erfinder des Steindrucks, der Lithographie. Die wichtigste Meldung der Kunsthistoriker: Die Wiener Albertina besitzt eine Lithographie von ihm mit der Jahreszahl 1794 – also vier Jahre, bevor der bekannte Senefelder die lithographische Technik in München im Jahre 1798 erfunden haben soll. 

Mehrere Berliner Experten des Kupferstichkabinetts, die ich per e-mail befragte, bestätigten meine These, dass Wilhelm Reuter in Berlin wie Senefelder in Süddeutschland den entscheidenden Schritt vom Hochdruck  zum Flachdruck vollzog, wobei es ihm vor allem darauf ankam,  die Technik, deren reiche Möglichkeiten für  die Kunst er als erster erkannt hatte, zu verbessern und allen Künstlern bekanntzumachen. Die Berliner Kollegen machten mir eine Freunde – sie legten einige Kopien von Arbeiten Reuters bei –

Seine Bemühungen waren mit derartig hohen Kosten verbunden, dass er sein  Vermögen aufbrauchte und einen  Kampf um die Existenz seiner Familie, um  das Fortbestehen seiner Druckerei und schließlich um seine Gesundheit führen musste. Er erblindete zeitweilig fast völlig, was nicht zuletzt auf die etwa 60.000 chemischen Versuche zurückgehen mochte, die er angestellt hatte.  Dass sich die Lithographie in Berlin durchsetzte, ist ausschließlich sein Verdienst und dass sie nicht in erster Linie zu industriellen Zwecken verwendet wurde, ist ebenfalls nur seiner aufklärenden Tätigkeit bei Hofe und der Akademie, deren Widerstand zu brechen nicht leicht war, zu  danken.

Nachzureichen sind einige Details seiner künstlerischen und geschäftlichen Laufbahn, um das Verhältnis zum Gothaer H. v. Schlotheim zu verstehen.

Wilhelm Reuter, 1768 geboren, entstammte einer alten angesehenen Hildesheimer Familie, die für seine Bildung sorgte und ihm auch in seiner Heimatstadt Kunstunterricht zukommen ließ. 1790 verließ er seine Vaterstadt in Richtung Berlin, besuchte die Kunstakademie und wurde schon 1796 als Hofmaler der Königin Luise mit einem festen Gehalt angestellt.

1799 vermählte er sich mit einer ihrer Kammerfrauen und reiste im Auftrag der Königin im Jahre 1803 nach Paris, um dort Bilder zu kopieren.

Sie beklagte sich später, dass er diesen Auftrag mangelhaft durchgeführt hätte, weil er sich mehr für die Polyautographie (d. i. Lithographie) und deren Förderung interessierte. Nach Berlin zurückgekehrt, widmete er sich in der Folge mit ganzer Kraft der Verbreitung und Verbesserung der Polyautographie, wie Reuter das Verfahren beharrlich weiter bezeichnete, trotz des sich immer mehr einbürgernden Namens Lithographie, der in München schon seit 1805 festgelegt worden war. Reuter wollte mit der Bezeichnung Polyautographie, die auch in England geläufig war, ausdrücken, dass diese Technik für ihn einzig das wertvolle Mittel war, eigene Zeichnungen unter Beibehaltung ihres Originalcharakters zu vervielfältigen.

Wilhelm Reuter wollte die Lithographie als künstlerische Originaltechnik einführen und warb in diesem Sinne auch unter den zeitgenössischen Berliner Künstlern, denen er das Material übersandte und den Druck für sie übernahm. Er inserierte auch seine inzwischen eingerichtete Druckerei in den Zeitungen und der Widerhall war sehr bald da. Zu den Künstlerpersönlichkeiten, die ihr Interesse bekundeten, zählte auch Johann Gottfried Schadow, der wohl das beste Blatt in der ersten Mappe von Lithographien, die Reuter herausgab, zeichnete. Reuter hatte nämlich, da seine verschiedenen Werbegesuche bei Hofe und der Akademie nicht den von ihm gewünschten Erfolg zeitigten, schon 1804 zum Beweis für die künstlerische Eignung der Lithographie einen Konvolut Künstlerlithographien editiert, den er „Poylautographische Zeichnungen vorzüglicher Berliner Künstler“ nannte und mit einem entsprechenden Begleitschreiben dem König widmete.

Reuters Kreidezeichnungen auf Stein erzielten bisher ungekannte schöne Schwärzen, die den Münchner Blättern noch lange fehlten.  Er erhielt auch endlich vom König als Anerkennung die erbetenen Räumlichkeiten in dem Anspachschen Palais, wo er seine Druckerei unterbringen und eine verlegerische und Drucktätigkeit neben seinem Beruf als Hofmaler und Lehrer ausüben konnte. In diese Periode fällt vermutlich die Kontaktaufnahme zum Gothaer Schlotheim und seinen Experimenten mit den Steinen aus dessen Mineraliensammlung.

Die ungünstigen Zeitverhältnisse, Krieg und Besetzung Berlins wirkten sich sehr hinderlich auf Reuters lithographische Tätigkeit aus. Besonders die Jahre 1808 – 1817 waren arm an datierten Werken.  Hernach setzte wieder ein reiches Oeuvre ein, das teilweise erhebliche Fortschritte und vor allem eine größere Reife zeigt, bis die letzten Jahre abermals Dunkelheit über das weitere Schicksal der Reuterschen Lithographierkunst breiteten. Inzwischen waren aber in Berlin neue lithographische Anstalten entstanden, die mehr Erfolg hatten, weil sie nicht nur künstlerischen  Interessen dienten, sondern auch wirtschaftliche  Aufgaben übernahmen. So 1809 die des Georg Decker, eine Weitere 1816 des Majors L. v.  Reiche, eines Schülers Senefelders, die 1820 in das Königlich lithographische Institut am Kriegsministerium überging.

Im zweiten Weltkrieg sind größere Bestände von deutschen Lithographie-Inkunabeln in den Kunsthandel gekommen und auf diesem Wege ist auch jenes Blatt von 1794 für die Wiener Albertina erworben worden – Reuters ältestes datiertes Steindruckblatt, eine Kopfstudie, im Profil dargestellt, ein erster Versuch eines geschickten Zeichners auf einem ungewohnten Material, dem Künstler jedoch wertvoll genug, das Datum der Entstehung darauf zu vermerken. Reuter pflegte die meisten seiner Drucke zu bezeichnen. Entweder setzte er den vollen Namen hin oder nur ein Monogramm, manchmal schrieb er Ort und Datum, meistens aber die bloße Jahreszahl.

 Ich spüre, ich bin vom Thema abgewichen, ich werde also zu Jung-Schlotheim zurückkehren.

Es steht für mich fest – nach dem detaillierten Studium der Kunsthistoriker Berlins und Wiens des 19. Jahrhunderts – dass die psychologische Quelle des Weges von „Jung-Schlotheim“ zur Kunst und letztlich zur Lithographie in seiner Laufbahn als preußischer Elite-Offizier liegt. Ich bin vor allem dem Zufall dankbar, der mir sozusagen als Zweitlektüre zur Vorbereitung auf die Aufführung von Kleists Käthchen von Heilbronn im Weimarer Nationaltheater Sigismund Rahmers „Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter“ aus dem Jahre 1909 in die Manteltasche gesteckt hatte. Der Kulturhistoriker, Arzt und Kleistforscher Rahmer hatte das Glück, im den preußischen Militärarchiven biographische Unterlagen zu „Jung-Schlotheim“  einsehen zu können, die als Folge der Kriegswirren heute nicht mehr existieren.

Jener Schlotheim ist Jahrgang 1772, heißt Hartmann mit Vornamen und ist der jüngere Bruder des berühmteren  Ernst Friedrich.  S. Rahmer entwickelt die Laufbahn des Offiziers von Schlotheim im engen Zusammenhang mit der des Dichters und Offiziers Heinrich von Kleist – ich werde dieser Idee folgen.

Rahmer bezeichnet Schwarzburg als Stammsitz der Familie, während der Kulturhistoriker Paul Hoffmann (1927/S. 74) als Geburtsort Allmenhausen im Fürstentum Schwarzburg nennt, nur einen einstündigen Fußmarsch entfernt vom Gutsdorf Schlotheim entfernt, das der Familie ihren Namen gab und etwas über 30 km nördlich von Gotha liegt.

Als Kleist 1793 als Fähnrich ins Potsdamer Regiment eintritt, ist Hartmann von Schlotheim schon ein 21jähriger erfahrener Seconde-Leutnant. Sie finden sich sofort sympathisch, haben auch gemeinsame Interessen, zum Beispiel die Musik. Der Biograph des späteren Generals Rühle von Lilienstern schreibt im „Militair-Wochenblatt“ (Beiheft zur Ausgabe Oktober-Dezember 1847) zur musischen Stimmung der freundschaftlich verbundenen jungen Potsdamer Garde-Offiziere : „Über das musikalische Treiben aber hören wir endlich, daß es derselbe (Rühle von Lilienstern – D. W.) mit geringen Naturanlagen durch unermüdlichen Fleiß auf seinem Instrument, dem Fagott, dennoch erreicht, in öffentlichen Konzerten die schwierigsten Solopartien übernehmen zu können und sogar eine Zeitlang dem Gedanken Raum gab, sich ausschließlich der Musik zu widmen. Hierbei ist noch des wichtigen Einflusses zu gedenken, der auf die Geistes- und Charakterentwicklung desselben von bestimmten Persönlichkeiten ausging. In dieser Hinsicht ist von den jüngeren Kameraden, welche ähnliche Bestrebungen und Geistesrichtungen wie Rühle verfolgten und mit demselben durch enge Freundschaftsbande verknüpft waren, besonders Heinrich von Kleist, der dramatische Dichter, früher Leutnant im Garderegiment, und Ernst von Pfuhl, Leutnant im Königsregiment, … zu nennen. Es lässt sich von selbst erwarten, das höhere geistige Bestrebungen diese Vereinigung der Freunde befestigten und veredelten. Wissenschaften, Dichtkunst und Musik waren der Stoff, welcher die Zusammenkünfte dieser jungen Offiziere belebte. Die von allen Mitgliedern periodisch eingereichten Arbeiten und Produktionen wurden hier gehört und verhandelt. Das ausgezeichnete Quartett, welches von Kleist (der Dichter), von Schlotheim (Generalstabsoffizier und nachheriger Gouverneur des Herzogs Carl von Mecklenburg), von Gleisenberg (Leutnant im Regiment Garde , später Gouverneur in der Militärakademie) und Rühle bildeten, ist den Zuhörern noch heute lebendig im Gedächtnis. (S. 159f)

Noch konnte der Seconde-Leutnant von Schlotheim jedoch nicht mit eigenen Kriegserlebnissen aufwarten, denn am Feldzug von 1792 gegen das revolutionäre Frankeich hatte sein Regiment nicht teilgenommen, auch die epochemachende Kanonade von Valmy vom September 1792 und der chaotische Rückzug zum Rhein blieben ihm erspart.

Nach S. Rahmer (S. 21), der noch das Glück hatte, in den Akten der später zerstörten Geheimen Kriegskanzlei des königlich-preußischen Kriegsministeriums zu forschen, vollzog sich die militärische Laufbahn Hartmanns von Schlotheim in folgenden Etappen: Juli 1788 Eintritt in das Infanterie-Regiment No. 18 (Regiment Kronprinz, später Regiment König), das ebenfalls in Potsdam in Garnison lag.  Obwohl Kleist und Schlotheim nicht im gleichen Regiment dienten, hatten sie aber vermutlich als Offiziere in der Stadt Potsdam regelmäßigen engen Kontakt. Schlotheim wurde am 4. Juni 1790 zum Fähnrich und am 9. August 1793, dem Jahr in dem Kleist als Fähnrich in Frankfurt am Main zum Garderegiment stößt, zum Sekondeleutnant befördert. 1801 ist er Gouverneur des Prinzen Carl von Mecklenburg-Strelitz (1785 – 1837, Stiefbruder von Königin Luise, ebenfalls als Garde-Offizier in preußischen Diensten in Potsdam stationiert), 1803 Stabskapitän und 1804 „Wirklicher Kapitän“ und Quartiermeister-Leutnant, also Generalstabsoffizier.

Interpretiert man Sigismund Rahmers knappe Beschreibung, ergibt sich ein farbiges Bild jener Potsdamer Jahre: der aus niedrigen, aber alten thüringischen Adelskreisen stammende Hartmann von Schlotheim gelangt durch einen der beim Militär nicht unüblichen Beförderungs- oder Berufungszufälle in die höchsten Kreise des preußischen Adels. Was Heinrich von Kleist in die Wiege gelegt wurde, die Nähe zum Königshaus der Hohenzollern, wird ihm, dem Nicht-Märker, vermutlich ohne sein aktives Betreiben, 1799 von ganz oben befohlen:  das 16jährige Stief-Brüderchen der Königin zu beschützen, zu lenken, abzuschirmen und nebenbei zu erziehen und zu bilden – eben sein Gouverneur zu sein. Ein archivalischer Glücksfall wäre es, wenn ich in Potsdam, Neustrelitz, Berlin-Dahlem oder sonstwo die königlich preußische Instruktion für den Stabskapitän von Schlotheim ausfindig machen könnte, in der minutiös jene Aufgaben aufgelistet sind, die ihm der königliche Hof bezüglich des Prinzen von Mecklenburg-Strelitz aufgetragen hat. Mit der Position des Gouverneurs hängt selbstverständlich auch die Außer-der-Reihe-Beförderung zum Hauptmann -Stabskapitän zusammen, denn in Gegenwart eines Königin-Bruders ist wohl ein einfacher Leutnant undenkbar. Warum dann wohl der Herr Stabskapitän im Frühjahr 1805 einen Selbstmord-Versuch unternimmt, ist nirgends aufgeschrieben. Er schießt sich mit der Dienstpistole in den Mund, überlebt aber glücklicherweise. – Die üblichen Erklärungsmuster versagen aus meiner Sicht – Schulden, unglückliche Liebschaften, Minderwertigkeitsgefühle in der Karriere-Warteschleife.

Die Frauen, die ihn am Krankenbett nach dem missglückten Pistolenschuss hingebungsvoll pflegen, u.a. Caroline von Briest, die Ehefrau des romantischen Dichters Friedrich de la Motte Fouqué, lassen in ihren Briefen nichts Derartiges verlauten.

Meine demokratisch-republikanische Weltanschauung aber lässt Raum für die folgende Spekulation – ein nur 11 Jahre älterer Offizier, der selbst mit nur 16 Jahren in eines der vornehmsten preußischen Garderegimenter, das IR „Kronprinz“ mit Standort Potsdam, eingetreten war,  erlebt rund um die Uhr die Torheiten seines halbwüchsigen Schutzbefohlenen, erträgt mit Mühe die Hohlheit, Leere, das Spießertum und die Oberflächlichkeit des Hoflebens, den billigen Populismus rund um die provinzielle junge Königin und ihren Verehrer, den Prinzen Louis Ferdinand, die Sprachlosigkeit des Königs, die offene Korruption.

Nach dem missglückten Selbstmordversuch vom April 1805 scheidet Jung-Schlotheim aus dem preußischen Heer aus, erhält eine Pension von 300 Reichsthalern, und zieht sich nach Gotha zurück. Dieser Pistolenschuss in den Mund führt aber zu einer dauerhaften Missgestaltung des Gesichts des Offiziers Hartmann von Schlotheim, so dass er menschenscheu im Hause seines Bruders zurückgezogen lebt, sich in die Kunstgeschichte vertieft und mit den Steinfunden der Sammlung seines Bruders künstlerisch experimentiert. Der Zufall führt ihn zum Steindruck, damit auch zur Bekanntschaft und dauerhaften Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstler Wilhelm Reuter – die künstlerischen Erfolge helfen ihm schrittweise über seine Resignation hinweg. Von seinen erfolgreichen Bemühungen zeugt auch ein Brief, den mir die Berliner Rxperten nachträglich zu schickten – in Handschrift und Transkription. Vom ehemaligen preußischen Garde-Hauptmann v. Schlotheim an Reuter:

Hier die durch den Kleist-Forscher Paul Hoffmann besorgte und veröffentlichte Transkription:

Ich gehe davon aus, dass der Bericht seines älteren Bruders über dessen Reise nach München zwischen 1792 und 1795 und die Besichtigung der dortigen technischen Neuheiten des Steindrucks unseren „Jung-Schlotheim“ bei seinen Experimenten und den Versuchen ihrer Vermarktung bestärkt haben.

Er unternimmt nun auch kürzere Reisen, Wanderungen in der Natur, in den Bergen, vermeidet aber die Teilnahme am sozialen Leben der Gothaer Gesellschaft. Daher ist sein Name in Gotha in Unterschied zu dem seines älteren Bruders kaum bekannt. 

Vermutlich tritt er über briefliche Angebote zur Zusammenarbeit mit Zeichnern und Malern in Kontakt, nachdem er die ersten praktischen Erfolge im Druck unter Verwendung von geschliffenen Marmorplatten, die ihm aus der brüderlichen Sammlung zur Verfügung stehen, nachweisen kann. Seinen Namen als Lithograph und seine erfolgreichen Experimente kennt man auch inzwischen in Weimar, Minister Goethe schlägt ihn für ein Austauschpraktikum mit dem Münchener Museum vor. Das Projekt scheitert jedoch an der Kostenfrage.

Goethes Begeisterung für die neue Drucktechnik findet sich auch rückblickend in einem Brief an den Münchner  Botaniker und Ethnographen Carl Friedrich Philipp von Martius (1794-1868) von 1826: „Seit zwanzig Jahren sehe ich der neuen deutschen Kunstentwickelung zu, und wage noch  nicht, mich darüber auszusprechen. Lassen Sie mir es an Kenntniß der neusten Thätigkeiten künftig nicht fehlen; die Lithographie erleichtert solche Communicationen. Sollten die  Gemälde der Clyptothek nachgebildet werden, so bitte mich damit zu erfreuen“.

Angesichts dieser weiträumigen Kontakte ist es durchaus denkbar, dass „Jung-Schlotheim“  auch mit dem Augsburger Schlachtenmaler Adam in Beziehung tritt und für ihn eine Platte mit dem Sujet des Gefechts bei Ebersberg herstellt. Leider konnte ich bisher keine schriftlichen Belege, keinen Auftrag oder Rechnung finden.

Ich fasse einen kühnen Plan. Für die nächsten Tage steht keine Beratung in meinem Kalender, meine Anwesenheit in Saalfeld ist nicht erforderlich, also kann ich in Gotha, Erfurt und Arnstadt die mir wohlbekannten Antiquariate abklappern, diesmal aber nicht auf der Suche nach politischen, militärischen, landeskundlichen Publikationen und Karten, sondern nach Kunst, was etwas Verwunderung bei meinen Bekannten und den befreundeten professionellen Sammlern und Verkäufern hervorruft. Steindruck, Lithographie zwischen 1790 und 1820 steht auf der Wunschliste, Namen nenne ich nicht, das könnte die Preise hochtreiben.

Nach drei Tagen bekomme ich Hustenanfälle, so sehr hat mich der Staub der entlegensten Ecken in den alten Stuben auf und neben der Erfurter Krämerbrücke, in den Gassen zu Füßen des Friedensteins und in den Winkeln rund um die Bachkirche im altehrwürdigen Arnstadt angegriffen.

Aber es hat sich gelohnt: nichts ließ ich mir anmerken, als ich mit dem etwas schläfrigen alten Herrn am Erfurter Fischmarkt um den Preis für eine Kunstmappe von 1809 feilschte. Er war vermutlich froh, dass sich jemand für den Ladenhüter interessierte, konnte ganz sicher mit dem Namen Hartmann S. auf dem Titel nichts anfangen. Mir aber schlug das Herz bis hoch in den Hals hinein: „Skizzen zur besseren Ausführung für Künstler und zur Nachahmung für Schüler; als Versuche des chemischen Steindrucks in Gotha herausgegeben von Hartmann S: 1809“ – ein Foliant mit zehn Blättern, Querformat, 50 mal 35 Zentimeter! „Da wird sich meine Frau zum Geburtstag aber freuen“ konnte ich gerade noch stottern, als ich dem netten, bedauernswert unbedarften Herrn die ausgehandelten 25 Euro auf den Tisch legte.

Zur Freude über den Fund gesellte sich die Überraschung zu Hause, als einer der Drucke den älteren Bruder „E.S. del Gotha“, also Ernst von Schlotheim auswiesen!

Offen bleibt der Bezug zu Löffler in Gotha – warum befindet sich jenes Blatt mit dem Gefecht von Ebersberg unter seinen Papieren? Hatte Löffler es gekauft? Warum? War er ein Kunst-Sammler? Gab es eine persönliche Erinnerung an die Napoleonischen Feldzüge oder war es einfach nur an eine seiner Reisen in die Gegend von Wien?  Es kann auch ein Geschenk der Brüder v. Schlotheim an ihn gewesen sein, dagegen spricht aber das Fehlen der üblichen Widmung auf der Rückseite. Oder habe ich etwas übersehen? Im Büro untersuche ich gründlich das Blatt – das ist er doch, der Schlüssel: das Blatt ist auf ein Doppel aufgeklebt, fast unsichtbar, aber doch mit etwas Mühe kann ich die beiden Schichten voneinander lösen. Wie erhofft: auf der Rückseite des Originals die Widmung – aber die Kette der glücklichen Zufälle reißt nicht ab: nicht nur dass beide Brüder die Widmung unterschrieben haben, sondern neben dem Namen Löffler als Empfänger des Geschenks steht ein Name, der so unglaubhaft scheint, dass ich zuerst an eine Fälschung denke – H. v. Kleist! Ich mache mich an die Dechiffrierung der drei Zeilen der Widmung: „Anl. d. Besuches H.v.Kleist beim Kam. H.v.S. in Gotha dem väterl. Freund GS. L. 13. Feb. 1810“ und komme zum Ergebnis: „Anlässlich des Besuches Heinrichs von Kleist beim Kameraden Hartmann von Schlotheim in Gotha dem väterlichen Freund Generalsuperintendent Löffler 13. Februar 1810.“ 

Zu überprüfen wäre das Datum – ist es vereinbar mit den akribischen Angaben, die sich aus dem veröffentlichten Briefwechsel und den Angaben der Freunde und Bekannten des Dichters zu den Aufenthalten Kleists in Berlin und seinen Reisen im ersten Halbjahr 1810 ergeben – nachzulesen in den „Lebensspuren“, herausgegeben von Helmut Sembner. Ich finde keinen Widerspruch – jener Aufenthalt Kleists in Gotha bei Hartmann von Schlotheim ist mehrfach dokumentiert, auch die finanziellen Transaktionen zwischen Kleist, Reuter und Hartmann von Schlotheim.  Aus der Widmung könnte man ein Treffen der Brüder Schlotheim, Löfflers und des Besuchers aus Berlin, Heinrich von Kleist, an jenem 13. Februar 1810 herauslesen, auch wenn es dafür – zum Ärger der „Kleistologen“ – keinen Beleg in den Briefen gibt. 

Es ist etwas mehr geworden als sonst – aber die Schlotheims verdienten eine ausgiebige Darstellung – in ihren mannigfaltigen Beziehungen zu Heinrich von Kleist.

Dr. Dieter Weigert 6. September 2023 Berlin Prenzlauer Berg

Weitere Folgen aus den Erinnerungen des Saalfelder Stadtarchivars finden Sie in unregelmäßigen Abständen an diesem Platze !
Bisher sind erschienen:

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder Leutnant von Kleist und Superintendent Löffler Folge 19 Besuch in Uniform

Immer noch strenger Winter. Den Vorschlag meiner durch den Landrat temporär zugeordneten Mitarbeiterin Edda, sich in Gotha, also „an Ort und Stelle“, einen anschaulichen, sinnlich wahrnehmbaren Eindruck vom Wirken und von den privaten Lebensbedingungen des Theologen und Kirchenpolitikers Josias Löffler zu verschaffen, habe ich akzeptiert – aber das Wetter müßte schon mitspielen, hatte ich hinzugefügt. Frühestens Mitte März käme in Frage, jetzt ist aber erst Ende Februar. Den versprochenen Text eines Briefes des französischen Bildhauers Houdon an Josias Löffler vom Sommer 1789 lassen wir uns auf der Zunge vergehen – unmittelbar vor dem 14. Juli geschrieben, also am Vorabend der offenen Gewaltausbrüche in Paris, die am Ende in die Revolution und den Sturz der Dynaste der Bourbonen führten.: „Mein lieber Freund, Frankreich und die Welt stehen an einem Wendepunkt ! Unserem Herrscher sind die Finanzen für die Weiterführung seiner luxuriösen Hofhaltung und die abscheulichen Kriege ausgegangen, er muß sich an die Stände wenden – die werden ihm aber wahrscheinlich keine Gunst erweisen, da er nicht zu echten Refomen bereit ist. Die allgemeine Verunsicherung ist – wie ich spüren konnte – auch in den deutschen Fürstenthümern vorhanden, nicht aber der Wille zur politischen Auseinandersetzung mit ihren bisherigen regimes. Obwohl das aufgeklärte Gotha eine rühmliche Ausnahme bildet und Ihr Herzog Ernst mit der französischen Opposition in allen drei Ständen liebäugelt, kann man nichts erwarten von diesen isolierten Tendenzen. Preußen wurde durch den gegenwärtigen regierenden Fürsten und seine korrupte clique um Jahrzehnte zurückgeworfen, wie selbst Prinz Heinrich im vertraulichen Gespräch äußerte. Offiziell hält er sich sehr zurück, immerhin war der verstorbene König sein Bruder, der ihn oft wegen seiner homoerotischen Escapaden gescholten hatte. Als königlicher Prinz ohne Verantwortung lebt es sich aber sehr angenehm in den Schlößern mit den geliebten jungen Offizieren! Seine Urtheile über Frankreich und die Welt fand ich amüsant, aber doch etwas oberflächlich. Er hat leider keine Kontakte. Bester Freund, bleiben Sie mir gewogen – ich würde Sie gern portraitieren, wenn Sie mich hier in friedlicheren Zeiten besuchen mögen – Ihr Jean-Antoine H.“

Edda schien begeistert von der Stimmung, die dieser französische Künstler verbreitete – ein Freund der großen Geister wie Voltaire ! Sie legte zur Unterstützung meines Erkenntnisgewinnes die Kopie einer Abbildung aus einem Katalog hinzu, die eine wunderschöne Skulptur aus den Gothaischen Sammlungen zeigte:

Etwas von der französischen aufgeklärten philosophischen Leichtigkeit färbte auch auf ihr Josias-Löffler-Bild ab, schien mir. Und davon wiederum gewann vermutlich auch ihr Bild des Dichters Heinrich von Kleist schärfere Konturen. – Bester Chef, war nicht dieser Kleist während seiner Kindheit und frühen Jugend doch ein Zögling unseres Theologen und Pädagogen? Hoffentlich finden wir dazu Belege!
Eine Art romantische Leidenschaft hatte Edda gepackt – ich glaubte sie bremsen zu müssen , hatte aber wenig Erfolg. Da half nur der schriftliche oder bildnerische Beweis.
Also nochmals seinen vilebesprochenen, vielbeschriebenen Brief aus dem Jahr 1793 heraussuchen.  Die Kleist-Gemeinde kennt seit ewigen Zeiten jenen Satz aus dem Briefe des Fähnrichs Heinrich von Kleist an sein Tantchen Massow vom März 1793: „In Gotha sprach ich abends um 6 Uhr den Generalsuperintendenten Löffler; er trug mich (?!) auf ihm (?!) bei Ihnen zu empfehlen, und erinnerte sich unsers Hauses mit vielem Vergnügen.“

Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine solche Begegnung für den sensiblen Theologen Josias Löffler ohne bleibenden Eindruck geblieben wäre, ohne das Bedürfnis, sie einem Freund oder Verwandten mitzuteilen. Wem aber in Frankfurt oder Berlin schrieb er in diesen Monaten? Wer war mit den Frankfurter privaten Verhältnissen der Familien Löffler oder Kleist so vertraut, dass er die Erwähnung eines Gesprächs Löfflers mit dem jungen Kleist in der Uniform eines Fähnrichs der preußischen Armee verstand? Vielleicht der Garnisonpfarrer, der Feldprediger beim Frankfurter Regiment, der das Kind am 27. Oktober 1777 getauft hatte ? Oder jener Garnisonpfarrer, der ihn am 20. Juni 1792 konfirmierte? Oder die Briefe an Plothe? Das könnte ein erfolgversprechender Pfad sein –

Da kommt eine andere Erinnerung aus uralten Zeiten, aus den Studienjahren in mir hoch, der Besuch im Antiquariat Peludrigkeit in der Leipziger Münzgasse, einem Geheimtipp unter den Liebhabern von Karten, Militaria, Städtebeschreibungen, theologischer Literatur seit der Reformation. Der Chef selbst, ein Mann von etwa 45 Jahren, wie mein Vater in so jungen Jahren schon glatzköpfig, nahm mich vertraulich am Arm und führte mich ins Heiligtum hinter dem Vorhang, dessen Fenster zum Garten mit starken Eisengittern gesichert war. Verblüffend stellte ich fest, dass der kleine Raum zwar mit Büchern, Karten, Erd- und Himmelsgloben bis unter die Decke vollgestopft war, aber keinen Stuhl oder Sessel aufwies, die zum geruhsamen Studium einluden. Nur ein Stehpult mit verstellbaren Ablageflächen unterhalb der Schreibebene stand vor den Fenstern, auf ihm lag aufgeschlagen ein Schatz, schon vom weiten erkennbar am Ledereinband und der goldbelegten Schrift. Der Chef führte mich zu diesem Kleinod seiner Sammlung, bot es mir an mit den Worten; „Ich kenne keinen würdigeren Menschen in dieser Stadt, der diese Schrift zu schätzen und zu verstehen weiß.“ Wir wurden uns über eine monatliche Ratenzahlung von zwei Jahren einig, selten in jenen Zeiten.

Das Buch war der Traum aller Historiker, Philosophen, Theologen und Kunstgeschichtler meiner Universitätsstadt, jener berühmte Spieker, seine „Beschreibung und Geschichte der Marien oder Oberkirche zu Frankfurt an der Oder“ aus dem Jahre 1835. Der Chef erklärte mir, seinem Vertrauten, dass er sich schweren Herzens dazu entschied, dieses Vermächtnis seines Vaters aus der Hand zu geben. Er hatte sich entschieden, es nun mir anzuvertrauen, da er mich nun „in- und auswendig“ kannte. Sein Vater hatte ihm kurz vor seinem Tode das Buch überreicht – mit der Erklärung. dass ein Offizier einer der Besatzungsmächte im Sommer 1945 unter dem Siegel der Verschwiegenheit jenes Kleinod gegen einige schön gestaltete historische Silbermünzen damals zusammen mit einem Stapel historischer Karten veräußert hatte. Der Offizier habe es wiederum von einem Freund, der wie er meinte, rein zufällig in einem der vielen geplünderten Läden in Deutschland während der letzten Kriegsmonate wie er meinte, „gefunden“. Da mein Vater aus Königsberg kam, wie er dazu setzte, war er hellauf begeistert von diesem Buch, denn wie ich doch schon aus vielen Gesprächen mit ihm wüßte, habe der Vater zuerst versucht in Frankfurt an der Oder nach seiner geglückten Flucht aus Königsberg in den letzten Kriegsmonaten einen Antiquitätenladen aufzumachen, war aber gescheitert. Niemand interessierte sich damals für Antiquitäten oder antiquarische Bücher. Sie lagen zu Hauf in den Straßen. Sie wurden von den Offizieren der Besatzungsarmee, auch unter anderem von polnischen Offizieren – patrouillierend zwischen Spree und Oder – wie Sauerbier angeboten. Direktoren wissenschaftlicher Bibliotheken suchten Leute, um die Raritäten einzusammeln, hatten aber keine Fahrzeuge in den Nachkriegsmonaten.  Daraufhin zog mein Vater mit seinem frommen Wunsche ins Landesinnere und sei nun hier glücklicher Begründer eines Ladens in dieser Universitätsstadt geworden.  Ja, er der Chef sei nun mit Freude Zeuge des Aufschwungs des geistigen Lebens in dieser sächsischen Universitätsstadt und sei auch sehr erfreut, einen Menschen wie mich zum Freund zu haben.

Diese Erinnerung lässt mich zu Hause den Spieker heraussuchen, das Inhaltsverzeichnis nach der Periode zwischen 1780 und 1800 durchkämmen und die Seite 378 aufschlagen, wo Spieker erstmals den Namen Johann Christoph Plothe im Kontext mit der Darstellung der Tätigkeit Löfflers an der Frankfurter Marienkirche nennt. Der bisherige Konrektor der Frankfurter Oberschule Plothe wurde, so schreibt Spieker, im Jahre 1784 zum beigeordneten 2. Diakon an der Marienkirche berufen.  Löffler persönlich hielt schon am 7. Dezember 1783 die Predigt zur Einführung des neuen Pfarrers in der Marienkirche. Sie wurde 1791 in einem Sammelband der Predigten Löfflers veröffentlicht, herausgegeben in seinem „Hausverlag“, Frommann in Züllichau. Der Kern der Predigt: „Ich bin überzeugt, daß Sie die Würde des Geschäfts kennen, das christlichen Predigern obliegt … O! Ich bin überzeugt, daß Sie diese Würde fühlen; und daß Sie nichts anders als Ihre Ehre darein setzen können, einen so hohen Beruf nach Ihren Kräften zu erfüllen … Nehme ich dazu die Einsicht, welche Sie sich sonst, und vorzüglich in Religionskenntnissen erworben haben, die Übung im Unterricht, die Sie bisher gehabt, die eine so gute Vorbereitung für den kirchlichen Unterricht ist; nehme ich dazu Ihren unbescholtenen Wandel, den Sie führen, und das gute Herz, welches Sie zeigen; wie könnte ich anders, als auch aus diesem Grunde der Gemeinde zu einem solchen Lehrer Glück wünschen.“

„Dieser würdige Geistliche von seltener Treue und Rechtschaffenheit, zuverlässig in Wort und That, wohlwollend und hülfreich“ – so bewertet ihn Spieker. Ich entdecke plötzlich bisher für mich unbekannte Seiten an jenem Theologen – nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums an der Viadrina erhielt er schon mit 21 Jahren das Subrektorat an der Oberschule, unterrichtete u.a. privat die Gebrüder Humboldt im mündlichen Beherrschen der lateinischen Sprache und wurde einer der engsten Vertrauten des Generalsuperintendenten Josias Löffler. Er blieb 2. Diakon auch nach Löfflers Weggang, wurde aber erst nach langer Wartezeit 1797 zum 1. Diakon berufen. Spieker würdigt ihn (S. 394) beim Bericht über seinen Tod (1811) nochmals mit rührenden Worten: „Das Leben dieses Redlichen war einfach, aber voll inneren Gehalts und erbaulich für seine Gemeinde. Sein stilles, bescheidenes Wirken, seine geräuschlose Thätigkeit, sein ernster gediegener Charakter und sein redliches Forschen nach Wahrheit hatten ihm die allgemeine Achtung erworben.“

Ich nehme das „goldene Buch“ nochmals in die Hand, betrachte verzückt den kunstvoll gestalteten Rücken, will es in das Regal zurücklegen.  Aus dem ersten Drittel etwa löst sich unverhofft ein Blatt, entfaltet sich – auf der Vorderseite zeigt es eine Landkarte Böhmens von 1778 und auf der bisher verborgenen Rückseite eng geschriebene Notizen – in der Handschrift von Josias Löffler !

Das Glück des tüchtigen Forschers – es ist die Abschrift eines Briefes, den Josias an Plothe geschrieben hatte – sogar das Datum ist vermerkt: Montag, 25. März 1793! Die Handschrift ist unsauber, Josias hat sich keine Mühe gegeben, es war nur für den Hausgebrauch. Ich werde einen scan anfertigen und eine Notiz den Akten beifügen.

Warum und wie diese Karte samt rückseitiger Beschriftung in das Buch geraten ist, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben ebenso die Antwort auf die Frage, wer das Versteck gewählt hat. Die Jahre nach 1793 waren wohl in Deutschland nicht dazu angetan, intime Korrespondenzen mit politischen Freunden offen herumliegen zu lassen. Wie schnell war man der Sympathie zu den Jacobinern oder später den „Demagogen“ verdächtigt! Vermutlich wird einer der Freunde Löfflers nach dessen Tod diese Abschriften in einem „linientreuen“ Buch verborgen haben. Josias Löffler hat die Wende vom freien liberalen geistigen Klima unter Friedrich II. in Preußen zum Dunkelmännertum und zu der Denunziantenatmosphäre unter seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm herannahen sehen – er ist zu ihrem Opfer geworden. Ich kann mich erinnern, wie einer meiner geliebten, sehr belesenen Uni-Professoren gern das Wort von Arnold Zweig über jenen unwürdigen Erben des großen Friedrich auf dem preußischen Thron zitierte: „eine Null von frommem König“!

Noch zu Hause versuche ich mich am Dechiffrieren: „Mein lieber Plothe, Bruder im Geiste, treuer Freund! Ich hoffe es geht Ihnen gut und die Oberkirche steht noch. Meine Montage hier in Gotha sind seit Jahren der correspondenz vorbehalten, so sind Sie der erste am Morgen, der meinen Geist aufheitert. Nichts Dringliches, aber doch das Gefühl Bewegendes möchte ich Ihnen zu Beginn der Karwoche mitteilen. Wann schrieb ich Ihnen das letzte Mal? Es muß wohl zum Weihnachtsfeste im alten Jahr gewesen sein, daher nun die überraschende Neuigkeit von diesem Jahresbeginn! An einem der vorigen Mittwochabende staunte ich nicht schlecht – unangekündigter Besuch aus Frankfurt stand vor der Tür. Ein junger Militair im blau-roten preußischen Tuch, die Mütze verlegen in den Händen drehend, begleitet von einem älteren Diener, einem „Burschen“, wie die Offiziere gewöhnlich sagen. Den Soldaten erkannte ich nicht auf Anhieb, die Uniform verändert den Menschen, aber als er sich vorstellte, umarmten wir uns freundschaftlich, es war der Nachbarsjunge aus der Kleistfamilie, der leicht versponnene, weltkluge, manchmal verschlossene und in sich gekehrte Heinrich. Die königliche Fähnrichs-Uniform schreckte mich zuerst ab, dann übersah ich sie. Der Kleine wird noch hineinwachsen, dachte ich auf den ersten Blick, er wird sie schon bald ausfüllen, körperlich und geistig, hoffentlich wird seine zarte Seele keinen Schaden nehmen! Denn wenn sich sein Traum, Lehrer zu werden, erfüllen soll, dann wird er viel Seele brauchen, mehr Seele als trockene Wissenschaft.

Von diesem Traum, Lehrer zu werden so wie ich, hatte er mir während der Gänge durch St. Marien mehrfach erzählt. Manchmal hatte er sich durch das geöffnete Seitenportal in das Hauptschiff hineingeschlichen, um sich besonders die Tafeln über dem Altar und die Fenster hinter dem Chor anzusehen. Als ich ihn einmal dort allein erwischte, lief er rot an, stotterte etwas von Teufelsfratzen und Hörnern und Satansklauen, Wörtern, die ich im Wortschatz eines Jungen seines Alters nicht vermuten würde. Waren es Gesichter aus jenen farbigen Chorfenstern, die ihn im Traum erschienen waren? Wir gingen den uralten, dunklen Fenstern und er zeigte sie mir, jene mittelalterlichen Szenen, sehr hoch über uns, aber doch erkennbar. Angetan war er insonderheit vom äußersten rechten Fenster, dort häuften sich die Schreckensgestalten, die Teufel, die satanischen Folterknechte, die gehörnten Köpfe, sehen Sie sich das an, lieber Plothe, und erstaunen Sie wie ich damals. Aufgeregt führte er mich ganz nahe heran zur dritten untersten Reihe des rechten Fensters und spielte mir vor in der Art eines Hauslehrers – oder besser – eines Theatermenschen – wie er den ihm anvertrauten Mädchen – er sprach immer nur von Mädchen, niemals von Knaben – die einzelnen Szenen erklären wolle. So zeigte er mir die Darstellung einer Geburt, in der ein Teufel neben der liegenden jungen Mutter steht, aus seinem rosa-braunen Kopf wachsen große goldene Kuhhörner, aus dem Munde ragt ein riesiger Eckzahn, an der Schulter trägt er eine Plakette mit Teufelsantlitz. Dieser hochgewachsene Satan berührt das Neugeborene auf dem Arm einer Hebamme, die beiden Frauen sind nicht erschreckt, finden die Anwesenheit des Teufels vermutlich normal. Der Kleine erregte sich gewaltig bei seiner Erklärung, fragte mich nach der Deutung – ich muß gestehen, mein bester Freund, dass ich keine zur Hand hatte und ihn auf ein andermal vertrösten mußte. Nun war es an mir, die Szenen allein für mich zu studieren und Erklärungen zu suchen für Abbildungen aus dem gotischen Mittelalter, für die es vermutlich weder kunsthistorische Beschreibungen noch Experten gab, die mir beistehen konnten. Ich sollte Ihnen, lieber Plothe, offenbaren wie wenig ich mich auf Kunstgeschichte und insbesondere die gotischen Gemälde verstehe. Durfte ich aber das dem Knaben beichten und somit seinem Traum vom allwissenden Lehrer einen Stoß ins Bodenlose versetzen? Nein, dreimal Nein ! Ich nahm mir vor, in allernächster Zeit diese Beschäftigung nachzuholen, bin aber bis heute säumig. Der Besuch des „Herrn Fähnrichs“ erinnerte mich schmerzhaft an die Lücke in meinem Wissensgebäude, nun werde ich mich dransetzen – vielleicht können Sie, lieber treuer Plothe, mir nach nochmaliger Besichtigung der Fenster einige Anregungen zum Nachdenken und zu neuerer Literatur senden.

Der Junge im preußischen Blau-Rot war höflich genug, mich nicht auf jene meine Mängel hinzuweisen, er scheint jedoch über ein veritables Gedächtnis zu verfügen – im Verlaufe des über einstündigen Gesprächs im Schloßpark und des eiligst durch meine liebe Köchin zusammengestellten Abendessens kamen wir auf das Satanische in den Kriegen der Gegenwart zu sprechen. Er war auf dem Wege zu einem dieser schrecklichen Untaten der Menschheit, verblüffte mich durch das Geständnis, er wisse überhaupt nichts darüber und bat mich, ihm etwas von den Erfahrungen meines Einsatzes als Feldprediger 78/79 mitzuteilen. Woher wußte er von diesem Krieg und meiner Teilnahme? Ich entschied mich, ihm von den Thränen jener schlesischen Bauersfrau zu erzählen und Erinnerungen an einige Szenen der Chorfenster von St. Marien einzuflechten, in denen Waffen sprechen, in denen Opfer von Steinigungen ihre brechenden Augen erschreckt dem Betrachter darbieten, in denen abgeschlagene Köpfe am Boden liegen, in denen das Feuer menschliche Glieder frißt. Die Keule, das war die Waffe, die den Knaben am stärksten beeindruckte – mit ihr erschlug man die Heiden, mit ihr folterten die Heiden die ersten christlichen Märtyrer. Der 15-Jährige überraschte mich mit der kühnen These, die Keule sei bestens geeignet für massenhafte Tötungen durch den Mob – sie kräftig schwingend und im Kreise um sich schlagend könne ein Täter ohne abzusetzen und ohne Luft zu holen ganze Gruppen seiner Gegner an einer Wand erledigen und sich – bedrohlich eingekreist durch eine Menge – den Weg über Leichen bahnen: Schädel zerspringen wie Melonen, Blut spritzt an die Wände. Ich erschrak – welche Phantasien bewegen diesen Knaben! Welche Anleitungen zum Verhalten im Gefecht entnimmt der künftige Offizier den Szenen der Chorfenster von St. Marien? Ich beobachtete verstohlen das Gesicht meines Besuchers – unbewegt, nüchtern sachlich spricht der Sproß eines der berühmtesten Offiziersgeschlechter Preußens diese Worte.

Da stand er nun vor mir, der Knabe, der vom Lehrerberuf träumte und in dessen Phantasien satanische Grausamkeiten sich austobten. Lieber Plothe, würden Sie mir helfen, diesem Jungen, wenn er sich künftig wieder dem Elternhaus nähert – sollte er diesem unsinnigen Krieg gegen Frankreich lebend entrinnen können – den guten Weg zum Lehrer zu finden? Bieten Sie ihm in guter Tradition die gemeinsame Besichtigung der Chorfenster an – vermutlich wird er nach den schrecklichen Kriegserlebnissen von selbst das Gespräch über die Keulen, Richtschwerter, Geißelpeitschen suchen. Bitte schreiben Sie mir! Ihr treuer Freund Josias Löffler“

Ich brauche viel Zeit, Geduld und philosophische Neugier zum Verdauen des Fundes. Eddas Fragen werden hoffentlich dabei helfen. Ich fühle schon das Bohrende in der ersten Frage: Heinrich von Kleist – der Junge aus dem Nachbarhaus – als Fähnrich zieht er sich das Preußisch Blau über, als Leutnant der Garde wirft er es ab ! WARUM ??? Welchen Einfluß hatte Josias Löffler auf diese Entscheidung eines von Kleist ?

Dr. Dieter Weigert 2. September 2023 Berlin Prenzlauer Berg

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Bisher sind erschienen:

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 16

Das paßt sehr gut in unsere chronologische Abfolge – Edda ist glücklich ! Ein singuläres Briefchen von unserem Josias Löffler an einen Freund im Herzogtum Gotha, datiert mit dem 8. September 1786, einem Freitag. Adressat ist ein gewisser Gotter, Friedrich Wilhelm, Schreiberling und Theatermann am Hofe. -Bester Chef, bevor ich die Details verliere, können wir uns mit diesem Text beschäftigen? Hier habe ich schon mal ein Porträt des Gothaischen Intellektuellen, nicht zu verwechseln mit dem berüchtigten Weiberhelden aus Schloß Molsdorf, den jeder Mensch mit höherer Bildung in Thüringen kennt.

Nun also der philosophische Text des Frankfurters an den Gothaer:
„Frankfurth, 8ter Sept. 86

Lieber getreuer Freund,
zum zweyten Mahl nun nach so kurzer Zeit sitze ich traurig am Tisch und versuche mich an einer Gedenkpredigt für einen der Großen unter Gottes Himmel. Vor einem Jahr für den Braunschweiger Prinzen, heute nun für den großen Friedrich, seinen Onkel. Wie ich aus einem Ihrer letzten Schreiben weiß sind Sie mit vielen Vorgängen der hohen Politik als Geheimsecretair des Herzogs im Gothaischen Archiv vertraut, daher verstehen Sie meine Lage – eine Wanderung am Abgrund, eine falsche Zeile in der Predigt, ein offenes Wort dort wo nur eine Anspielung es getan hätte – und ich kann in Unehren nach Saalfeld zurückkehren ! In ähnlicher Lage – sollten wir uns beide zur äußersten Vorsicht mahnen!
Die Klippe im Vorjahr konnte ich erfolgreich meistern, den Prinzen, Aufklärer, Lessing-Förderer Leopold so von der Kanzel zu würdigen, wie es einem Generalsuperintendenen ansteht – als Mann des Königs in der Kirche, als Mann der Kirche vor des Königs Regiment! Allen recht gedient ! Der König war zufrieden! Heute nun soll ich die rechten Worte finden für unseren großen Förderer, den König selbst.
Konnte ich zu Ehren des Braunschweigers, des jüngeren Bruders der klugen und sanften Weimaranerin Anna Amalia noch den Schmerz über das Dahinscheiden des jungen Prinzen in den Mittelpunkt stellen, muß ich jetzt über das Herrschen, über Krieg und Frieden, über Härte und Sanftmut, über die philosophische Größe des einsamen Mannes in Potsdam reden. Vor mir liegt der Scherenschnitt Ihres Kopfes, den Sie mir vor Jahren beigelegt haben – bitte helfen Sie mir aus der Ferne !


Was soll werden ? Die Männer mit den Schaufeln und Piquen stehen bereit – in die schon gegrabenen Löcher nicht nur den Körper des großen Strategen, sondern mit ihm die Bücher, die Ideen, die Pläne, die Mitstreiter hineinzulegen, die Preußen und gantz Deutschland eine bessere Zukunft verheißen sollen. Die Wö…s, die Rosen…r, werden ihre Listen sorgfältig verfolgen, keinen von uns auslassen! Was ist Ihr Herzog der thüringischen Wälder werth? Sollten wir auf ihn rechnen oder ist er ein Anpasser, der nur an sein Privates denkt, an seine Sternentafeln, sein Theater, sein Auskommen mit Weimar und den anderen Residenzen zwischen Saale und Werra? Man kann nur hoffen!
Ich bin bereit für Offerten aus Hamburg, Göttingen, weniger aus Weimar, da möchte ich nicht gegen Herder antreten.
Der Predigttext ruft – nichts von unseren Sorgen kann ich aufschreiben. Aber verschlüsselt den Unsrigen Hoffnung geben: „So grenzenlos der Verlust und so gerecht der Schmerz ist, den wir ihm weihen; so würden wir doch großes Unrecht haben, wenn wir bey der Feyer seines Gedächtnisses, diese Empfindung die allein herrschende in unserer Seele seyn ließen … uns ist es vielmehr Pflicht, unser Gemüth zu diesem höchsten Gebieter der Welt zu erheben, uns in dem heiligen, unveränderlichen Rathe seiner Weisheit zu beruhigen … So wird sich dese Feyer zwischen Wehmuth und Dankbarkeit – den natürlichsten Gefühlen bey dem Verluste eines geliebten Regenten, theilen, und endlich in die lebhafteste Aufforderung zum freudigsten Vertrauen auf Gott übergehen.“

Ach lieber Freund, wie schwer fällt es mir, die Sorge des Verblichenen um den Letzten seiner Unterthanen in einer solchen Rede verständlich auszudrücken. Die bisherigen Worte finde ich ungenügend, da sollte ich noch mehr Schöpferkraft hineinlegen:

„Und so hinterlässt er, dieser bewunderte Regent, sein Reich, Größer und blühender an Künsten und Wissenschaften und reicher an Menschen und Wohlstand, als er es empfieng. Mit dieser unermüdeten Geschäftigkeit, Jedem Mangel seines Landes abzuhelfen, Jede Klasse seiner Untertanen zu unterstützen, vereinigte er zugleich den Wunsch nach der weisesten Gesetzgebung und die strengste Gerechtigkeitsliebe. Er selbst unterwarf sich dem heiligen Spruch der Gesetze. Seinem Throne durfte sich jeder nähern, und fand umso eher Gehör, Je geringer und ohnmächtiger und je ausgesetzter er der Bedrückung schien. Das Recht des Bettlers war ihm nach seinem eigenen Ausspruch so heilig als das Recht des Fürsten. Einmal schon hatte er die Gesetze verbessert. Aber nicht zufrieden mit einem Grade der Vollkommenheit. Solange noch ein höherer zu erreichen war, Strebte er auch nach diesem Punkt über diesen großen, noch unvollendeten Versuche, der ein ewiges Denkmal der Güte seiner Absicht bleiben wird, übereilte ihn der Tod. Und so folgt ihm, diesem bewunderten Regenten, gewiss auch der Ruhm des Weisen, des Gerechten.

Aus eben dieser Gerechtigkeitsliebe, Verbunden mit dem erleuchtetesten Verstande und mit tiefer Kenntnis des Menschen und der Verirrungen seines Geistes hatte sich in seiner Seele ferner ein Grundsatz gebildet, Dessen genaue Befolgung Ihn nach meiner Einsicht zum Lehrer der Könige auf alle Zeiten erhebt. Wer denkt hierbei nicht sogleich an seine Duldsamkeit in Ansehung der Religion und seine gleiche Gerechtigkeit gegen alle Glaubensgenossen. Überzeugt, daß Menschen, die mit den ungleichsten Fähigkeiten gebohren, unter den verschiedensten Umständen erzogen von ebenso verschiedenen Lehrern unterrichtet und mehr oder weniger zum eigenen Nachdenken angeführt werden, Unmöglich eines Glaubens und einer Religion sein können, suchte er keine Übereinstimmung zu erzwingen, Sondern ehrte als eine Einrichtung Gottes diese Verschiedenheit in der menschlichen Denkart, die er nicht aufheben, sondern nur unschädlich leiten sollte. So verschieden auch die Überzeugungen seines erhabenen Geistes von den Überzeugungen der Menge sein mochten, so geneigt war er, Redlichkeit und Tugend unter allen Glaubensgenossen zu schätzen.
Keiner Parthey und keinem äußerlichen Bekenntnisse ergeben, Diente er dem Ewigen in der ehrfurchtsvollen Demuth durch gute Gesinnung und durch die heiligste Erfüllung seines Berufes. Fern von jeder Art des Gewissenszwanges, dessen schreckliche Wirkungen Er aus der Geschichte kannte, Übte und duldete er keine Bedrückung. Und so war er, dieser bewunderte Regent, ein Weiser unter den Königen, der dem menschlichen Geiste keine Fesseln anlegte und der Gewissen schonte.“

Einer Ihrer Ahnen war im herzoglichen Gotha wie ich heute in der Vertrauensstellung eines Generalsuperintendenten – holen Sie an seinem Grabstein mir im Geiste Rath, wie ich die Trauer um meinen großen König in Worte fasse, senden Sie eine Brieftaube !
Die Eingangssätze der Gedächtnispredigt aber stehen schon auf dem Papier: „Herr! Allmächtiger Gott! Weiser Regierer der Welt und der Schicksale der Völker! Mit verwundetem Herzen erscheinen wir heute vor dir, um den großen König zu beweinen, durch den du uns so lange wohlgethan hast!
Unempfindlich wäre unser Herz, wenn sein Tod uns nicht rührte; wenn wir bey dem Gedanken, daß Er nicht mehr ist – nicht mir thränenvollen Augen zu dir hinaufblickten. „

Lieber bester Freund, sehnsüchtig blicke ich vom kühlen Ufer der Oder zu Ihnen in den heimatlichen Bergen, den Hügeln und Thälern. Ohne aufdringlich zu scheinen, wäre eine Kundschaft über die Meinung Ihres Fürsten zu meiner Person in irgendeiner Position- nicht unbedeutenden, nicht unwirksamen für unsre Sache auf dem Friedenstein für meinen jetzigen Befindungsproceß doch sehr hilfreich!
Übrigens – wie geht es unseren französischen Freunden im selbstgewählten Exil in Friedrichroda?“

Verschieben wir dieses Thema auf die nächste Folge !

Dr. Dieter Weigert 25. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

Die nächsten Folgen der Erinnerungen des Saalfelder Stadtarchivars erscheinen in unregelmäßigen Abständen.

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 15

Die trockene Bücherweisheit der Kleistologen behauptet – gegründet auf zehn Prozent sicheres Wissen, 90 Prozent Halbwahrheiten, Spekulationen, Hypothesen und tiefe Blicke in die Glaskugel – daß es in Frankfurt an der Oder einen gewissen C. E. Martini gegeben habe, dessen nachweisbare Existenz sich auf einige wenige Druckzeilen zusammenfassen ließe: Martini, Christian Ernst (1762 bis 1833), Theologe, später Rektor der Frankfurter Bürgerschule, Kleists Hauslehrer, mit der Familie bis zu seinem Tode befreundet. 47ı, 804. – Brief Nr. 3.
ERGO: Nach Immanuel Kant war dessen Daseinszweck nur Empfänger eines Briefes zu sein, mit dessen Inhalt sich nun Dutzende Lehrstuhlinhaber und Tausende Studenten in aller Welt online und offline zu beschäftigen haben !

Ich aber, Stadtarchivar von Saalfeld im Thüringischen, Arbeitsplatz unterm Schloßdach, plage mich gemeinsam mit temporär ausgeliehener Kollegin Edda an der Durchsicht eines vor Monaten freigelegten Konvoluts historischer Papiere aus dem – wie wir vermuten – privat-geheimen – Nachlaß des Theologen und Kirchenpolitikers Josias Löffler, des „großen Sohnes unserer Stadt“ (Originalzitat Landrat).

Ehrung für Josias Löffler in Gotha (Thüringen)

Als Nicht-Kantianer bemühen wir uns um „WISSENSCHAFTLICHE SUBJEKTIVITÄT“ (Originalzitat. ICH) bei der Einordnung der jeweiligen historischen Person, ergo ihn oder sie zu nehmen als handelnden Menschen mit sehr individuellen Charakterzügen, Wertvorstellungen, Lebenszielen, Liebschaften, nicht jedoch nur als Fußnote im Lebens-Ablauf einer germanistischen Größe wie Kleist, Schiller, Goethe etc. pp.
Edda und ich nehmen es gelassen, wenn uns die Kleistologen an ihren Stammtischen oder online-Zirkeln für „nicht-standes-gemäß“, für „nichtsatisfaktionsfähig“ erklären (meine Herren: IHRE EHRE ist nicht MEINE EHRE !). Erst recht lachen wir angesichts Ihrer Einteilung der Menschen in die Gruppe der Rechtschaffenen (d.h. denen das Recht zugesteht, eine druckbare Biographie – Leben und Werk- des Heinrich von Kleist auf grund ihrer akademischen Würden der Welt zu Füßen zu legen) und – von ihnen abgehoben – die Gruppe der Rechtlosen, (denen man zwar die Chance einräumt, jene Publikationen lesen zu dürfen, denen aber das Recht der Mitsprache versagt bleiben muß).

NACHDEM DAS NUN MAL GESAGT WERDEN MUSSTE; GEHT ES ZUR SACHE:
Funde erster Ordnung im Konvolut: Brief jenes historischen Subjektes Christian Ernst Martini an Löffler vom November 1815 sowie drei Papiere politischen Inhalts, ohne Adressat, aber datiert zwischen 1814 und 1816. Edda könne sich ja mal dran setzen, den Brief einordnen, die Papiere analysieren auch den Martini als Person bei der Gelegenheit einordnen.

Nach drei Tagen sehe ich – Es ist soweit, sie kann ihren Bericht abliefern! Eddas Original- „Narrativ“: – Ich beginne mit dem persönlichen Brief Martinis an Josias Löffler. Der Brief ist die Anwort Martinis auf ein – vermutlich sehr ausführliches – Schreiben Löfflers an Martini in Frankfurt vom Oktober 1815. Zum Verständnis meiner „Expertise“ der Original-Brieftext jenes Martini, wobei ich darauf hinweise, daß Martini, der nur wenig jünger ist als Löffler, das vertrauliche DU in der Anrede verwendet, ein Zeichen der engen Verbundenheit! und hier auch die Kopie einer Seite der Handschrift Martinis :

„Lieber verehrter Freund, hochgeschätzter Professor und excellenter herzoglicher Superintendent !

Vom Strand des Oderflußes die herzlichsten Grüße von einem Deiner treuesten Schüler! Tiefste Dankbarkeit für das Schreiben vom letzten Monat, das mich aus der Apathie herausriß, einer tiefen Bedrückung hervorgerufen durch die bösen militairischen und politischen Ereignisse dieses Jahres in Europa. Ich danke Dir für das schöne Mahnmahl daß Du meinem Sohne gesetzt hast. – So wurde der große Tyrann gestürzt. Aber die kleinen Tyrannen die in Deutschland herrschen, werden nicht gestürzt werden. Ein bloßer Nahme ist Teutschlands Einheit. Umsonst ist mein Wilhelm gefallen. –
Die sämtlichen Könige Teutschlands müßten … was sie damit Napoleons Generalen
Ueberall müßten republikanische Verfassungen eingesetzt werden. Entgegen aller Schreibereyen der bezahlten Lakaien in den Residenzen der alten Welt von Rußland bis England sahen wir doch in Bonaparte und seinem frischen System einen Aufbruch, eine Beybehaltung der meisten Innovationen der Jacobiner, wenn auch verschleiert durch den Dunst einer Kaiserkrone. Das soll nun alles vorbey sein ? Die tanzenden Herren von Wien trampeln auf unseren Körpern. Es ist zum Verzagen! Ich gehe viel in die Natur – hier die Skizze eines Freundes !

Auch die Unterrichtung der Schüler läßt keinen Ausweg erkennen – Preußen will Soldaten, keine hellen Köpfe ! Wofür haben die Studenten ihr junges Leben in die Schlachten geworfen ? Wofür ist mein Wilhelm in Hessen gefallen? Auch Schüler von mir sind unter den Todten von Leipzig und Torgau ! Entsetzlich !!! Es bleibt nur das Private – und die Erinnerung an Dich, den immer lächelnden Professor der Heilslehren des Neuen Testaments. Weißt Du noch, wie Du mich einmal „Martin Römisch Zwei“ genannt hast? Römisch Eins war natürlich der Bruder Martin von Wittenberg. Ich fühlte mich geehrt und tath mein bestes deinen Anforderungen gerecht zu werden. Heute kann ich dein Wissen meinen Schülern weitergeben, dinen geschichtlichen Blick auch auf die Helige Schrift, vor allem auf das NT, auf jene große Frau des Altertums, die wir Maria Magdalena, unsere französischen Schwestern und Brüder Madeleine nennen. Ist es Dir schon einmal wie mir in Berlin beim Besuche eines guten Freundes begegnet, daß ein französischer Offizier, den mein Freund eingeladen hatte, aus seiner Kartentasche das Bild jener Madeleine zauberte? Er trug (oder vielleicht lebt er noch und trägt es heute noch mit sich herum) nicht das Bild der Muttergottes, sondern das Konterfey der Heiligen Madeleine am Herzen. So sind die Franzosen !

Ich muß gestehen Chef, mir kamen die Tränen. Ich glaube, wir können an dieser Stelle unsere nüchterne, aber von Sympathie und Hochachtung getragene Einschätzung dieses Briefes unterbrechen. Vielleicht morgen mehr davon.

Die drei beiliegenden nicht-privaten Papiere sind in einer sachlichen, nüchternen Sprache verfaßt, standardisiert, unterschrieben von einem „CASIMIR“ und datiert – zwischen 1807 und 1810. Auffällig ist die vielfache Verwendung französischer Worte für wirtschaftliche und militärische Begriffe. Ich bin vielleicht keine Expertin für Geheimdiens-Berichte, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, daß unser Bruder Martini Analysen auf der Grundlage von Gesprächen und Beobachtungen in der Garnisonstadt Frankfurt angefertigt hat. Der Dienst, der ihm dafür ein gutes Honorar gezahlt haben könnte, wäre eventuelle der des französischen Kaisers gewesen.
Hier eine Seite aus einem der drei Berichte:

Dieser Bericht vom 27. März 1810 umfaßt 6 Blätter, beidseitig beschrieben, also wäre viel zu entnehmen durch den Empfänger. Heiße Ware sozusagen, ich vergeude unsere kostbare Zeit nicht mit Transkription, die Schrift ist super lesbar. Aber, bester Chef – wie kommt die Abschrift des Berichtes – und darum kann es sich ja nur handeln – in den Besitz unseres Josias ? Wenn Casimir-Martini für die Franzosen gearbeitet hat, bei seiner Sympathe für die Revolution und ihren Vollender Napoleon (aus seiner Sicht) durchaus vorstellbar, wieweit ging dann die Vertraulichkeit mit seinem Freund, den königlichen Professor und Generalsuperintendenten ? Das ist für mich eine offene Frage. Sympathien ja, aber aktives politisches Handeln? Ganz absurd wäre die Vorstellung, auch Josias hätte für die Franzosen gearbeitet – dann hätte er aber solche Berichte nicht in seinem Privatbesitz! Belassen wir es für heute dabei, vielleicht findet sich das eine oder andere Papierchen, was uns weiter helfen könnte.

Für manche war der Name Martini nur die Bezeichnung eines Punktes im Netz der Beziehungen des Dramatikers und Erzählers Kleist – ein Orientierungspunkt des Briefeschreibers, des Mannes, der erklärt weshalb er aus der Armee ausscheidet – dieser Martini in Frankfurt an der Oder führt kein Eigenleben, dieser Martini ist in den Augen der „Kleistologen“ nur Briefempfänger, er ist nicht aktiv, er hat keinen Einfluß auf das Werk des Dichters ! Wunderliche „Wissenschaftler “ !!!

Zu deren Erinnerung: Am 5. Febraur 1788 überreicht eine Gruppe von Sudenten, darunter Alexander und Wilhelm von Humboldt, Martini und Wegener ihrem geliebten Professor Löffler, „Gewidmet von Seinen Zuhoerern und Verehrern“, eine gebundene Mappe mit künstlerisch gestalteten Vignetten und den Unterschriften zum Abschied von der Universität Frankfurt an der Oder. Eine nochmalige Zeremonie in derselben Form findet am „18. des Herbstmonats 1788“ vor der Abreise Proifessor Löfflers nach Gotha statt, diemal auch u.a. mit den Unterschriften von Martini und Wegener, aber ohne die der Gebrüder Humboldt, die in der Sommerpause 1788 die Universität verlassen hatten.

Dr. Dieter Weigert 22. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

Die nächsten Folgen der Erinnerungen des Saalfelder Stadtarchivarr erscheinen in unregelmäßigen Abständen.

Für Interessenten bisher:

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 13

Zurück aus den Tiroler Bergen, den Spurwechsel aus den Langlauf-Loipen zwischen Innsbruck und dem Stubaital in die ausgefahrenen Bahnen meiner Dachkemenate mühsam gemeistert, wage ich kaum einen Blick auf das schmutzige Grau des Schlossparks unter meinem Dachfenster – kahl die Linden und Pappeln, die kreisrunde Blumenrabatte in der Mitte des Rasens noch zugedeckt mit Laub und Tannenzweigen. Aber das Eis auf dem See wird von Tag zu Tag dünner, das große Tauwetter kündigt sich an, kleine Pfützen zeigen sich schon tagsüber auf den Sandwegen. Winterschal und warme Mütze sind aber noch gefragt.

Ich bin allein. Edda feiert noch einige Tage Überstunden ab. Wie schaffe ich es ohne sie, die bleigraue Stimmung vor dem Fenster in eine schöpferische Atmosphäre in meinem warmen Stübchen zu verwandeln? Wo war ich vor der Abreise in die Berge hängen geblieben ?

Der Gotha-Besuch des nunmehr erwachsenen, dem Gamaschendienst der preußischen Armee entronnenen und schon als Schriftsteller bekannten Heinrich von Kleist ist abgehakt – aber dem geneigten Leser vorerst noch nicht zubereitet ! Wir stecken ja noch im Privaten des Professors Löffler fest.

Da liegt also jenes schwergewichtige Stück, bis gestern noch wohl verschnürt, heute nun geöffnet und aufgeteilt – das mit „privée“ beschriftete schon durchgesehen und in die von Edda verwaltete Abteilung einsortiert. Nun aber an die noch nicht geöffnete „Vauban“-Verschnürung. Warum die befremdliche Aufschrift „Stendal“ ? Was hatte Löffler zu verschleiern?
Obenauf im Stapel der Dokumente liegt ein ziemlich dicker Brief – ein Epistel der Ehefrau, Dorothea, geborene Silberschlag, an Josias. Scheint Familiäres, aber vielleicht erfolgversprechend, vielleicht eine Ergänzung zu den intimen Briefen, die wir gestern vor uns hatten, denn eine Kopie wird es wohl in anderen Archiven nicht geben! Damit also setze ich die Lektüre fort.
Der Posten sendet unterschiedliche Gerüche aus – strenge, aber auch damenhaft-anziehende. Ich klappe das Dachfenster weit auf, frische Maienluft strömt herein. Acht Uhr morgens sind nur wenige Menschen im Park, die Saale fließt träge, kaum Geräusche kommen herauf aus der Stadt. Irgendwie vermisse ich die übliche Motivation, nur nicht routinemäßig dort weitermachen, wo ich gestern erschöpft aufhörte.
Was in solchen Situationen hilft – den Posten nach Überraschungen durchforsten, einfach in die Mitte greifen, wie beim Rühren in der Lostrommel den Zufall spielen lassen. Ich verlasse mich auf meinen Geruchssinn, schließe die Augen, taste mit der linken Hand am unteren Rand des Stapels nach etwas Verlockendem – die ältesten Papiere strömen verführerische Düfte aus – da ist sie schon, die betörende Anziehungskraft eines alten Buchrückens, spürbar die Fäden der handwerklichen Bindung, die sich lösenden Krümel des vertrockneten Knochenleimes, den ich in der Tischlerwerkstatt im heißen flüssigen Zustand so sehr liebte. Ich öffne die Augen, ziehe mit aller Vorsicht das Buch heraus: ziemlich dick, über 600 Seiten, wie ich auf den ersten Blick sehe, der Ledereinband gut erhalten.

In der Mitte ein goldenes Wappen auf dem hellbraunen Untergrund. Das Wappen war mir in den letzten Monaten noch nicht untergekommen. Hoffentlich lohnt sich das Aufschlagen, vermutlich wieder eine theologische Streitschrift mit Dutzenden Anhängen. Das goldene Wappen mit Krone ist mir nicht bekannt, lässt auch keine Rückschlüsse auf den Verfasser zu, hat auch nichts Religiöses – keinen Himmelsschlüssel, keinen Kardinalshut, keinen Heiland am Kreuz und auch keine Maria. Das Äußere lässt vermuten, dass es nicht allzu oft benutzt worden war.

Ich mache Platz auf dem Tisch und öffne vorsichtig den Prachtband.

Nun trifft mich nicht gleich der Schlag, aber ich bin doch sprachlos: befremdet lese ich den Titel – „ANWEISUNG ZUR KRIEGES-BAU-KUNST worinnen die Beschaffenheit und Anlegung, wie auch der ANGRIFF und die VERTHEIDIGUNG der Festungen, Schantzen und Linien vermittelst 22 hierzu dienlicher Kupfer-Tafeln nach Theorie und Praxis abgehandelt wird“. Alles hatte ich erwartet, nur kein militärisches Handbuch. Auf dem Titelblatt keine Erwähnung eines Verfassers, aber die nächste Überraschung – „Zu finden im Buchladen der Real-Schule“. Ein Schulbuch also? Festungsbau für preußische Realschüler im Jahre 1757. Ich suche nach einem Autoren oder einem Herausgeber. Im umfangreichen „Vorbericht“ nur Namen von Offizieren, die sich wohlwollend über das Werk äußern und es auch für die Weiterbildung der jungen Offiziere und Fähnriche empfehlen. Auch am Ende nichts über einen Mann der Feder, aber den Hinweis „Berlin, gedruckt bey George Ludewig Winter“.

Ich will das Buch weg legen – da ist es wieder, das jedem Archivar bekanntes Rascheln, aus dem Buch löst sich eine Einlage und segelt zu Boden. Es ist ein verschlossener Umschlag, das Siegel gebrochen, der Umschlag aber wieder verklebt und zusätzlich mit einem Bindfaden verschnürt, an dem ein kleines Paket hängt, das ich vorerst beiseite lege. Auf der Vorderseite des Umschlags die sauber lesbare Aufschrift „Meiner lieben Tochter Dorothea, OCR J.E.S. – 9ter October 1786 – strict persönlich !“. Nun zahlt sich die monatelange gründliche Beschäftigung mit Namen und Biographien im Umfeld des Josias Löffler aus – ich verstehe sofort:  der Berliner lutherische Oberkonsistorialrat Johann Esaias Silberschlag schreibt seiner Tochter Dorothea, seit dem 9. November 1784 Ehefrau des Predigers und Professors Josias Löffler in Frankfurt an der Oder.

Der Inhalt muss sehr intim sein, nichts für fremde Augen, strict nur zwischen Vater und Tochter, wohl auch nicht gedacht für Mutter und Geschwister Dorotheas.

Plötzlich ist die professionelle Neugier wieder da – wie weggeblasen ist die Blockade, die mich beim Anblick der vergilbten Blätter heute Morgen befallen hatte. Vielleicht gibt das väterliche Schreiben Aufschluss über die Herkunft jenes für einen Theologen anscheinend sachfremden Wälzers oder zumindest einen Hinweis auf den oder die Autoren. Behutsam entnehme ich dem Umschlag die Blätter – zahlreicher als ich vermutet habe, beiderseitig eng beschrieben, gut lesbar, nummeriert und mit blauen Fäden geheftet. Kein Testament, keine notarielle Verfügung, kein Vertrag, nichts Finanzielles.

Schon die ersten Zeilen lassen mich jedoch an die Decke springen – nur im übertragenen Sinne: „Meine liebste Doro, du bist der eintzige Mensch, dem ich diesen Bericht, diese confessiones, anvertraue, nicht einmal mein König, der in jenen Jahren mein persönlicher Auftraggeber war, kennt diesen Text. Bitte verwahre das Schriftstück sorgsam, gerät es in die falschen Hände, hätte das schlimme Folgen für uns alle. Aber mein Gewissen vor Gott zwingt mich, diese weltliche Beichte aufzuschreiben:

Lange Jahre vor deinem Erscheinen auf dieser Welt, ich war ein junger Mann von 22 Jahren, im zweiten Jahr meines Studiums der Theologie, Philosophie und der Naturkunde im Kloster Bergen bei Magdeburg, ließ mich an einem September-Sonntag der von uns allen vielgeliebte Abt Steinmetz nach dem Gottesdienst am Mittag allein zu sich kommen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an diesen Augenblick, als ich mich in seinem Arbeitszimmer einem Mann in dunkler, bescheidener Kleidung gegenüber sah, der soeben einem ebenso bescheidenen Zweispänner entstiegen war und in sehr vertraulicher Art mir als der Marquis de Arnhem vorgestellt wurde – im Sonderauftrag Seiner Majestät, und dem ich – wie der Abt mit amtlicher Stimme mir mitteilte – von dieser Stunde an unterstellt war.

Der Abt verließ den Raum, ich war allein mit diesem geheimnisvollen Marquis. Er sprach vollendetes Französisch, setzte dessen Kenntnis bei mir voraus und erklärte ohne Umschweife, dass ich zum Packen meiner Habseligkeiten zwanzig Minuten habe, dann würde mich die Kutsche am Hintereingang des studentischen Wohngebäudes abholen. Weitere Dispositionen würde ich im Wagen durch ihn empfangen.

Ich war verwirrt, befolgte aber gut-preußisch diesem Befehl und erfuhr hinter den verhangenen Fenstern der Kutsche die Details der königlichen Planungen, die Majestät mir zugedacht hatte. Ich hatte keine Mühe, das Französisch meines neuen Herrn zu verstehen, verzog auch keine Miene bei den Eröffnungen, die der „Marquis im Sonderauftrag“ machte, denn ich hielt das Ganze für eine Verwechslung. Meine Person konnte wohl nicht gemeint sein mit jenen abenteuerlichen Missionen, die dem Jüngling in der Kutsche durch Seine Majestät zugedacht waren: Venedig, Turin, Paris und Umgebung … Ich glaubte immer noch zu träumen, als wir am Abend vor einem Pavillon in einem dunklen herrschaftlichen Park aus der Kutsche stiegen, in einen kleinen, gut eingerichteten Raum geführt wurden, wo ein ausgiebiges Souper uns erwartete. Livrierte Diener wiesen uns Plätze an, servierten Getränke und schienen Ausschau nach dem Hausherrn zu halten. Von außen kommende Geräusche verrieten es – er war im Anmarsch, der König – aber ohne Trommelwirbel, ohne Posaunen, ohne den schweren majestätischen Schritt und ohne Rufe der Offiziere. Der Diener öffnete die Flügeltür, ein junger Mann erschien leichten tänzerischen Gangs, schlank, in militärischer Kleidung, ohne Hut aber mit Perücke – nicht der dicke, schwere König, sondern der Kronprinz Friedrich!
Mit einer Handbewegung schickte er die ihn begleitenden Offiziere samt der Dienerschaft aus dem Raum, verschloss eigenhändig die Flügeltür und postierte den Marquis von innen dagegen. Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln – auch hier wieder in französischer Sprache – zog er ein Papier aus dem Ärmelumschlag, ließ es mich nach kurzem Überfliegen unterschreiben und offenbarte das Geheimnisvolle dieser Begegnung. „Er weiß, was er unterzeichnet hat“, wandte er sich an mich, ebenso in Französisch, „eine eidliche Versicherung, nichts von dieser Begegnung, den darauf folgenden Aufträgen für die Krone Preußens Dritten gegenüber bei Androhung des Verlustes des Lebens kund zu tun, Bericht zu erstatten nur der Majestät oder den von der Majestät schriftlich Beauftragten. Der Eid bindet bis zum letzten Atemzuge.“ 
Er wurde persönlicher: „Monsieur Louis de Périgaux, Romancier, so wird nun Sein nom de Plume oder nom der guerre unter Bedingungen der Discrétion sein, nur ein aus drei Personen bestehender kleiner Kreis verschwiegener Offiziere am preußischen Hofe kennt Seine wahre Identität – ich, der Chef des cabinét secret und der hier anwesende Marquis.  Wir haben uns Seine Herkunft, Seine excellenten Fähigkeiten, Seine Vorstellungen von der beruflichen Zukunft, Seine Liebe zur Geographie, zur Poesie und zu den fremden Sprachen, Seine Wünsche und Träume angesehen und sind überzeugt, dass trotz seiner Jugend Er der richtige Mann für uns ist. Erfülle Er das in Ihn gesetzte Vertrauen, dann wird Seine Zukunft auch hier in der königlichen Residenz strahlen. Monsieur le Marquis wird Ihm beim Souper meine Vorstellungen Seiner Tätigkeit der nächsten Jahre erläutern.
Nur so viel vorab – Sehe er seine künftigen Taten als bedeutsamen Beitrag zur Erreichung meines Lebensziels als Monarch – Vermeidung von Krieg durch Herstellung und Erhaltung einer ausgewogenen politischen und wirtschaftlichen Balance zwischen den europäischen Großmächten. Halte er mich nicht für einen jugendlichen Phantasten – wer ohne Vision, ohne Träume vor seine Untertanen tritt, sollte seine Krone ablegen!
Adieu et bonne chance, Monsieur de Périgaux!“ Friedrich verschwand lautlos, ließ mich in einem Zustand der Ratlosigkeit, der Verwirrtheit, aber auch der Neugier auf die kommenden Aufgaben zurück.

Liebste Doro, ich werde dich nicht mit finanziellen Details, mit den Communications-Vereinbarungen, mit den anfänglichen Unsicherheiten und auch nächtlichen Ängsten vor Unglücken oder Aufdecken der Geheimnisse und harten Strafen langweilen – es war ein Jahr, das ich mit allen Sinnen genossen habe, das mir ein Verständnis der Welt gegeben hat, der unterschiedlichen Lebensweisen, der Vielfalt der Herrschaftsformen und religiösen Vorstellungen und auch der Lebensweisen in den Familien und in dem ich die vorausschauende Weisheit des jungen Friedrich anerkennen und schätzen lernte.

Die eigenhändig geschriebene Instruction des Kronprinzen, mir vor der Abreise aus Rheinsberg, so hieß der Ort des Treffens, vom Marquis ausgehändigt mit dem Befehl, sie nach dem Einprägen des Textes zu verbrennen, lautete lapidar: „Monsieur de P. begibt sich per regulärer Post auf kürzestem Wege nach der Stadt Emmerich am Rhein. Eine Kontactperson meldet sich unter Verwendung der Parole „Balance“, übergiebt Ihm mehrere Pässe, Geld in unterschiedlichen Währungen und begleitet ihn auf der Bootsreise nach Holland zum Hafen von Rotterdam, von dort segelt er ohne Begleitung zum französischen Hafen von Nantes. Er bleibt dort zum Eingewöhnen einige Wochen, bevor er sich auf dem Landweg nach Paris begibt und im Viertel um die Kirche Saint-Sulpice Quartier nimmt. Nach mehrmonatiger Aufklärung des dortigen Priesterseminars reist er in Richtung Italien, erfüllt Aufgaben in Turin und verfügt sich zwei Monate später nach Venedig. Im Palazzo Dandolo wird Er als Marquis de Bellevue und der Parole „equilibre“ absteigen, wo Er nähere Instructionen erhält. Rückerwartet wird er in 1 Jahr in Rheinsberg beim Baron de la Motte Fouqué.“

Ich lege das Papier zur Seite, trete zum Fenster, habe Mühe meine Erregung zu beherrschen: es gab ihn also doch, den legendären Geheimdienst des Großen Friedrich, den er schon als Kronprinz aufgebaut hatte und dessen Existenz kein preußisches Archiv bisher bestätigen konnte! Nachweis von Schwarzen Kassen, Kurieren, chiffrierten Berichten – Fehlanzeige seit zwei Jahrhunderten !!!! Oder ist jemand dabei, mir etwas unterzuschieben? Warum sollte er?

Abgekühlten Kopfes entscheide ich für das Weiterlesen, aber für vorläufiges Schweigen. Die Sache ist heiß, meine Berufserfahrung wird mir jedoch helfen, dass ich mir nicht die Finger verbrenne.

Der Rest der kronprinzlichen Instruction: „Der Wert dieser Reise ist die Bekanntschaft mit nützlichen Personen in den fürstlichen Residenzen, das Verstehen des Handwerks der Diplomatie und der Machtausübung, Hinweise auf Personen, deren künftige Gewinnung für unsere sache möglich und nützlich erscheint.

Er vermeide jegliche offene Partheynahme in den inneren Kämpfen des Aufenthaltslandes, Er nehme keine Haltung ein für einen der Seiten bei Kriegshandlungen, Er zeige öffentlich nur Interesse für sein Privatgeschäft, für Spiel und Frauen und seine Recherchen als Romancier, Er studiere aber heimlich fleißig die Wirtschaftsberichte der Zeitungen und die Statistiken der Kriegsfinanzen, ohne daß Er sich durch Schriftliches verdächtig macht.

Sollte Er unglücklicherweise dem Verdacht ausgesetzt werden Spion zu sein, leugne Er consequent jegliche Beziehung zum preußischen Hof. Der Auftraggeber der Reise wird Mittel und Wege finden, Ihn unter Verwendung der Parole „Rheinsberg“ den nötigen Schutz zukommen zu lassen.“

Vater Silberschlag scheint nach fast fünfzig Jahren jedes Wort in seinem Gedächtnis eingebrannt zu haben, wie er überhaupt zu beneiden ist wegen der Art, wie er die Einzelheiten aus jener Jugendperiode hervorkramen kann:

„Viele Erinnerungen aus jenen ersten Jahren des Dienstes für unseren König, liebste Doro, sind leider verblaßt, durch andere Erlebnisse in den Hintergrund gedrängt, überlagert von späteren Ereignissen – aber niemals werde ich die Begebnisse jener Nacht im Oktober des Jahres 1738  in all ihren Einzelheiten vergessen.

Mit der Post hatte ich das Städtchen Emmerich erreicht, war von einem elegant gekleideten Mann empfangen worden, der sich als preußischer Zoll-Secretarius aus Cleve vorstellte und mich zu einem Gebäude in einem Park außerhalb des Ortes führte, einer Mischung von bescheidenem Landschloß und Gutshaus, in dem uns eine Dienerin verschiedene Sorten schmackhaften holländischen Käse, westfälischen Schinken, französischen Weißwein, Trauben aus der Pfalz und andere Leckereien servierte.
Ob ich den Namen der Gräfin Wartenberg schon einmal gehört habe, examinierte mich mein Begleiter und eröffnete damit den offiziellen Teil der Begegnung. Errötend und beschämt bekannte ich meine Unkenntnis, wollte sie burschikos durch eine lockere Bemerkung überspielen, als er mich zurechtwies und mir anhand von Details aus dem Leben jenes Mädchens Katharina aus Emmerich, späterer Gräfin von Wartenberg, Maitresse König Friedrich I., Gemahlin des preußischen Premierministers.

Ihr hatte dieses Landschlößchen vor über 25 Jahren gehört – eine mehrstündige Lektion in Geschichte, Philosophie und dynastischer Herrschaftskunde verpaßte mir der Secretarius, bis ich trunken vom guten Wein, vollgepumpt mit lockeren und frivolen Anekdoten aus der brandenburgisch-preußischen Residenz ins Himmelbett der Gräfin sank.

Am Morgen erwies sich die Dienerin auch bei der Zubereitung des nahrhaften Frühstück als Meisterin ihres Faches, der Secretarius stellte mir einen ostfriesischen Riesen namens Robert vor – graubärtig, wettergegerbtes Gesicht und kräftige Arme und Hände -, der ab sofort für das Boot und unser gemeinsames Schicksal verantwortlich sei. Er schlug einen Spaziergang vor, damit ich bei Tageslicht mir ein Bild von der Risiken, aber auch von der Schönheit einer Bootsfahrt auf dem niedern Rheinfluß machen könne, in der Ferne waren am anderen Ufer die holländischen Felder und Kuhweiden erkennbar, „wo der gute Käse wächst“!

Es war Neumond, also absolute Dunkelheit, als wir gegen Mitternacht unterhalb der Kirche ablegten, die preußische Zollstation passierten und langsam, geräuschlos etwa 300 Fuß uns von der Strömung treiben ließen.

Bootführer Robert hatte uns während des Tagesspaziergangs am Ufer außerhalb des Ortes die wichtigsten Verhaltensregeln beigebracht und strahlte nun Zuversicht aus, wenn auch der zunehmende Gegenwind aus Nordwest mich Landratte beunruhigte. Der Rhein wies an dieser Stelle, so hatte ich es der mitgeführten Karte entnommen, eine Breite von über zwölfhundert Fuß auf, im Schutz des hügeligen rechten Ufers konnten wir das Boot auf Kurs halten. Es schaukelte schon mächtig, die ersten Spritzer schlugen über die Bordwand, kleine Pfützen entstanden auf dem Boden, so daß mich Sorge um mein Reisegepäck beschlich, das ich unter der Bank am Heck verstaut hatte. Pässe und Geld waren zwar am Leib untergebracht, aber um die Bücher, Schreibzeug, Karten, Wäsche, die neuen Stiefel, Umhänge, Hüte wäre es doch schade, wenn sie der Rheinstrom verschlingen sollte. Ein Schatten tauchte am Ufer auf – „die Mühle von Höchelten, das letzte Gebäude auf preußischem Boden“ flüsterte uns der Bootsführer zu, „wir lassen uns noch eine Strecke treiben, etwa eine Stunde, bis der Strom enger wird und wir die Überfahrt zum anderen Ufer gefahrlos wagen können“.

Der Gegenwind wurde stärker, Regen setzte ein, peitschte uns in die Gesichter. Nach einer halben Stunde plötzlich fremde Geräusche vor uns in der Dunkelheit – Rufe auf Holländisch, Knirschen von aneinanderreibenden Bootswänden, Klirren von aufeinanderschlagendem Stahl wie Degen oder Speeren. Der Secretarius zog eine Pistole aus der Jacke, wurde aber vom Bootsführer zurückgehalten … „Der holländische Zoll im Kampf mit Schmugglern – wir ziehen uns ans Ufer zurück und warten ab“. Unser Ostfriese nahm‘s gelassen.

Plötzlich Stille, die holländischen Boote entfernten sich, nach einigen hundert Fuß steuerten wir auf die Strommitte zu, die Geschwindigkeit des treibenden Bootes nahm zu, aber unser Ostfriese beherrschte sein Handwerk und wir landeten glücklich am linken Rheinufer. Regen und Sturm ließen nach, der Secretarius zauberte aus einem einsamen, versteckten Bauernhaus zwei Pferde, die uns nach herzlicher Verabschiedung vom Ostfriesen nach Nijmwegen brachten.

Deiner Phantasie, liebe Doro, überlasse ich nun die Erlebnisse auf der Schiffsreise in mehreren Etappen aus Holland nach Nantes, angefüllt mit anstrengenden Lektionen und der Vermittlung praktischer Anweisungen durch den Secretarius, der sich als perfekter Kenner der französischen Lebensweise herausstellte. Wir trennten uns in Nantes, nicht bevor er mich mit Zufriedenheit über den weiteren Landweg nach Paris, den Plan der französischen Hauptstadt und die Kirchen und Friedhöfe, Theater, Schulen und Restaurants des Gebietes zwischen der Kathedrale Notre Dame und der Kirche Saint-Sulpice examiniert hatte. Der Secretarius riet mir zu einem Diener, das verlange der Status und die persönliche Sicherheit, den sollte ich mir aber erst zulegen, nachdem wir beide uns getrennt hatten.

Ich war nun auf mich allein gestellt, durfte keine Fehler begehen, mußte bescheiden auftreten, ohne knausrig zu erscheinen – ein kleiner elsässischer Marquis mit fast echtem Passport und sehr schlechten Deutsch-Kenntnissen, mit einem etwas ältlichen Diener aus Lothringen namens Guillaume – deine Phantasie ist mal wieder gefragt, liebstes Töchterlein

Nun also Paris – Die imposante, aber sehr enge Porte de Buci nahm mich auf. Der Pass ließ bei den Hütern der Stadtgrenzen keine Zweifel aufkommen, die gepflegten drei Rappen, die nur im Gänsemarsch zwischen den beiden Rundtürmen passieren konnten, und der Diener mit dem reichlichen Gepäck zeugten davon, daß ein junger Herr von Stand der Hauptstadt die Ehre eines längeren Aufenthalts erweist.

Eine Herberge im benachbarten Stadtteil Saint-Germain-des-Prés war nicht schwer zu finden, ein geräumiges, praktisch eingerichtetes Zimmer, Rue Garancière, in der ersten Etage für mich mit Blick auf die Kirche Saint-Sulpice, in der benachbarten Kammer war Guillaume untergebracht. Guillaume, den Diener, schickte ich sofort aus, auf dem Markt vor der Kirche die Pferde zu verkaufen, in der Stadt waren sie nicht von Nutzen und wer weiß, wann wir weiterreisen  würden. Der Hausbesitzer war ein betuchter Perückenmacher, dessen Kundschaft ihn mit dem neuesten Hofklatsch belieferte.

Die oder der Verfasser der Instruction wußten, daß dieser Stadtteil von Paris das Viertel der Freigeister mit akademischer Ausbildung und Hoffnung auf ein Amt in der Kirche oder bei Hofe war.  Tagelang umkreiste ich  Saint-Sulpice, ließ mir keine Messe, keine Taufe oder Hochzeitsfeier entgehen, um die besondere Atmosphäre dieser Gemeinde und ihrer Schulen mit allen Sinnen in meine Seele aufzunehmen. Besonders die Hochzeitskapelle, die sacristie des mariages, hatte es mir angetan – über dem kleinen Altartisch aus weißem Marmor nahm die gesamte Fläche ein über fünf Meter hohes, drei Meter breites Gemälde ein, das die Verkündigung der Jungfrau Maria darstellte („La salutation angélique“ sagte die Metallplakette auf dem Rahmen).

Nur von einem Platz in der letzten Bankreihe der Kapelle, unmittelbar neben der eisernen Gittertür, war ich in der Lage, die gesamte Schönheit des Ölbildes auf mich einwirken zu lassen: im Vordergrund rechts mit ausgestreckten, einladenden offenen Armen die auf einem abgestuften Podest knieende Jungfrau Maria – verklärtes Gesicht, halb geschlossene, nach unten gerichtete Augen, züchtig in blau und weiß gekleidete Figur, langes gelocktes blondes Haar. Dutzende weibliche Engel schweben aus den Wolken auf sie zu, auch ihre Körperformen voll in rot und gelb verhüllt, aber doch sinnlich und erregend – kein männliches Wesen präsentiert uns der Künstler, keinen Gottvater, keinen Herrn der Schöpfung, die Riesenfläche ein farbenfreudiger Hymnus an die Weiblichkeit! Ich entwickle ein Verständnis für die französische Art, sich von der gestrengen Gotik und auch von den formalen Regeln der Renaissance-Geometrie zu lösen: die Anbetung der Frau erfordert einen neuen Bildmittelpunkt – den Schooß der Jungfrau, den Maria durch die Öffnung ihrer Arme dem Bildbetrachter anbietet und auf den die betenden Hände der weiblichen Engelsfiguren aus allen Himmelsrichtungen zielen. Die innere Spannung des Gemäldes, das sinnliche Feuer, das mich zu verbrennen scheint, das mich immer wieder anzieht, so daß ich mehrere Tage lang die Kapelle aufsuche und mich hineinschleiche, auch wenn keine Trauung stattfindet – die Entschleierung des fraulichen Körpers, ist es das, was die Kunstwelt Barock nennt?

Am dritten Tage entdecke ich am Ende der Trauungszeremonie in der Bank vor mir einen jungen Mann, den ich hier schon gesehen hatte und der vermutlich auch durch das Altarbild gefesselt war. Schwarz gekleidet, vermutlich nur wenig Jahre älter als ich, die Attribute eines Abbés offen zeigend, ohne Bezug zu den zeremoniellen Abläufen in der Kapelle, blickte er unverwandt auf das Bild, ab und an zeichnete er esquisses in ein mitgebrachtes Heft – ließ aber auch seinen Blick dann und wann zu den Gewölben über uns und zu den schmalen hohen Fenstern mit ihren Glasmalereien schweifen – und entdeckte am Ende auch mich, nickte mir freundlich zu, denn er hatte mich als einen seelenverwandten „Dauerbesucher“ und Kunstliebhaber erkannt. Neugierig folgte ich ihm beim Verlassen der Kirche, wir stellten uns einander vor und er – der Ältere –  lud mich zum Essen in das nahegelegene „Anne de Bavière“ ein – du wirst es nicht glauben, so entstand schon in den ersten Tagen meines Paris-Aufenthalts eine für mich wertvolle Freundschaft, von deren Erinnerung ich heute noch participire. Mein neu gewonnerer Abbé-Freund riet mir zu einer nochmailgen Besichtigung von St. Sulpce, da könne er mir ein anderes Gemälde präsentieren – stärker vielleicht im Eindruck als das erste:

Er hatte recht – die Impression war stark.

Das Bild war nicht betitelt, aber meinAbbé meinte, es wurde von der Kirch-Gemeinde „Die Erscheinung des Erlösers vor der Heligen Maria Magdalena“ genannt und von den Frauen besonders verehrt, mit Blumenkränzen verehrt und nach den Messen mit Gesängen bedacht. Der „extra-ordinaire“ Wert des Gemäldes sei auch daran zu erkennen, daß Eingeweihte wie er durch einen geheimen Zugang über eine nur ihnen bekannte steinerne Treppe von der Nebenstraße zu der Kapelle gelangten, in der das Bild hängt – über das Geheimnisvolle in der Person der „Madeleine“ sollte man sich doch austauschen !

Mein neuer Vertrauter war von Adel: mit vollem Namen François Joachim de Pierre de Bernis, hatte die Jesuitenausbildung und das Priesterseminar von Saint-Sulpice vor Kurzem erfolgreich mit der Berufung zum Abbé abgeschlossen. Geboren im Todesjahr des Königs Louis le Grand – 1715 – war er nun schon 23 Jahre alt und harrte der Dinge – den Ruf in ein höheres Amt der Kirche. Da er sich aber mit den Autoritäten bei Hofe durch kritische Schriften und frivole Poesie verkracht hatte, ließ der Ruf auf sich warten. Sein Vorbild sei der ebenfalls durch die Bildungseinrichtungen von Saint-Sulpice geprägte Bischof Fenelon, was mich nicht überraschte, da ich mir in den Gesprächen mit dem Zoll-Secretarius die Lebensläufe der berühmten Absolventen des Priesterseminars und Collège Louis-le-Grand eingeprägt hatte.

Ohne die Verwunderung über diesen Zufall sichtbar werden zu lassen, lauschte ich den Liebeserklärungen des Abbé an jenen Mann der Kirche und der Poesie François Fénelon, dessen Dialoge über die Beredsamkeit, dessen Roman über Telemachos, des Sohnes des Odysseus und dessen bemerkenswerte Essais über das Kräftegleichgewicht in Europa ich schon im Kloster Berge auf Französisch lesen durfte – unbewußt eine guter Einstand in diese Reise.

Hier an dieser Stelle, liebstes Töchterlein, kann ich es mir nicht verkneifen, deinen Josias dafür zu loben, daß er schon in einer seiner ersten wissenschaftlichen Arbeiten, der Bearbeitung und Übertragung ins Deutsche des weithin debattierten „Versuch über den Platonismus der Kirchenväter – Le platonisme devoilé …“ des Matthieu Souverain, sich gründlich mit den französischen Theologen Pierre Daniel Huet, Jean le Clerc und Pierre Jurieu auseinandersetzt, deren Schriften in meinen damaligen Gesprächen mit dem Abbé tagsüber und nächtens nicht fehlen durften .

Theologisch träumte mein Abbé-Freund davon, ein zweiter Blaise Pascal zu werden, zu dessen Grabmal in der Kirche Saint-Etienne-du-Mont de Paris er mich an einem der ersten Tage unserer Bekanntschaft schleppte. Wie er selbst war Blaise ein frühreifes Kind, liebte die Naturwissenschaften, vor allem die Mathematik, strebte nach praktischen Anwendungen z.B. Rechenmaschinen, unterwarf sich aber – gläubig obwohl nicht übertrieben fromm – aus taktischen Gründen den Normen der Kirche. Pascals Vater hatte die außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten seines Sohnes früh erkannt und dessen Ausbildung selbst übernommen.

Wir tauschten gegenseitig Erlebnisse über die frühe Jugend aus, François interessierte sich sehr über das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen in “meiner Heimat“, dem Elsaß, ich war gebannt von seinen lebhaften Schilderungen über seine Familie, über seinen Vater und das Emporkommen seiner Brüder in der Hierarche der Kirche.

Beeindruckt war ich vom Leitspruch seines Vaters: „Lerne zu gehorchen, doch vergiß nicht, daß du nicht dazu geschaffen bist, irgend jemandes Knecht zu sein!“

Noch stärker war ich gefangen von den Proben seiner Dichtkunst, die er beim guten Burgunderwein zum Besten gab – er sitze gerade an einem längeren Gedicht unter dem beinahe ketzerischen Titel „La religion vengée“, der ersten Gesang habe er vor einigen Tagen vollendet – es wäre ihm eine Ehre, ihn mir zu widmen. Lächelnd vertraute er mir an, nicht nur in Paris sondern in ganz Frankreich den Ehrennamen eines LIBERTIN, eines Freigeistes anzustreben. Sein Vater wäre darüber nicht glücklich, aber im Visier habe er solche Bekanntschaften wie den europaweit anerkannten Diplomaten und Kardinal Melchior de Polignac, – um sich und hinter sich einen Schweif von Verwandten und Schmeichlern, die um ein Amt buhlten – manche darunter würden sich nicht am Ruf eines Freigeistes  stören, sondern eine frische Brise geistiger Erneuerung durchaus begrüßen. Ich wagte, ihn nach Wünschen oder auch schon bestehenden Plänen in Bezug auf höhere Kirchenämter zu fragen – er zögerte, verriet mir aber, daß er aus dem Umfeld seines Onkels gehört habe, daß man sich ihn als Domherrn von Brioude in der Auvergne mit etwas Einkommen, auch als Assistent des Bischofs von Clermont vorstellen könne, vorausgesetzt, er werde in nächster Zeit einen umfassenden wissenschaftlichen Essay zum Wirken des großen Sohnes der Auvergne, Blaise  Pascal, herausbringen.

Sein Traum aber wäre Lyon, wo eine Vakanz in der Kathedrale bevorstehe – verbunden mit dem bedeutenden klerikalen Ehrentitel eines Grafen von Lyon. Er nahm mir den feierlichen Schwur des absoluten Schweigens ab, wenn es soweit wäre, würde er mich mit Freude an die Brust drücken und alles in seiner Macht tun, mir auch derartige Dienste zu erweisen – die Gründung und Finanzierung eines Buchverlages.

Die Freundschaft ließ sich also gut an – plötzlich ein Schrecken: François fragte mich nach meinen Vorlieben für guten Elsässer Wein aus: diese Frage hatten wir bei der Vorbereitung nicht auf dem Lehrplan. Ich konnte mich mit dem Hinweis auf ein Gläschen Gewürz-Traminer fürs erste herausreden, hatte aber in den nächsten Tagen Mühe, in Paris in den Boutiquen Proben der „heimatlichen“ Weine zu finden. Der Traminer sagte mir mehr zu als die jeglichen Aromas mangenden trockenen Weißweine wie die PINOTs oder Rießlinge, ich hütete mich aber meinerseits, unsere Gespräche in Richtung Wein oder Elsaß zu lenken. Den blumigen, würzig-pikanten Geschmack hatte ich lange nach meiner Rückkehr ins geliebte Preußen auf der Zunge, so daß ich mir mehrfach in Berlin eine Probe genehmigte und ihn später zum Wein der Familie erklärte – woran du mein Mädchen dich gewiß erinnerst. Die Weinberge zwischen Straßburg und Colmar habe ich – Jahrzehnte später aber wieder im Sonderauftrag meines Königs – besucht – tausend Genüsse, die ich jedem nur empfehlen kann – insbesondere jenes Traminer-Heimatdorf Equisheim bei Colmar. Über diesen Auftrag aber darf ich nichts sagen und nichts schreiben, denn das Geheim-Treffen damals in Colmar mit einer gewissen Person, der es inzwischen zum französischen Außenminister und Kardinal gebracht hatte, ist zu nahe an der Gegenwart, an der für Preußen siegreichen und für Frankreich schicksalhaften Bataille von Roßbach und  Du als denkende Person kannst 1+1 zusammenzählen und weißt, von wem ich rede.

Das Elsaß und die Traminer-Weinberge – Das wäre etwa für dich und Josias, wenn die Kinder etwas größer sind. Übrigens verriet mir unser geliebter Abt des Klosters Bergen, als er mich in die Residenz Berlin entließ, daß er oft ein Gläschen Elsässer Gewürztraminer nach dem Mittagessen zu sich nahm, „um die Verdauung anzuregen“.

(Es gibt auch eine zweite Erklärung zum TRICLINIUM – hat Esaias ein erotisches Erlebnis in Paris und hat er der Familie ein schönes Märchen aufgetischt mit Pesne etc.?)

Unwillkürlich erinnere ich mich während der Abende mit François an die Anekdoten, die mir der Zoll-Secretarius im Schlößchen von Emmerich über jene Katharina erzählt hatte, die den König von Preußen im Lotterbett durch Liebeskünste dazu brachte, ihren Ehemann zum Reichsgrafen von Wartenberg zu machen und schließlich zum preußischen Premierminister zu bestellen. Die Welt ist klein, die Wege zum Ruhm, zum großen Geld, zur Herrschaft sind überall die gleichen. Je besser ich François kennen lerne, desto mehr traue ich ihm zu, kluge, strategisch denkende Frauen in seine künftige Laufbahn einzuplanen. Aber das konnte ich beileibe nicht mit ihm bereden!

Die Tage und Wochen von Paris vergehen wie Nichts zwischen Besuchen von Kirchen, langen Abenden in den Salons der Damen von Stand mit ihrem Geplauder über die letzten Entwicklungen der Liaisons auf hoher und höchster Ebene, Ausflügen auf dem Land.

Ich lerne schnell: Hier im Umkreis der Pariser Kirche Saint-Sulpice wachsen sie heran, erhalten sie die nötige gediegene Bildung und das Herrschaftswissen, die künftigen Erzbischöfe und Kardinäle, Staatssecretaire am Hofe des Königs von Frankreich, die über Krieg und Frieden, Bündnisse und Gegenbündnisse entscheiden werden, über die Balancen und Gleichgewichte im europäischen Mächtespiel. Zum Studium dieser Regeln und künftig handelnden Personen hatte mich der Kronprinz hierher gesandt. Ich würde ihn nicht enttäuschen.

François wird zu meinem Exempel, an dem ich meine Lektionen abarbeite – ich leihe dem Abbé und Poeten Geld, kaufe ihm auch Manuskripte ab, u.a. eine Kopie des unveröffentlichten Poems „Die strafende Religion“, schenke ihm unter Vorwänden Geld und Schmuck, – mehrfach – nicht zum Spielen, sondern um schönen Frauen wertvolle Geschenke zu machen, um sich in die Kreise einladen, denen er später die geistlichen Ämter zu abkaufen wird und ihm eine Reise nach Turin zu ermöglichen, zu der er mich als Begleiter einlädt. Wir streifen über die Märkte, wühlen durch die Berge von Büchern, suchen nach kleinen Geschenken für den anderen, machen uns gegenseitig aufmerksam auf interessante Drucke, Schmuckstücke, Stadtpläne und Landkarten. Ein Händler unter einem Sonnendach am Ufer der Seine bietet Holzspielzeug, Münzen aus fremden Ländern und allerlei Lustbarkeiten an – auch Spielkarten, auf die mich François hinweist. Ich folge ihm in den letzten Winkel der Auslage und François greift nach einem Packen, um es mir zu schenken. Nach dem Bummel erklärt er mir bei Rotwein und gutem Käse, welche Bewandtnis es mit diesem Satz Spielkarten hat: es ist das bekannte LICORNE-JEU, das Einhorn-Spiel, das wir in Deutschland nicht kennen.

ZUNEIGUNG – gegenseitige Faszination – liebe zu historischen Karten z.B. Nicolas de Fer u.a. Casale auf dem Weg von Turin nach Venedig, die Karten sind Beilage des Berichts der Reise von 1738

In einer stillen Abendstunde hatte mir François die Beweggründe seiner Reise nach dem piemontesischen Turin ausführlich dargelegt: seit den Zeiten des großen Heinrich IV. sei die Region Piemont-Savoyen der Drehpunkt der europäischen Politik, dynastische Kriege und Heiratsvermittlungen wechselten einander ab; Bourbonen, österreichische und spanische Habsburger, Piemonteser und Savoyarden setzten alle legitimen und illegitimen Mittel, militärische und geheimdienstliche Instrumentarien ein, um sozusagen „aus den Wolken“, aus den Alpenresidenzen und Bergfestungen die Geschicke Europas mitzugestalten.

Wir reisten auf dem Landweg. Zu meiner Verblüffung ging es zunächst nach Norden,  die erste Nacht verbrachten wir in Amiens. Eine gelungene Überraschung – die Kathedrale erwies sich als geräumiger und sogar höher als die von Notre Dame von Paris. Staunend erfuhr ich, dass ein entfernter Verwandter von Francois hier Domherr war, er führte uns am nächsten Morgen drei Stunden in die Geheimnisse der Architektur und der politischen Geschichte dieses Schmuckstücks der Picardie ein. Mit Verschwörermiene geleitete er uns in ein sogfältig verschlossenes Zimmer hinter der Sakristei, öffnete eine auf den ersten Blick nicht sichtbare Tür in der Täfelung und legte einige Holztafeln mit farbenfreudigen Gemälden auf den Tisch. Mittelalterliche Themen, die strahlende Jungfrau Marie mit Jesuskind und sogar einem Einhorn, LA LICORNE, wie der Chanoine stolz erklärte.

Nun vom Norden zum Süden – über Versailles, Clermont, Lyon, Chambéry. Ein Hauch von Luxus umgab uns in der gemieteten Kutsche auf der ersten Etappe nach Versailles – ein Gefühl wie im eigenen Salon, reichlich zu speisen und zu trinken. Zwei Übernachtungen leisteten wir uns im schloßnahen Städtchen, dann war das Budget aufgebraucht.

Vor uns lag die Überquerung der bekannten Alpenpässe am Mont-Cenis, wo auf den Gipfelhöhen auch im Sommer noch Schnee und Eis von den letzten Wintern liegen. In Lanslebourg, dem letzten Ort vor dem Pass mieteten wir drei Esel. In der Ferne grüßte der  farbenfreudige Bergsee von Mont-Cenis, von dort gab es schon seit dem Mittelalter einen vielbenutzten Pass nach Savoyen, Piemont und Italien. Der ausgefahrene Weg für die Wagentransporte und die Post führte auf der Ostseite des Sees entlang – etwa zwei Kilometer, dann begann der Serpentinenaufgang bis zum Pass, wo die Grenze verläuft.

Vom Hauptweg zweigte am Nordende des Sees ein schmaler Pfad ab, der am Westufer verlief und nach einer Steigung quer über mehrere Bergweiden unterhalb der letzten Serpentine auf den Hauptweg noch vor Erreichen der Grenzmarkierung zurückführte – vermutlich eine Schmuggler-Route.

Wir begannen den Aufstieg zum Pass unterhalb des Gipfels – Jeder Meter Höhengewinn, jede neue scharfe Biegung des engen Steges veränderte den Blick auf das hinter uns liegende Tal, verwandelte die Farben des Himmels und ihre Spiegelung im See, ließ aus hellem Himmelsblau und dem Nadelgrün der Kiefern und Sträucher ein dunkles Violett werden und aus dem Gelbgrün der Blütenfelder hinter den Almwiesen Töne zwischen Türkis und Orange. Unsere Lobeshymnen auf die Wunderwerke der Schöpfung des Herrn überboten sich – ein Anlaß für stundenlange theologische Gespräche, bis wir erschöpft auf dem Gipfel des Mont-Cenis in das weiche Gras sanken. Für einen katholischen Priester erwies sich mein Gesprächspartner als wenig orthodox, der jesuitischen Dogmatik abgeneigt – insbesondere wenn es um die verhängnisvolle  Rolle der Kirchenväter, die Stellung der Frau in den christlichen Urgemeinden und auch um die Poesie in den Liedern und Psalmen des Alten Testaments ging. François führte Persönlichkeiten an, die zwei Generationen vor ihm Absolventen vom Priesterseminar Saint-Sulpice waren und heute seine Vorbilder für soziales und kulturelles Wirken sind: Fenelon, Nivers, de la Fosse, Montfort. Hier wurde mir klar, daß mein Kronprinz von Rheinsberg diese Personen kannte und mich deshalb in die Nähe des Pariser Seminars schickte: Friedrich sucht Gleichgesinnte seiner Generation als Absolventen von Saint-Sulpice.

Sieh‘ an, dachte ich bei mir, der kleine Abbé, wie er sich auskennt in der hohen Politik, in der Geschichte der weit verzweigten Dynasten in diesem Grenzgebiet von Italien und Frankreich. Noch mehr erstaunte ich, als er mir in allen Einzelheiten die Meisterwerke des großen Festungsbau-Ingenieurs Vauban erläuterte. Er muß es mir wohl an der Nasenspitze angesehen haben, wie sehr mich seine Kenntnisse verwunderten – kurz, er schlug eine Änderung unsrer Reisepläne vor – anstelle stracks nach dem Erreichen des Gipfelpasses weiter auf dem kürzesten Weg in Richtung Turin zu fahren, könnten wir doch Vaubans Perle der Bergfestungen Mont Dauphin besichtigen. Diese Steine müsse ich unbedingt anfassen!

Angekommen in Montdauphin nach einer sehr beschwerlichen Tour durchs Hochgebirge beschaffte sich François im Pfarrhaus die Schlüssel zur Kirche. Eine kräftige, schöne junge Frau mit schwerem Busen und breiten Hüften schloss uns die Eichentür von „Saint Louis“ auf, das Innere der geräumigen Kirche war von drei Seiten gut ausgeleuchtet, kein Wunder bei den hohen durch keinerlei dunkle Glasmalerei in seiner Wirkung behinderten Fenstern.

Die junge Frau war vermutlich die Geliebte des Priesters,  offiziell seine Hausangestellte und Köchin, vermutlich auch die Mutter mehrerer Kinder des Priesters – Wir sind in der tiefsten Provinz– und wir sind in einer Region in der bis heute die einfachen, familienbezogenen, urchristlichen Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben auch für Priester noch aus der Zeit der Katharer und anderer Ketzerbewegungen Gültigkeit haben.
François war angezogen von dieser Frau – das spürte ich vom ersten Augenblick an. Ich wagte es nicht, ihn darauf anzusprechen aber ich sah es deutlich an seinen begehrlichen, der Frau sehr zugeneigten Gesichtszügen und der Art wie er sich ihr immer wieder näherte, um sie und ihre drei Kleinen herumscharwenzelte.  Verwunderlich, aber erklärlich, wie mein Abbé-Freund stets  aufs Neue gegenüber der reizenden jungen Mutter, die übrigens sogar Madeleine hieß,  von der Familie Christi, von der Liebe der Marie Madeleine und der anderen jungen Frauen aus der Schar der Jesus-Anhänger zum Heiland und der Nächstenliebe sprach und in den Begriff Nächstenliebe sehr deutlich auch das verbotene „Begehren des Nächsten Weibes“ heraus zu hören war.  

Als der Priester zu uns stieß nahm das Gespräch eine Wendung hin zu Architektur, Baugeschichte und der vollständigen Abhängigkeit der Gemeinde vom Militär. Der Priester meinte, daß Vauban ganz planmäßig die wenige Seelen umfassende Gemeinde aus dem Dämmerschlaf gerissen habe mit seiner Entscheidung, im gesamten Gebiet der französischen Alpen zur Abwehr von Angriffen aus Piemont oder Mailand nur eine einzige befestigte Stadt neu anzulegen und das sei eben Montdauphin geworden.

Bis heute sei man mit den Bauarbeiten nicht fertig geworden – der Kirchenbau, das heißt Chorgebäude und Glockenturm stehe überhaupt erst dreißig Jahre, man rieche den frischen Mörtel förmlich!  Vor allem nach dem Tode des Sonnenkönigs – was er mit einem bedrohlichen Unterton sagte – sei das Militär zunehmend rücksichtsloser gegenüber den Menschen dieser Berg-Region geworden. Die Italiener seien zu schwach um Feinde zu sein – er sagte nicht Italiener – er sagte Genuesen, Mantuaner, Mailänder. Überhaupt sei die Kirche den Prinzipien des Militärbauwesens in ihrer maßlosen Geräumigkeit, in ihrer Schmucklosigkeit geschuldet. Vauban sei eben kein Mann der Kirche gewesen, sondern ein Mann des Geldes, der Architektur und natürlich auch der Feder.

Dennoch müsse man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen – er wird wohl auch zuständig gewesen sein für die Auswahl der Heiligen von denen man fünf auf Podesten an der weißen Putz-Wand hinter dem Altar aufgestellt hatte und zu denen ganz links außen in der Nähe des Taufsteins er auch Ludwig den Heiligen auswählte, den Namenspatron des Gotteshauses.

Der Priester, begleitet von Haushälterin und Kindern, bat uns nach draußen, verschloß die Tür und zeigte uns an der Dachkante eine steinerne hochaufragende Figur, die er pot-à-feu nannte. Francois nickte beifällig, sie unterhielten sich über die seltsame Art wie ein Teil einer militärischen Festung – eine Mischung von Urne und Flammen – auf das Dach eines einer Kirche gelangt war. Ich verstand nichts, ich wusste nicht was ein pot-à-feu war, konnte natürlich meine Unkenntnis des Französischen nicht öffentlich machen – bis heute kann ich mit dem Begriff nichts anfangen. Auch die preußischen Festungs-Ingenieure konnten mir diesen französischen Begriff nicht erklären, sie konnten mit der Direktübersetzung Feuertopf nichts anfangen. Einer rätselte herum und bot als Erklärung an es sei ein Gefäß in dem die Artilleristen das Feuer aufbewahrten an dem sie die Lunten ihre Kanonen immer wieder neu entzündeten. Und dann, eines Tages bei einem Spaziergang in Potsdam traf ich einen Zeichner in dessen Skizzenblock sich architektonische Bauelemente der Potsdamer Schlösser, Pavillons, Denkmäler fanden, auch ein Feuertopf. Ich fragte ihn nach der Bewandtnis und er antwortete das sei ein Merkmal des barocken Baustils: Aus steinernen Vasen, Urnen, Feuertöpfen und Kerzenständer erheben sich Flammen, die Symbol des ewigen Lebens. Am nächsten Tag zeigte er mir den Auszug aus einem französischen Buch über die Ästetik des Barock:

„Le pot à feu est un ornement architectural composé d’un vase en pierre en ronde bosse surmonté d’une flamme.

Ce motif, utilisé surtout à partir du xvie siècle, se retrouve principalement dans l’architecture classique et dans l’architecture baroque ; il est inspiré de pièces d’artifice en forme de pot et remplies de fusées. Il est habituellement placé en amortissement.

Dans l’art funéraire, il désigne l’urne à flamme, appelée aussi torchère ou cassolette, vase d’où jaillit la flamme éternelle du souvenir.

Le pot à feu dans l’architecture baroque religieuse

Dans l’architecture baroque religieuse, les pots à feu sont fréquemment utilisés pour sommer les frontons à volutes qui couronnent les façades des églises baroques.

France

En France, on peut admirer des pots à feu sur les façades de la cathédrale Sainte-Marie-de-l ‚Assomption à Vaison-la-Romaine et de l’abbaye de Saint-Michel en Thiérache dans le département de l’Aisne.

Le pot à feu dans l’architecture baroque civile

À la même époque, les pots à feu sont également utilisés dans l’architecture baroque civile : ils ornent le fronton de plusieurs maisons baroques de la Grand-Place de Bruxelles ainsi que la cour de marbre et la cour royale du château de Versailles, où on n’en compte pas moins de cinquante-huit. On en trouve également sur les bâtiments qui entourent la place Stanislas à Nancy. Ils sont également l’ornement des toitures de l’Hôtel-Dieu de Carpentras, où l’on peut en voir six posés au-dessus des rambardes.

Le pot à feu dans l’architecture classique

L’architecture classique recourt également à ce motif ornemental mais de façon plus variée : à l’abbaye de Parc à Louvain, les pots à feu ornent le portail et le clocher alors qu’à la cathédrale Saint-Aubain de Namur, ils décorent les parties latérales de la façade.

En architecture militaire, il est très utilisé avec pièce d’artifice.”

Doch zurück zu Vauban und seinen Alpenbefestigungen.

Sei es wie es sei, nach dieser kurzen Debatte zwischen François und dem Priester wanderten wir die verschiedenen Punkte der Festungsanlagen ab, die Mauern, die Wälle, die Bastionen, das Magazin mit seinen unterirdischen Pulverlagern. Von außen war nun auch verständlich, warum uns der Innenraum des Chores der Kirche einerseits so geräumig erschienen war und der Zugang zum Hauptschiff vermauert erschien: es gab überhaupt kein Kirchenschiff hinter der Mauer, es war den Bauplänen der Festungsarchitekten geopfert worden, was uns bei der Annäherung an die Kirche von der Nordseite entgangen war.

François schien sehr viel zu verstehen von Festungsarchitektur und  Festungsbauwesen, von Belagerungen und Verteidigungen, auch der Priester war wohl belesen in diesen Fragen, so daß diese beiden eine ausführliche Diskussion führten. Ich entschuldigte mich mit bloßer Unkenntnis und auch mit Desinteresse, versuchte aber mir sehr viel einzuprägen über diese Architektur und den damit verbundenen Taktiken der Verteidigung und der Belagerung von Festungen, von Ravelinen, Polygonen, Casamaten, Tenaillen, Caponieren, Sappen, Contre-escarpen.“

Von draußen, vom herzoglichen Park und See dringt Lärm zu mir nach ober unters Dach. Eine KITA-Erzieherin spielt mit den Rangen Verstecken hinter den Büschen. Ich lasse mich gern ablenken – die militärtechnischen Fachbegriffe des 18. Jahrhunderts verursachen mir schon eine ganze Weile einen leichten Schwindel. Der alte Oberkonsistorialrat mausert sich also zum Experten für Festungsarchitektur. Nun begreife ich, dass er doch der Verfasser jenes Handbuchs sein kann, das sich in dem Bündel findet. Ich sehe nach und wahrhaftig – Vauban ist mehrfach angeführt, alle jene Begriffe die Silberschlag im Schreiben an seine Tochter anführt sind zentrale Begriffe in jenem Handbuch. Er hat sich also sein ganzes Leben auch mit der Militärwissenschaft beschäftigt, vielleicht war er sogar auch noch später auf geheimer Mission für seinen König in Frankreich oder anderen europäischen Ländern unterwegs. In Amerika oder Persien wird er ja nicht gewesen sein, diese Zeit hätte ihm seine Tätigkeit in Berlin nicht gelassen. Also sehen wir weiter in dem Schreiben, vielleicht gibt es am Ende noch Hinweise diesbezüglich:

„Zwei Tage gönnten wir uns Ruhe in der Berglandschaft, kühlten die Füße im eiskalten Wasser des Guil, pflückten ein Sträußchen Edelweiß, das der närrische François, eingebunden in drei Zweige der Latschenkiefer, errötend der schönen Haushälterin des Priesters ans Mieder steckte. Er konnte sich nur mit Mühe zur Weiterreise aufraffen.

Das Hochgebirge im Herbst. Wir nahmen uns Zeit zum Genießen dieser Naturwunder. Ewiges, meterdickes blau-graues Eis in den Höhentälern, noch einzelne von den Stürmen niedergedrückte Bäume und Sträucher, Kühe, Ziegen, Schafe, allerlei wildes Getier, verlockende Pilze in den weichen Moosen.

Rechtzeitig vor Einbruch des Winters erreichten wir Turin. Meine Neugier auf diese von Franzosen und Italienern gleichermaßen beanspruchten Residenzstadt war riesig. „Abbé, was bedeutet für Sie die Residenz und Stadt Turin?“ François antwortete nur mit einem Wort auf meine direkte Frage beim Passieren des Stadttores: – „Christine und ihr Geliebter Philippe“. Beim Anblick meiner fragenden Miene steuerte er auf ein kleines Restaurant gleich hinter dem Tor zu und erklärte dem historisch Unkundigen in allen Einzelheiten das komplizierte Beziehungsgeflecht der Dynastien der Bourbonen, Savoyer, Piemontesen, verwies nach jedem dritten Satz auf das politische Ränkespiel der Kardinäle, Erzbischöfe, Weihbischöfe seit der Ablösung der Familie Valois durch die Familie Bourbon auf dem französischen Thron. Da er nach dem ersten Glas Wein immer noch im Allgemeinen schwelgte, kritzelte ich „Chrétienne“ auf die Tischplatte. Er lachte lauthals und beglückwünschte mich zu dieser wie er meinte metaphysischen Logik, die eines Thomas von Aquin würdig sei – Chrétienne sei die französische Urform des Namens Christine, auf den die Tochter des großen Henri IV, des Henri de Navarre getauft worden war, als Minderjährige aus sehr durchsichtigen dynastischen Erwägungen des Kardinals Richelieu verheiratet mit dem herzoglichen Prinzen Victor-Amédée von Piemont, dem sie schon mit 16 Jahren den erwünschten Thronfolger gebar. Der Vollzug der Ehe war reduziert auf die Begegnungen zur Hervorbringung weiterer legitimer Kinder, so daß sich Christine den Grafen, Gardeleutnant, Tanzmeister, Choreographen und Politiker Philipp d‘Agliè, comte de Saint-Martin, zum Liebhaber erkor. Mehr als drei Jahre mußte Philipp, entführt auf Geheiß der Pariser und Turiner Rivalen, hinter den Mauern der Festung Vincennes verschwinden, bevor er aufgrund politischer Veränderungen wieder in die Arme, in das Bett seiner Herzogin Christine und in die Machtpositionen am Hofe zurückkehren konnte.

François‘ Augen leuchteten, diese Herzogin von königlichem Geblüt war sein Idol, ihre Bauten und Gärten in Turin und Umgebung wanderte er mit mir auf und ab – das Schloß Valentino am Ufer des Po, die von ihr angelegten Gärten in den Schloßanlagen von Moncalieri, den vignoble unterhalb des Kapuzinerbergs.

Doro, geliebtes Mädchen, es klingt alles wunderlich, aber mein Gedächtnis arbeitet noch perfect. Ich lege dir einen Bogen aus dem in Hannover um 1740 erschienenen Reisebuch des Johann Georg Keyßler bei („Neuste Reise durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweitz, Italien und Lothringen“, Kapitel XXII und XXIII), in dem er Christines Wirken für Turins Bauten und Gärten ausführlichst beschreibt, aber auch die „vielen Wollüsten und sündlichen Unordnungen“ nicht unerwähnt läßt. Er hebt besonders die Form eines Amphitheaters hervor, in die der Garten e la Vigne gefaßt wurde – von der aber heute nicht mehr zu sehen ist. Er würdigt auch die Anpflanzung solcher Baumsorten in der Alpenregion durch die Herzogin wie Zypressen, Zedern, Lorbeer, Pappeln, Pinien, SCHILF und RIEDGRAS, Platanen, Weißbuchen, Ulmen, Zitronenbäume. Buchsbaumhecken und Spaliere aus verschiedenen Obsthölzern tragen zur abwechslungsreichen Gestaltung der Wege bei, ergänzt durch Fontänen und schattenspendende gewundene Pergola-pfade.  Wie du erkennst, hat der Wanderschreiber Keyßler dort mehr historische Tiefe, wo es auf das Verhältnis der Gartenbaukunst und der Wasserwerke zwischen der italienischen Renaissance, spürbar in den Übernahmen aus Florenz und Neapel, und dem französisch-klassischen Barock ankommt.

Mir scheint, liebste Doro, du bist verwundert über die Ausführlichkeit meiner Erzählung. Aber es ist nötig, damit du meine (und auch Josias‘) strenge weltanschauliche Opposition gegen die erbärmlichen Orthodoxen in Berlin, Halle und auch Frankfurt verstehst. Wir müssen unseren Blick weiten über die Landesgrenzen, aber ebenso über die Grenzen unseres wissenschaftlichen Faches hinaus! Naturkunde, Gartenbau, Weinbaukunde – das sind auch für Theologen und Grundschullehrer unverzichtbare Bestandteile ihres Wissens. Nicht nur die Herzogin Christine und ihre Geliebter Philippe, auch der Mönch, Architekt und Gartenbaumeister Andrea Costaguta waren für François und mich bei den Turiner Spaziergängen Vorbilder eines echten christlichen Verhaltens, einer gelebten Toleranz. À-propos François – der Zufall, der ihn mir in Paris zuspielte, ist wohl kaum mit Gottes Vorsehung auf Leibnizsche Art zu erklären, es war eben Glück! Auch Friedrichs „Sonderbotschafter“ und „Aufklärer“ müssen manchmal Glückskinder sein.

Nun waren wir endlich in Turin angekommen. Die Residenz der Fürstengeschlechter aus Savoyen, Piemont, Sizilien und Sardinien imponiert durch die gelungene Mischung der Baustile, Lebensweisen und natürlich der Speisekarten. Selbst die Burgunder und die jeweiligen dominierenden Fürstenfamilien des Heiligen Römischen Reiches hinterließen seit dem Mittelalter nicht nur den Herzogstitel, sondern auch ihre kulturellen Spuren. Unsere Ankunft fiel in eine Zeit der politischen Unruhen, in die der Friedensvertrag von Utrecht alle bis dahin der spanischen Krone zugehörigen und nun anderen Fürstentümern angeschlossenen sogenannten “Nebenlande“ geschleudert hatte. Dynastische Erwägungen siegten über die geographische Vernunft, in Turin tummelten sich nun seit über zwei Jahrzehnten die offenen und geheimen Agenten aller europäischen Großmächte, um ein ordentliches Stück vom ehemals groß-spanischen Kuchen abzubekommen. Kaum hatten wir die altrömische Porta Palatina passiert, wurden wir von Händlern, Herbergsvätern, umlagert, die ein fettes Geschäft witterten, die Abbé-Bekleidung meines Freundes schien vielversprechend. „Ich sollte schnellstens mein habit tauschen,“ flüsterte François, „hinter uns sehe ich zwei Figuren, die uns nichts verkaufen wollen, sondern vermutlich als Geheimagenten der Habsburger oder des Sultans auf unsere Spur gesetzt wurden. Da ich mich mit Freunden verabredet habe, bin ich nicht an einem neugierigen Gefolge interessiert. Lass uns auseinandergehen, wir finden uns wieder – morgen Mittag in der neuen Kirche auf dem Hügel außerhalb der Stadt, der Chiesa Madonna di Superga, die uns schon von weitem aufgefallen war“.

François kennt sich in der Geschichte aus, unübertroffen wie er die Namen der Fürsten und ihrer Mätressen herunterspult. Erst vor kurzem ist der kunstliebende und verschwenderische König Vittorio Amadeo vom Thron gestoßen worden – übrigens der Schöpfer dieser Kirche -, „zerrieben zwischen den Mühlsteinen der neidischen benachbarten Potentaten und der sehr mächtigen weiter entfernten europäischen Großen – der Engländer, Schweden und neuerdings auch der Russen und Preußen.“ Überraschend für mich war ein Detail, das François preisgab: die Idee jenes Fürsten Vittorio Amadeo, der erst 1714 die Königskrone erwarb – die Zelte seiner Residenz im sizilianischen Messina aufzuschlagen, aber angesichts der unsicheren Zukunft der sizilianischen Besitzungen sich in das angestammte Familienerbe Turin zurückzuziehen und anstelle einer kleinen bescheidenen Votivkirche eine prachtvolle, weithin sichtbare und ausstrahlende Basilika auf dem Berg über Turin bauen zu lassen.

„Mein lieber Louis, Turin ist von der Vorsehung bestimmt, französisch zu werden wie deine Heimat, das Elsaß – sollte mich irgendwann das Schicksal auf einen entscheidenden Posten bei Hofe setzen, werde ich alles tun, die Metropole Turin von den deutschen Bindungen zu befreien.“ Als wir beim Gang durch die Innenstadt am Schloß Valentino angekommen waren, setzte er fort: „Sehen Sie diese wunderbare französische Architektur der Bourbonen! Würde das Ensemble nicht an die Ufer der Loire passen? Lesen Sie alles, was Sie über die Herzogin Christine in die Hände bekommen – die Tochter des großen Henri IV! Ich werde ihr Werk vollenden!“

Das Schmuckstück Valentino: Seine Form verdankt das Schloss jener Herzogin Christine. Die sich von 1633 bis 1660 hinziehenden Arbeiten wurden nach Plänen von Carlo Castellamonte und seinem Sohn Amadeo ausgeführt, die auch für das früh entwickelte, so einheitliche städtebauliche Erscheinungsbild Turins verantwortlich waren. Der Herkunft Christinas entsprechend weist auch der Bau Eigenheiten der zeitgenössischen französischen Architektur auf: die um einen hufeisenförmigen Cour d’honneur gelegte Grundrissanordnung, die turmartig betonten Eckpavillons und die steilen, von Giebelgauben besetzten Dächer. Schmunzelnd formulierte François – wenigstens in der Architektur konnte Christine Rache nehmen für die französische Niederlage vom September 1705 im Spanischen Erbfolgekrieg gegen die Habsburger.

Christine steht für die klugen Frauen jener Periode – als Tochter des großen Henri IV hatte sie Mut, politisches Talent, strategisches Denken – und Erotik – als Waffen der Frau mitbekommen. Ich spürte bei François eine heimliche Bewunderung! Würde er als Mann der Kirche zögern, die Liebe zu den Frauen politisch als Instrument einzusetzen, wenn ihn die Vorsehung an eine entscheidende Stelle der französischen Politik setzt?

Der Blick vom Hügel der Kirche, flocht François ein, war eine gelungene Fortsetzung der Stimmung jenes himmlischen Panoramas am Fuße des Mont Cenis  – die himmlischen Höhen, die Nähe zu den Engeln und zu Gott – François erwähnte sehr oft den großen Heinrich von Navarra,  dessen Herkunft aus der rauhen und göttlichen Hochgebirgslandschaft der Pyrenäen und der Erziehung in den jahrhundertealten religiösen Traditionen der Katharer seine Entscheidungen als französischer Herrscher grundlegend geprägt hatten.

Während François über seine eigenen Erzählungen ins Schwärmen geriet, erfaßte mich unwillkürlich ein emotionaler Sog zurück in die Kindheit, in die väterlich-heimatliche Umgebung der von leichten Erhebungen durchsetzten Ebenen des Vorharzes.

Diese durch die abschmelzenden Eismassen vor Tausenden von Jahren abgeflachten Landschaften des Nordens zwischen Magdeburg, Berlin und Frankfurt haben mich ein Leben lang niedergedrückt, mir den Atem genommen. Wäre nicht der Vater gewesen mit seiner strengen Forderung, jeden Sonntag bei Wind und Wetter, sommers und winters, in die Berge zu fliehen. Doro, du hast den Ascherslebener Großvater noch gekannt, der Arzt, Philosoph und Naturforscher in einem war. Die ausschweifenden Erzählungen des französischen Abbé ließen mich träumen von den damaligen Ausflügen in die Berge, immer schwere Rucksäcke und darin die Hämmer für die Mineralien, die Vater bestimmen konnte. Ich träumte von den Pferden, zuerst hinter den Vater geklemmt, dann auf meinem eigenen Schimmel. Ich träumte von den Panoramasichten von den Bergen bei Ballenstedt, vom Falkenstein, vom Hügel, den man in Flachländer Übertreibung Froser Berg nannte.

Ich beobachtete François, wie er von den Gebirgen sprach. Auch er ist ein Mann der Berge, geboren und aufgewachsen im Süden, an der Rhône im Vivarais an der Ardéche, hügeliges Land mit einigen Vulkanen. Einer seiner Hauslehrer, der später guter Mediziner und Apotheker wurde, entdeckte bei ihm Liebe zur Natur und zur Malerei, sie zeichneten und malten in der freien Natur, gingen in die Berge. Später in Paris bei den Jesuiten fehlten ihm – wie auch mir – die Berge, die Flüsse, die Tiere und Pflanzen der freien Natur.

In einer der historischen Kirchen Turins war mir ein Gemälde aufgefallen, als Hauptfigur die antike Göttin Minerva – sie trug deine Gesichtszüge! Auch wenn du mich einen lieben Schwindler nennst – es ist die reine Wahrheit. Den Künstler habe ich vergessen oder dort in der Kirche nicht erfahren können. Einer der Begleiter deutete die Figur der Minerva als Symbol für jene berühmte Herzogin Christine: in  der Rechten das Schwert der Gerechtigkeit und der militärischen Taktik – müßte um 1630 entstanden sein. Das war jenes schicksalsschwangere Jahr, in dem Christine, die Tochter des französischen Königs regierende Herzogin Savoyens wurde. Minerva ist Symbol des Sieges, der erfolgreichen Staatslenkerin!

François stellte mich zwei Freunden vor, ebenfalls Absolventen des Pariser Collège Louis le Grand und wie er sehr an Architektur und Kunst interessiert, die an der französischen Gesandtschaft beim Heiligen Stuhl als Sekretäre tätig gewesen waren, hier in Turin eine Anstellung suchten, aber bisher erfolglos an den Portalen der Macht angeklopft hatten. Da diese Art der Bemühungen um einen Aufstieg im kirchlichen oder fürstlichen Machtgefüge meine Gefühlswelt arg belastete, verabschiedete ich mich bald unter heiligen Treuschwüren der ewigen Freundschaft in Richtung Venedig.

An Erkenntnissen für meinen Kronprinzen hatte ich aus der Beobachtung der vielfältigen diplomatischen, militärischen, kulturellen Begegnungen am Turiner Hofe, diesem bedeutenden Drehpunkt zwischen Mittelmeer, Kaiserreich, Westeuropa schon nach fünf Tagen genug gesehen und aufgenommen.

(En passant, liebes Töchterchen: Friedrich II zögert trotz Gleichgewichtstheorem und Friedensliebe nicht, angesichts existentieller äußerer Bedrohung Preußens präventiv militärisch zuzuschlagen – 1740 gegen Österreich und 1756 gegen die Koalition Frankreich, Österreich und Russland)

Nun war ich allein – nach den unzähligen Wochen der Gemeinsamkeit mit dem Abbé! – Daran mußte ich mich erst gewöhnen. Entsprechend der Instruction sollte ich ohne weiteren Aufenthalt mit der Post nach Venedig reisen, befand mich aber nun in einem Gewissenskonflikt. Nur etwa 30 Meilen von Turin entfernt lag die Festung Casal am Wege, es war kein Umweg nötig, aber ich nahm mir entgegen der strengen zentralen Ordre zwei Tage Zeit, die in Montdauphin neuerworbenen Kenntnisse über Festungsbau und Festungsarchitektur zu überprüfen – liebe Doro, ich hatte mich in diese Themen verliebt! Die Genialität eines Vauban, die technischen Raffinessen der Offiziere der Génie-Abteilungen, der Sprengstoffspezialisten der französischen Armee hatten mich in wenigen Wochen so angezogen, daß ich mich in meinen Träumen sogar in französischer Uniform sah.

Die Postkutsche lud mich und mein Gepäck am Marktplatz aus, vom Zimmer in der Herberge Zum wilden Schaf sprang mir sofort der Anblick der Festung ins Auge, aber die Erfahrungen von Montdauphin lenkten meine Schritte zuerst in den Dom, um einen geschichtskundigen Priester, möglichst auch mit einigen militärtechnischen Kenntnissen, zu finden. Wieder einmal war mir das Glück hold – ein wohlbeleibter Monsignore erbot sich zu einer Führung am nächsten Morgen – Kirche und Festung für einen Tageslohn.

Der Ort Casale Monferrato, wie er im Italienischen sich nennt, ist schon seit Jahrhunderten städtisch, hier kreuzen sich die Straßen von Turin nach Mailand, von Genua an den Genfer See und nach Luzern, Bern und Zürich. Seit dem Ausgang des Mittelalters ist dieser Platz durch die Markgrafen, später Herzöge von Monferrato beansprucht.

Eine Bemerkung des Abbé hatte ich mir eingeprägt – wenn du Christine, die Herzogin von königlichem Geblüt verstehen wills, mußt du irgendwann neben Turin die Städte Casale, Pignerol und Cherasco besuchen. Und er setzte hinzu: besonders das idyllische Gebirgsstädtchen Casal sei mit dem westfälischen Frieden 1648 zur neuen Drehscheibe der europäischen Verbindungen geworden, da sich durch die Verschiebung der großen Handelsströme weg vom Mittelmeer hin zum Nordatlantik Frankreich und England zu den Hauptakteuren wurden – aus dem Nord- und Westwind wurden Stürme, die sich aus dem Süden nach Nordwesten drehten – in Casal und Cherasco kann man sie riechen!  

(Liebste Doro, jenen Geruch habe ich seitdem in meiner politischen Nase!)
– Und wieso Pignerol? – fragte ich nach.
– Diesen Namen lernt jeder künftige Offizier, Abbé oder Steuereinnehmer schon in der ersten Geschichtsstunde von seinem Privatlehrer!

Nebenbei ließ er einfließen, daß auch Pignerol den Historikern des französischen Königreiches eine Zeile wert ist – die Festung war für den prominenten Staatsfeind Nummer eins des Sonnenkönigs, den ehemaligen Finanzminister Nicolas Fouquet, den Gegenspieler des großen Colbert, Gefängnisort für 15 Jahre – und Brutstätte von Gerüchten in Versailles, Fontainebleau und den Schlössern an der Loire zufolge auch der Aufenthaltsort des berüchtigten „Gefangenen hinter der eisernen Maske“. LOYALITÄT ! Jedes dritte Wort der Erzählungen meines französischen Freundes bezieht sich direkt oder indirekt auf diese Tugend, die ein werdender Staatsmann beherzigen müßte. Illoyalität – diese Untugend brach dem Finanzstrategen Fouquet das Genick, Loyalität – führte die Kardinäle Richelieu und Mazarin und den Politiker Colbert an die Spitze der Staatspyramide Frankreichs – unmittelbar neben die Schlafzimmer der Mächtigen.

Es kommt mir auf dem Almwiesen und vor den Felswänden als Erleuchtung: François ist geleitet von einer fanatischen Ambition – ein neuer Richelieu werden – Kardinal-Premierminister – dazu gehört auch Festungsbauwesen wie Vauban, Finanzökonomie, Studium der Lebensläufe der großen Politiker des 17. Jahrhunderts wie Richelieu, Mazarin, Colbert, Fouquet.

Genug sei es nun mit den philosophischen Reminiszenzen.
Auf Venedig hatte ich mich sorgfältig vorbereitet – ein Quartier im Viertel San Marco mußte ich leider ausschlagen, da man den für die Sicherheit des Dogen und seiner oberen Behörden zuständigen Geheimagenten schon verdächtig vorkam, wenn man sich trotz perfekten Passportes direkt unter ihrer Nase bewegte. Also fügte ich mich der Order meines Königs und logierte mich in einer Gasse mit Blick auf das Meer und die Insel Murano hinter der Kirche San Marziale im nördlichen Stadtteil Cannaregio ein – weit weg von San Marco. In der Nachbarschaft hatte ich das Glück, gleich mehrere kleine Kirchen zu finden. Zwei volle Tage mühte ich mich mit dem Italienischen ab, um die biblischen Texte und die Texte in den ausliegenden Gesangbüchern zu verstehen. Verwunderlich, wie oft ich den Namen Maria Maddalena fand. Ob die Venezianer eine besondere Affinität zu dieser Heiligen haben? Sogar eine der Kirchen des Stadtteils ist nach ihr benannt.

Und da war an einem der nahen Kanäle auch eine Wunsch-Taverna  – nachmittags und abends gut besucht, so daß ich mehr als eine Gelegenheit hatte, Gesichtsstudien zu betreiben, die Gestik und Mimik der Italiener zu beobachten und ihren Gesprächen zu lauschen. Am dritten Tag fiel mir ein junger Mann auf, der nach mir eingetreten war und sich – wie ich – im hinteren Teil der Veranda an einem Nebentisch niederließ. Er schrieb eifrig in einem Heft und – zu meiner Überraschung – fertigte Skizzen von Kirchen an. Er bemerkte, daß ich seine Beschäftigung erkannt hatte und – da sein Blick nicht abweisend war – wagte ich mich ihm zu nähern und ein Gespräch auf italienisch zu beginnen. Er schien nicht abgeneigt, ging dann mühelos zum eleganten französisch über, als er mein Stolpern und Stottern beim italienisch mitkriegte. Er sei ein Bibliothekar aus Innsbruck, der einen braunschweigischen Prinzen begleitete, eine Art Reiseführer, Berater in Kirchen-, Theater- und Museumsdingen. Heute habe er seinen freien Tag, da ginge er seinen eigenen Neigungen nach, da könne er den „Chevalier de la solitude“ freien Lauf lassen! Ich zuckte unmerklich zusammen – das war ein Wort, dass der Kronprinz damals im Gespräch mit mir verwendet hatte, um die Eigenart meines Auftrages zu beschreiben. Ich drang nicht weiter in meinen Tischnachbarn ein, hütete mich, ihn auf deutsch anzusprechen – sollte er doch sein inkognito wahren können, wenn er einer des preußischen Vaterlandes Männer war mit dem Auftrag, mich zu beobachten.

Von der Handvoll prächtiger Kirchen, die ich besuchte, ist mir eine besonders in Erinnerung: die Santa Maria Maddalena in Cannaregio, von den Nenezianern auch kurz La Maddalena genannt. Einer der befraghten Priester klärte mich auf: Spätestens 1155 befand sich an der Stelle der heutigen Kirche ein Oratorium, das sich im Besitz der Adelsfamilie Balbo befand, bzw. an der Stelle der ehemaligen Hausburg, des Castel Baffo. Nach dem Ende eines der vier venezianisch-genuesischen Kriege im 14. Jahrhundert beschloss der Senat, alljährlich Feiern zu Ehren der heiligen Maria Magdalena abzuhalten. Dazu wurde das Gebäude erweitert und ein Turm angefügt, aus dem später ein Campanile wurde. An der Außenseite der Apsis befindet sich eine Madonna mit Kind aus dem 15. Jahrhundert. Das Portal erinnert an die Balbo und spielt wahrscheinlich auf deren Rolle im Templerorden an. Um 1701 wurden die Altäre auf Veranlassung des Gemeindepriesters Francesco Riccardi umgebaut. Als der Priester mein besonderes Interesse an Malerei und Bildhauerei bemerkte, vertraute er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, wie glücklich ich mich schätzen durfte, einer der letzten Besucher der Kirche zu sein, werde doch in den nähsten Moinaten der gesamte Innenraum gesperrt! Kein Besucher, kein Mann der Kirche, kein Mitglied der Gemeinde werde eingelassen – der große Giandomenico Tiepolo habe sich diese Bedingung ausbedungen, wenn er in den nächsten Jahren rechts neben dem Eingang im Innenraum ein Gemälde zum Thema „Das Letzte Abendmahl“ eigenhändig anfertigen werde. Liebste Doro, fahre mit Josias und den Kindern nach Venedig und denke an mich, wenn du dieses Meisterwerk bewunderst !

Am dritten Tag – liebste Doro, du kannst mich verstehen – siegte die Neugier, der Leichtsinn über die Vorsicht und über die Instructionen, mit Hilfe des Herbergswirts mietete ich ein kleines Boot, ließ mir von ihm eine grobe Skizze der Kanäle zeichnen und startete am frühen Morgen verwegen eine Erkundungstour auf dem Wasser. Das Rudern und Steuern des Bootes bereitete mir keine Schwierigkeiten, ich war kräftig, konnte mich nach der Sonne orientieren und hatte bald einen der größeren Kanäle erreicht, wendete mich westwärts und bog nach Süden in eine der Rio genannten Hauptgewässer ein. Der Name der sehr breiten Wasserstraße war Rio de Calle Foscari, wie mir ein Schiffer unterhalb einer Brücke verriet und auf das am Wasser gelegene Palais zeigte, von dem der RIO seinen Namen hatte. Ich steuerte in diese Richtung, ließ mich aber von der Ansicht eines schlanken Campanile über den Dächern der hier sehr niedrigen Uferhäuser zum Abbiegen in einen wieder nach Südwesten abgehenden Seitenkanal verleiten. Plötzlich hatte ich die Orientierung verloren, meine Skizze konnte auch nicht helfen. Der Ausweg war: am linken Ufer an Land gehen in der Nähe einer Brücke, den Kahn an einem der Pfähle fest machen und die Lage zu Fuß erkunden. Ich suche jenen Kirchturm, aber die Häuser am Kanal sind verschlossen, doch da ist eine Ruine, durch die ich zwischen den Häusern durchschlüpfen kann und auf einen großen grünen Platz gelange – und da ist mein Kirchturm! Und da ist auch eine nur angelehnte Kirchentür, aus der gerade ein Priester und eine ältere Frau treten – vermutlich nach der Beichte. Sobald sie in der nächsten Gasse verschwinden, nutze ich diese Tür zum Eintritt in die Kirche – zuerst unsicher, es ist sehr dunkel, keine Beleuchtung, ein stechender Schmerz zeigt an, daß da eine Bank steht, aber eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite zeigt den Weg, er führt in einen Innenhof.

Ich bin geblendet – es eröffnet sich mir ein gotischer Kreuzgang von unerhörter Schönheit. Da werde ich hart von drei Seiten gepackt und zu Boden gedrückt – über mir stehen kräftige, in Schwarz gekleidete Burschen, die mir schweigsam Arme und Beine binden, einen stinkenden schwarzen Lappen auf die Augen drücken, mich als Bündel am Boden einige Meter schleifen, dann in ein Loch stoßen, so daß ich sehr schmerzhaft auf den Boden eines vermutlich unterirdischen Gelasses aufschlug. Hier erwarten mich andere brutale Burschen, durchsuchen mich – begleitet von Schlägen – nach Waffen, nach Geld, nach Papieren – erfolglos, sie finden im abgetragenen Gürtel die sorgfältig eingenähten Golddukaten nicht. Die Kerle beginnen mich auszufragen, aber ich kann ihr venezianisch gefärbtes Italienisch nicht verstehen, sie mein Französisch nicht. Sie stellen mir eine Kanne Wasser in den Raum, verschließen ihn und lassen mich im Finstern.

Als die Grobiane am nächsten Tag wieder auftauchen, hatten sie Fackeln in der Hand, legten mir die Augen frei, so daß ich eine ältere Frau in Ordenstracht in ihrer Begleitung sah, die gebrochen Französisch sprach und mir begreiflich machte, dass die Burschen zu meinem Schutz aufgetaucht wären und ich ihre Protektion durch eine anständige Summe Geldes vergüten solle. Da sind sie also, die berüchtigten Räuber Italiens, die mir ans Leder wollen, die auf mein Geld aus sind, die mich also für vermögend halten. Was soll ich tun? Ich gebe ihnen den Namen meiner Herberge, sie sollten sich nach meinen Vermögensverhältnissen erkundigen – die bescheidenen Mittel meines Unterhalts werden ihnen dann sicherlich aufgehen, damit auch die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens, mir etwas abpresssen zu können.

Die nächsten zwei Tage geschah nichts. Man brachte mir angeschimmeltes Brot und dünne Suppe, dazu wüste Beschimpfungen und Prügel. Am dritten Tag wandelte sich die Szenerie – man führte mich durch die Tür und einen längeren Tunnel in die Krypta, die Treppe hinauf in das Kirchenschiff, das nunmehr durch einige Kerzen schwach beleuchtet war, man setzte mich an eine reichlich gedeckte Tafel; anstelle der Grobiane bewirteten mich nun gut gekleidete Diener, die nun auch zu meiner Verwunderung ein verständliches Französisch sprachen. Man möge doch die Verwechslung verzeihen, einer ihrer Kirchendiener habe mich für einen Dieb gehalten und mich mit seinen Kumpanen entsprechend behandelt. 

Mitten in ihrer blumigen Erklärung flog das Portal auf, ein Herr von Stand mit einer Gruppe Bewaffneter schritt majestätisch auf mich zu, nahm meine Hände und führte mich unter wohlgesetzten Reden ins Freie zum Kreuzgang. Die plötzliche Helligkeit, der Duft der Blumen, der vom Kanal kommende Lärm der Händler und die Rufe der Gondelführer überwältigten mich. Da mich keine Macht der Welt in die Dunkelheit meines Kellergewölbes zurückbringen sollte und ich auch das Halbdunkel des Kirchenschiffes fürchtete, wurde der Tisch mit den Leckereien inmitten der Blumenwiese des Kreuzgangs aufgestellt und der elegante Herr erklärte mir und den nunmehr so höflichen Räubern die neue Lage.

Ich verstand nur soviel, daß er der Conte di Ragusa und ich ein in Frankreich studierender Neffe sei und er sich Vorwürfe mache, mich bei diesem Venedig-Besuch nicht genügend beaufsichtigt habe, so daß ich in meinem jugendlichen Ungestüm in diese mißliche Situation geraten sei. Der Vorsteherin des Ordens, die inzwischen herbeigeeilt war, überreichte er einen Geldbeutel zur Unterstützung der Armen und Bedürftigen, wie er salbungsvoll formulierte. Unter derartigen gegenseitigen Versicherungen und körperlichen Verdrehungen, angesichts derer ich mit Mühe ein Lachen unterdrücken konnte, verging fast eine Stunde, das Glockenspiel mahnte uns zum Abschiednehmen, als Unruhe am Portal der Kirche aufkam und die bewaffnete Wache meines Retters sich zu unserem Schutz postierte. Drei Männer wurden hereingeführt, die ein Paket trugen und uns um ein vertrauliches Gespräch baten. Die Mutter Oberin bot ihr Kabinett an und unter dem Schutz unserer Wache verhandelte der „Graf von Ragusa“, der mich als seinen persönlichen Berater hinzuzog, mit zweien der Neuankömmlinge. Zu viert begannen wir – bei Wein und venezianischen Delikatessen – Verhandlungen über Kauf und Verkauf von Dingen, die mir niemals vorher in den Sinn gekommen wären: gestohlene und über die Grenzen geschmuggelte Kunstgegenstände! Für meinen „Grafen“ schien die Situation nicht außergewöhnlich, er bat nur um das Französische als Verhandlungssprache, was uns gewährt wurde. Die beiden „Kaufleute“ öffneten das Paket und wir konnten ihre „Waren“ bewundern – sie entrollten bemalte Leinwände und Holztafeln, öffneten Schatullen mit wertvollem Schmuck, entnahmen kunstvoll gestaltete Bücher aus dicken Stoffverpackungen und antike Münzen aus besonders dafür angefertigten sicheren Behältnissen. Der Graf bat mich, mir die Gemälde auf den ausgerollten Leinwänden anzusehen und sie auf Echtheit zu prüfen, er schien Gefallen an dem Geschäft zu finden.

Lustlos betrachtete ich ein Stück nach dem anderen, das Übliche, was ich in Paris und Turin gesehen hatte – gotische Madonnenbilder, die Heiligen, die gewöhnlichen biblischen Themen. Doch da war etwas – ich blätterte zurück – da ist die mittelgroße Leinwand mit dem Bild der reuigen Maria Magdalena, dunkel gehalten, sinnlicher Ausdruck, lange über die Schultern herunterfließende Locken, dahinter ein großer roter Vorhang, ein wertvoller Spiegel an der Wand und das zerbrochene Gegenstück auf dem Boden – man beachte die Symbolik – sowie der teure Schmuck, verstreut auf dem Tisch und am Boden! 

Du weißt, liebste Doro, da ich seit meiner Kindheit über ein bewundernswertes Bildgedächtnis verfüge, wie mir mein Vater immer wieder versicherte. Was irritierte mich an der Leinwand? Nicht daß es sich um eine schlechte Kopie handelte, die man uns als Original unterschieben wollte, es war etwas anderes, was mir aber nicht sofort einfiel. Ich holte die Erinnerungen an die damaligen Pariser Kirchenwanderungen zurück – da war es: wir hatten diese reuige Sünderin nicht auf Leinwand, sondern farbig hinter Glas gesehen, in einem Metallrahmen die Wand einer Kapelle schmückend! François meinte, diese kleine Glastafel von etwa 21 mal 25 Zoll im Hochformat wäre ursprünglich nicht für eine Kirche angefertigt worden, sondern entspringe vermutlich dem Wunsch eines fürstlichen Liebhabers, seiner Maitresse in ihrem Boudoir ein würdiges Geschenk zu präsentieren. Diese „Madeleine pénitente parisienne – Mpp“, wie sie François vertraulich nannte, war keine außerhalb unserer Welt driftende Heilige, über ihr schwebt zwar ein Heiligenschein, aber das mehrfach verwendete Motiv der Sonne und des Sonnenlichts im Bild deutet auf Louis XIV hin, den „Sonnenkönig“ und seine Maitresse Louise de la Vallière. Für ihn hat Madeleine keine eindeutig erotische Ausstrahlung, für ihn macht die dargestellte Ekstase der Frau mit dem wunderschönen Haar weltliche Anschauung, Meditation, innere Bewegung der Sinne die Wirkung dieses Bildes aus. Auf meinen Rat hin erwarb mein Begleiter die Leinwandkopie, zusammen mit einigen anderen Stücken und Büchern. Später verriet er mir, er habe dieses „Kleinod“ als Original den Sammlungen des Königs in Sanssouci zum Geschenk gemacht, nachdem er es im Sitzkissen seiner Kutsche über mehrere Grenzen bis Potsdam geschmuggelt habe. Engen Vertrauten soll er die Mär aufgetischt haben, das Gemälde stamme aus der Pariser Kirche Saint-Etienne-du-Mont. Leider durfte ich nicht darüber sprechen, wie überhaupt viele Details dieser Reise in meinem Busen verschlossen blieben und verschlossen bleiben werden, auch dir gegenüber. Soviel kann ich nur verschleiert sagen: die von mir gesammelten Erfahrungen im Umgang mit jungen Leuten in Frankreich und Italien konnten von den leitenden Feldjäger-Offizieren und Diplomaten Friedrichs genutzt werden insbesondere für die Gewinnung von solchen ausländischen Mitarbeitern, die aus Bewunderung für unseren König und weniger aus pekuniairen Gründen sich der preußischen Politik verschrieben.

Es war Zeit zum Aufbruch, der Conte zahlte nach hartnäckigem Feilschen, dann schritten wir zu der am Kanal liegenden prächtig geschmückten, mit einem adligen Wappen versehenen und vier livrierten Dieners ausgerüsteten Gondel und schwebten mit den erworbenen Schätzen und meiner teuer erkauften Freiheit davon.

In der Nähe meiner Herberge legten wir an, ich holte meine Habseligkeiten, zahlte das Quartier und wir genossen eine Rundfahrt durch die Kanäle, bewunderten die Paläste und Kirchen und steuerten schließlich am Abend ein Haus an der Ostküste an, in der Nähe des Arsenals – in den nächsten Tagen mein Quartier. Der „Conte“ lüftete unter Verwendung unserer Passworte sein Geheimnis, ließ kein gutes Haar an meiner waaghalsigen Verhaltensweise, die ihm, wie er augenzwinkernd formulierte, nicht nur zwei schlaflose Nächte bereitet hatte, sondern und unserem König zusätzliche Kosten in Höhe von fünfzig Dukaten für meine Befreiung aus den Händen der Räuberbande verursacht hatte.

An einem der nächsten Tage schlug mir der „Conte“, so nannte sich weiterhin mein Begleiter, bei ruhiger See eine Bootsfahrt nach Istrien vor – zu einer antiken römischen, heute venezianischen Fischerinsel namens Insola, das sei eine gute Gelegenheit, sich unbeobachtet und unbelauscht auszutauschen. Der Conte fordert aus dem Stegreif einen ausführlichen mündlichen Zwischenbericht über Erfolge, Mißerfolge, Personen, Schwierigkeiten und auch erste Schlußfolgerungen meiner mehrmonatigen „Studienreise“, wie er es nannte. Aus der Art, wie er sprach, zuhörte, wie er vertrauensvoll mich durch Fragen unterbrach, seine politischen Erklärungen an angemessener Stelle, aus seiner durchscheinenden staatsmännischen Denkweise erkannte ich die Nähe zum Prinzen Friedrich. Dieser Weltmann, der mich beim Rundgang auf der antiken Fischerinsel examinierte und damit über meine Laufbahn in Preußen entschied, war ganz sicher kein Brandenburger Juncker, sein Französisch hatte einen englischen Beigeschmack. Wir verstanden uns prächtig, trotz des großen Altersunterschieds – er hatte nichts Väterlich-Belehrendes, sondern Kollegial-Freundschaftliches. Wie du scharfsinnig erkennst, liebes Töchterchen, muß sein Bericht in Rheinsberg den Kronprinzen Friedrich – trotz der calamité in Venedig – von meinen persönlichen Werten überzeugt haben, denn die Position eines Oberconsistorialraths in Berlin erreicht man nicht durch theologische Spitzfindigkeiten. Übrigens liefen wir uns 15 Jahre später im Park von Sanssouci über den Weg, der Conte und ich – er lud mich in seine Villa, die Posten salutierten und riefen – „Vivat Herr Lord-Marschall“! Du hast es erraten, es war der schottische Hofmarschall George Keith, älterer Buder des im letzten Krieg gefallenen Generals James von Keith. In Erinnerung habe er nach so langer Zeit, wie ich als junger Student in wenigen Tagen in dem Geflecht der diplomatischen, kirchlichen und politischen Kontakte hinter den Kulissen das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden lernte – in Venedig, der Stadt, die die Wiege der neuzeitlichen Diplomatie und geheimen Agententätigkeit ist. Er habe mir das damals auf der Fischerinsel nicht in dieser Deutlichkeit sagen können, solche weitreichenden Beurteilungen habe er seiner Kgl. Hoheit, dem Prinzen Friedrich überlassen müssen.
Nun wurde es Zeit, die Heimreise entsprechend der Instruction vorzubereiten. Ich besprach mich mit dem Grafen und schlug eine Änderung der Route vor: anstelle des vorgeschriebenen Weges über Graz und Salzburg wollte ich die Stecke über Bozen und Innsbruck nehmen – einem Rat meines französischen Freundes François folgend mir das Kirchlein von Rencio mit ihren einmaligen Fresken zum Leben der heiligen Maria Magdalena anzusehen. Der Graf verstand mich auf Anhieb, er versprach dem „Chevalier de la solitude“ die nötigen Nachrichten und Finanzen entlang der neuen Strecke zu postieren – da war es wieder, jenes Wort des Kronprinzen Friedrich, vielleicht das Losungswort der gesamten Reise, dessen schillernden Inhalt ich bis heute nicht in Gänze erfaßt habe.

Der Graf entließ mich seiner Obhut, damit ich noch einige Tage auf eigene Faust persönliche Erfahrungen sammeln und vielleicht auch Bekanntschaften oder gar Freundschaften schließen konnte, die für „Rheinsberg“ künftig Bedeutung haben könnten.  

Für die Route nach Rencio hatte ich mir die sichere Straße über Verona ausgewählt und auch zufällig eine deutsche Gefährtin gefunden – Angelika, ein junge Bildhauerin, die verwegen genug war, allein zu reisen und die sich die Marmorbrüche in der Toscana ansehen wollte. In Verona übernachteten wir in der Postherberge, hatten uns ineinander verliebt – die Vernunft erforderte aber am nächsten Morgen die schmerzhafte Trennung, die Einzelheiten erspare ich dir, liebstes Töchterlein! Von Verona ging es ins Hochgebirge, ins Land der Etsch, ins entlegene Land der Tiroler Bauern, Gemsenjäger und Handwerker. Einmal im Leben die Füße ins eiskalte, blaugrau-weiße spritzige Gletscherwasser tauchen! Welch‘ eine Wonne!

Über dieses Kirchlein bei Bozen, das Ziel meines Abstechers in die Weinberge, hatte mir François Wunderdinge berichtet, nun durfte ich die berühmten Fresken aus dem 14. Jahrhundert mit eigenen Augen sehen! Was mir aber mein französischer Freund nicht verraten hatte, war der absonderliche Standort des Gotteshauses – inmitten eines Weinberges auf dem Hügel, von dem man das Tal der Etsch weithin überblicken konnte. Für ihn war die Art der Darstellung und der Inhalt der Bilder wichtiger als eine solche „Äußerlichkeit“ wie die Lage der Kirche.

Ich mietete mich für einige Nächte in der Postherberge von Bozen ein, suchte einen kundigen Begleiter – einen Priester der Dominikanerkirche der Stadt Bozen, der auch über einen Schlüssel zur Weinbergskirche verfügte. François hatte mir auf den Weg mitgegeben, dass ich besonders auf die Abweichungen in der Bildergeschichte der Maria Magdalena hier im ländlichen Tirol von den üblichen kanonischen Historiendarstellungen in französischen, deutschen und italienischen Stadtkirchen achten solle. Ohne dass François jemals hier gewesen war, konnte er mir sehr anschaulich die Madeleine-Bildfolge in dieser Kirche beschreiben, so dass ich keine Mühe hatte, den Erklärungen meines Führers zu folgen. Ich verstand nun besser als bei den sehr abstrakten Erklärungen der Lehrer in meinen heimatlichen Lateinschulen und im Kloster Berge, warum für die Bergbauern, Winzer und Jäger im Hochgebirge das Leben der Heiligen Maria Magdalena in ihrer zweiten Hälfte – Vertreibung aus dem Heiligen Land, Überfahrt mit dem Boot von Palästina an die französische Mittelmeerküste, die Predigten in Marseille, das Dasein als Eremitin, die Wundertaten – eine größere Nähe hatte als die biblischen Überlieferungen über ihre Beziehungen als Frau und „Sünderin“ zum Heiland, zu Lazarus, zu Marta und insbesondere über ihre Rolle am Morgen des Ostersonntags beim Entdecken des leeren Grabes des Herrn und beim Empfang des Auftrags durch den Engel, die Kenntnis der Auferstehung den Menschen zu verkünden.
Ich legte mich auf den Kirchboden, spürte die Bewegung der Erdkugel und erfasste nun mit allen Sinnen, wie die Anlage der Kirche in der natürlichen Landschaft zwischen den Weinbergen so in göttlicher Harmonie war mit der Demut, die uns Menschen ergreift, wenn wir uns jenen zehn Fresken im Innern der Kirche zum Leben der Heiligen nähern. Außen und innen; Himmel, Erde, Berge um uns herum – in uns aber die Ruhe, die Beständigkeit, die Bescheidenheit, der Blick nach oben, denn diese Fresken sind ja unterm Dach der Kirche angebracht, über den Fenstern und der Tür. Trotz der dürftigen Lichtverhältnisse erregen mich zwei der links unmittelbar nach dem Altarraum benachbarten Bilder ganz besonders. Der Führer erklärte mir die Themen: im ersten Bild predigt Maria Magdalena vor dem bisher heidnischen Fürsten und seiner Gemahlin in Marseille sofort nach der Ankunft aus dem Heiligen Land und im Bild daneben ermahnt Maria Magdalena das Fürstenpaar im Traum zu einem gottesfürchtigen Leben als Bedingung für eine Erfüllung ihres langersehnten Kinderwunsches. Das seien „für unsre Leute“ aus dem wirklichen Leben gegriffene Angelegenheiten, meinte der Mann aus Bozen, da werde die Religion zur Anleitung für weltliches tagtägliches Handeln! Die Erinnerung an ein Gespräch mit François in Paris drängt sich auf – er kenne gotische Glasmalereien, könne sich aber nicht mehr ins Gedächtnis rufen in welcher Pariser Kirche, möglicherweise auch in Bourges oder Chartres, die die heilige Madeleine zeigen, wie sie die Überfahrt von Palästina nach Marseille in gewohnter Weise dem Schiffskapitän in den Nächten mit ihrem Körper bezahle. (Liebe Doro, wie mir sehr viel später ein anderer französischer Freund in Berlin erzählte, bezieht sich die Darstellung im Fenster der Kathedrale von Bourges nicht auf die Überfahrt nach Marseille, sondern auf die vorher zu datierende Passage von Alexandria nach Jerusalem – wie man sich doch irren kann bei all den Legenden!)

Bitte liebste Doro, beackere deinen Josias, dass er mit dir die Füße in das Gletscherwasser hängt und jenes Kirchlein besucht – es ist etwas Einmaliges im Leben – ich bin Friedrich dem Großen dankbar, dass er mir als jungen Studenten dieses Erlebnis verschafft hat.

Angefüllt mit hunderten neuen Bildern und gleichsam der göttlichen Erde stärker verbunden als je zuvor trennt ich mich mit seelischen Schmerzen von jenem südtirolischen Landstrich, beeilte mich nach Innsbruck zu kommen, blieb aber aus Müdigkeit in einem Bergdorf außerhalb der Stadt in einer sauberen Herberge – „Zur Krone“ – für eine Nacht. Das Heimweh hatte mich nun gepackt, weder Kirchen noch Klöster noch Schlösser konnten mich vom schnellen und rechten Wege nach Preußen abbringen.

Mein liebes Mädchen, liebe Doro, 

Als ich nach Rheinsberg zurückkam, Sommer 1739, war der Kronprinz reifer, der König bei sehr schlechter Gesundheit und ich musste nach Kloster Bergen zurück, so daß keine Gelegenheit war, meinem schriftlichen Reisebericht eine mündliche Erläuterung anzufügen.

Für dich hier aber einige Zeilen – eine Art Resumé: Friedrich schien zufrieden. Nach drei Monaten des Schweigens wurde ich nach Rheinsberg zitiert – der Kronprinz beauftragte mich, unter Vorwänden die Verbindung zum Abbé aufrecht zu halten. Lordmarschall Keith avancirte als mein unmittelbarer Vorgesetzter, arrangirte meine Aufnahme in das Oberkonsistorium von Berlin. Aus wohlverstandenen Gründen durftes du oder andere Personen der Familie ihn niemals persönlich zu Nahe kommen.

Wir tanzten vor Freude, genehmigten uns eine Flasche Champagner, als die Kunde vom Aufstieg des Abbé in die höheren Ränge der königlichen Suite von Versailles uns erreichte. Ich erhielt der Auftrag, der nicht ungefährlich war, mich mit ihm in Versailles nach so vielen Jahren wieder anzufreunden, ihn persönlich einzuladen und ihn incognito mit Friedrich II. in Rheinsberg zusammen zu bringen.

Le Cardinal Francois Joachim de Pierre de Bernis

Friedrich brauchte echte Informationen aus erster Hand über die Kriegsvorbereitungen der französischen Armee – Kardinal Bernis hatte über die Kontakte zur Familie der Pompadour sehr wertvolle Informationen – wirtschaftliche, technische, personelle, die Truppentransporte und die Nachschublagerplätze betreffende.

Der Lord-Marschall, George Keith in jungen Jahren

Der Chef des „Vorbereitungscomités“ war immer der Lordmarschall Keith, aber die Treffs fanden immer nur in Rheinsberg statt, jenseits der höfischen Zeremonielle, auch mit dem nun gekrönten Friedrich II, manchmal auch in Emmerich am Rhein mit Blick auf Holland am jenseitigen Ufer. Heute zehre ich noch von den Erinnerungen an einen Spaziergang mit dem König und George Keith, an Regen und Sturm- Wetter, das uns zum Rückzug in das kleine Landhaus zwang …  das vor langer Zeit einer schönen Frau gehörte, die auch Kurtisane am Hofe eines Königs war – des Großvaters der heutigen Majestät – immer wieder schließen sich die Kreise der Geschichte !!!! Ich packe zusammen, für heute warten die Kumpels der wöchentlichen Skatrunde!

Edda stürzt zur Tür herein, ein kleines Büchlein in der Hand – Bester Chef, hier ist eine Sensation: Alexander von Humboldt war nicht nur Zöling des Latein- und Griechisch-Lehrers Josas Löffler in Frankfurt – er hatte auch eine Liebesaffäre mit einem Assistenten des Professor Löffler !
Was halten Sie davon ? – Laß es uns in Ruhe recherchieren, liebe Kollegin – ich trau der Sensation nicht so ohne weiteres!

Dr. Dieter Weigert 16. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

Die nächste Folge der Erinnerungen des Stadtarchivars von Saalfeld zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler wird in Kürze erscheinen.

Für Interessenten bisher:

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LINK zu Folge 4: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34245

LINK zu Folge 5: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34672

LINK zu Folge 6: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34720

LINK zu Folge 7: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34571

LINK zu Folge 8: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/35034

LINK zu Folge 9: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/35090

LINK zu Folge 10: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/35828

LINK zu Folge 11: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/37611

LINK zu Folge 12: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/38055

Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant Heinrich und Generalsuperintendent Josias Folge 8

 

Über Nacht ist es Winter geworden in Thüringen. Ich stehe neben dem Schreibtisch und dem mit voller Kraft arbeitenden Heizkörper und sehe durch die Dachluke auf den verschneiten Schlosspark. Der See beginnt zuzufrieren, eine Besonderheit der letzten Jahrzehnte. Die Eltern hatten Mühe, für die jubelnden und drängelnden Kinder in den Kellern die Schlitten und Schlittschuhe zu finden. Matsch und Regen hatten ansonsten diese Jahreszeit geprägt. Nun aber endlich wieder ein echter Winter-Januar mit eisigem Wind, Neuschnee jede Nacht, auch zugefrorener Saale. Ich wende meinen Blick zurück in die warme Dachstube des Saalfelder Schlosses herunter auf meine zwölf sauber sortierten Papierstapel und auf die Schachtel mit den Zetteln, die auf den ersten Blick thematisch oder chronologisch nicht zuzuordnen sind.

Chronologisch stecken wir immer noch in der Königl.-preuß. Residenz Berlin, in den frühen siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Heinrich von Kleist ist noch nicht geboren, als der junge Theologe Josias Friedrich Christian Löffler die königlich preußische Residenz Berlin während eines Besuches zu Ostern 1774 kennenlernt. Er findet er in Berlin sofort Kontakte zu führenden Kirchenpolitikern wie Teller und Spalding, die ihm Tätigkeiten als Privatlehrer in adligen Offiziers- und Patrizierhäusern vermitteln. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums siedelt er Ende 1776 endgültig nach Berlin über – der Residenz der preußischen Könige, dem Sitz der Akademie der Wissenschaften, des Oberkonsistoriums für die protestantisch-lutherischen Kirchgemeinden.

Blick von der Cöllner Seite auf Hundebrücke, Apotheke, Domkirche, Marienkirche (Hintergrund),
Johann Georg Rosenberg, 1780, gewidmet Daniel Itzig (1722-1799), Bankier und Oberältester der preußischen Judenschaft

Er ist 24 Jahre jung, als er zu Weihnachten 1776 sein Amt als Prediger an der Hausvoigtey-Kirche antritt, verbunden mit der lutherischen Predigerstelle an der Charité. An das „lutherisch“ muss deshalb erinnert werden, weil sich die königliche Einrichtung der Charité den Luxus von zwei Predigerstellen leisten konnte, neben der für die lutherischen Ärzte und Patienten auch eine für diejenigen reformierten Glaubens. Bei einem vorigen Besuch zu Ostern des Jahres 1774 hatte Josias Löffler durch Vermittlung seiner Hallischen Professoren bedeutende Kirchenpolitiker und Theologen und andere Persönlichkeiten des kulturellen Lebens Berlins kennengelernt, so u.a. die Oberkonsistorialräte Teller und Spalding, die Literaten und Verleger Friedrich Nicolai, Anton Friedrich Büsching und Friedrich Gedike, möglicherweise auch den Verleger Frommann und den Theologen Gotthilf Samuel Steinbart in Züllichau.  So ist er schon zu Beginn seiner Tätigkeit im Netz der kulturellen Elite der Hauptstadt und ihrer märkischen Umgebung wohl aufgehoben, man vermittelt ihm zusätzlich zu den Predigerstellen gut dotierte Tätigkeiten als Privatlehrer in den Häusern der Militärs, Politiker, Kaufleute. Für die Mitgliedschaft in dem renommierten Zusammenschluss der Hauptvertreter der Berliner Aufklärung, der Mittwochsgesellschaft (wie Gedike, Nicolai, Biester) ist er aber wohl noch zu neu, noch nicht fest genug verankert im wirtschaftlichen, kulturpolitischen und wissenschaftlichen Einflussgeflecht der preußischen Hauptstadt.

Berlin wird seine Wirkungsstätte, seine kulturelle und persönliche Heimat für sechs Jahre bleiben – unterbrochen nur durch den Einsatz als königlich preußischer Feldprediger 1778/79.

Hinsichtlich der politischen Kontakte kann man wohl nicht fehlgehen, wenn man über die Bekanntschaft mit Gedike auch Beziehungen zu dessen engem Freund Johann Erich Biester, dem Staatssekretär und persönlichen Berater des Ministers Zedlitz und damit zum Vorzimmer des Königs voraussetzen kann. Damit steht Löffler vermutlich schon in dieser ersten Periode seiner akademischen und kirchlichen Laufbahn im Gesichtskreis des Chefs des Departments, des schlesischen Freiherrn Karl Abraham von Zedlitz und Leipe.
Löffler ist ein praktischer Charakter, gemeinsam mit Philipp Julius Lieberkühn (1754 – 1788) und Johann Stuve (1752 – 1793), seinen Studienfreunden aus der Hallischen Periode, nimmt er teil an Planungen der Neuorganisation und Reform der Latein-Schule in Neuruppin, zu deren Direktoren seine beiden Freunde 1777 berufen worden waren.

Die Herausgeber der biographischen Notizen von 1817 bemerken, dass Löffler des Neuruppiner Unternehmen seiner Freunde nach dem Abschluss ihres Studiums nicht nur mit Sympathie verfolgt, sondern auch aktiv unterstützt hat: „die Angelegenheiten der Ruppinschen Schule, deren Wiederhersteller und Verbesserer seine Freunde, Lieberkühn und Stuve, geworden waren, forderten ebenfalls einen Theil seiner Mußestunden.“ (Kleine Schriften, Bd. I, S.VIII/IX)

Sie verweisen auf eine dieser Aktivitäten – eine Unterredung in Potsdam mit dem Generalleutnant von Prittwitz, dessen Sohn er Privatunterricht gab, mit der Bitte um Rat und Unterstützung beim König wegen eines Gesuches der Schule bei der preußischen Majestät. (S. VIII ff) Im handschriftlichen Manuskript dazu, eingebettet in seine eigenen kritischen Erinnerungen an jene Berliner Jahre: (Bl. 4 f)

„Mit dem ersten Tage des Jahres 1777 trat er sein Amt als Prediger an. Ungern hatte er seinen Plan sich dem Lehramt in einer Schule zu widmen, aufgegeben oder vielmehr  er glaubte die Ausführung desselben nur verschoben zu haben und hatte sich zur Übernehmung dieser Stelle um so mehr entschlossen als damit keine besondere Seelsorge verbunden war.
Seine Nebenstunden widmete er theils der  Uebersetzung des  berühmten Buches des Souverain Du Platonisme devoilé, theils dem in Verbindung mit mehreren jüngeren Gelehrten in Berlin auszuführenden Vorhaben, eine gelehrte Zeitung zu schreiben, zu welcher er Plan und Ankündigung ausarbeitete. Allein die Ausführung unterblieb, . . .
Theils die Unterweisung mehrerer jungen Herrn vom Stande in der lateinischen Literatur, theils die Angelegenheiten der Ruppinschen Schule,  deren Wiederhersteller und Verbesserer seiner Freunde Lieberkühn und Struve geworden waren forderten ebenfalls einen Theil seiner Mußestunden.
Durch diese beyden letzteren Beschäftigungen wurde er dem jetzigen  Generalleutnant und Ritter des Schwarzen Adlerordens dem Herrn von Prittwitz bekannt, dessen Sohn er unterrichtete und an den er sich wendete, als sich dieser in Potsdam bey dem König Friedrich II. aufhielt, ihn um Rath und um Unterstützung wegen eines Gesuches, welches die Ruppinsche Schule an den König thun wollte, zu bitten.“

Edda springt auf, öffnet die oberste der Schubäden ihres Tische und präsentiert triumphierend ein Foto :

Das ist eine Zeichnung Menzels, rufe ich überrascht aus, warum kenne ich sie nicht ? – Weil sie kaum publiziert wurde, Chef, und Sie vermutlich Jahrzehnte nicht das Berliner Kupferstichkabinett besucht haben ! Ich dagegen hatte Glück, ein kunsthistorisch beflissener Freund zeigte mir das gute Stück in einer Fensternische des Museumskomplexes am Potsdamer Platz und riet mir zu einem heimlichen Foto! Deshalb ist die Qualität nicht die beste, aber für unser Verständnis der Biographie Löfflers ausreichend. Oder nicht ? – Der damalige Freund wies vor allem auf das Menschliche, Väterliche im Gesicht des Generals hin, was und ja entgegen kommt. Menzel hat höchstpersönlich die persönlichen und militärhistorischen Daten des Herrn rechts an die Blattkante platziert: „Joachim Bernhard von Prittwitz, General d. Cavallerie, Inspecteur der märkischen Cav., Chef d. Gensdarmen“. Der linken Blattkante ist zu entnehmen, dass der General Träger de Schwarzen Adlerordens und des Ordens Pour le mérite war.

Ich beglückwünsche Edda zu diesen bedeutenden Erkenntnisssen. Da wir nun schon bei Herrn von Prittwitz angelangt wären, sollten wir ohne Verzug die Themen und Papire aufgreifen, die mit der unmittelbaren Vorbereitung des Feldzuges 1778/79 gegen Österreich zusammenhängen.

Da wird nun aus dem freundlichen, väterlichen Gesicht der in strahlenden Farben uniformierte Krieger von Prittwitz im Kreis um seinen König.

Lassen wir nun wieder Josias Löffler in seinen Lebenserinnerungen selbst sprechen (Bl. 4-6):

„Als nun in dem folgenden Jahr 1778 der Bayerische Erbfolgekrieg auszubrechen schien und der damalige Prediger der Königlichen Gensd’armen, Herr Lachmann (jetzt Instruktor und Oberpfarrer zu Prenzlau in der Uckermark), welcher bereits einen großen Theil  des siebenjährigen  Krieges hindurch dieses Corps als Prediger begleitet hatte, den Ermüdungen und der herumziehenden Lebensart eines Feldzuges sich nicht zum zweyten Mal aussetzen wollte, und seine Entlassung verlangte. So ließ ihn der damalige kommandierende General der Gensd’armes diese Stelle antragen. So sehr dieser Antrag seinem Plan sich den Wissenschaften und dem Lehramt zu widmen, entgegen war, indem er ganz von der Literatur abzog, so empfahl er sich ihm doch auch andere Seiten, einmal durch die Menge von neuen Erfahrungen zu machen, die ihm nur so die neue Lebensart darbot und dadurch daß er als Feldprediger noch weiter eine neue Lebensart sich erweisen könnte.
Er entschloß sich und ging im April des Jahres 1778  nach Schlesien und begleitete das Regiment hier bis zu dem Frieden, welcher dann geschloßen wurde.“

Tropeter des 10. Kürassier-Regiments, der „Gens d’armes“

Als Edda aus ihrer Militaria-Sammlung diesen Trompeter zu Pferde auswählt und dazu einen berittenen Feldprediger präsentiert, überrascht sie mich doch mit einer epochalen Frage: – Chef, konnte unser Josias überhaupt reiten?

Dieter Weigert, Berlin Prenzlauer Berg 31. Juli 2023

(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)

Für Interessenten:

LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33 663

LINK zu Folge 2: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33 899

LINK zu Folge 3: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34 059

LINK zu Folge 4: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34 245

LINK zu Folge 5: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34 672

LINK zu Folge 6: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34 720

LINK zu Folge 7: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34 571

Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder Leutnant Heinrich und Generalsuperintendent Josias Folge 5

Folge 5: Willkommen in der Residenz

Es ist Anfang November – später Herbst – geworden, wir müssen schon in unserem Dachkämmerchen die Heizung voll aufdrehen. Edda war es gelungen, mir die Zusage abzuringen – trotz starker Brandschutzbedenken –, einige echte Kerzen aufzustellen, so dass eine freundlichere Arbeitsatmosphäre entstanden war.

Aus den unterschiedlichsten Belegstellen der Dokumente des Konvoluts, an den Rand mancher Papiere und Briefe mit fremder Hand gekritzelten Bemerkungen, offiziell angeforderter Anlagen zu Aktenstücken, im Nachhinein geschriebener Erinnerungen aus der Feder von Josias Löffler selbst konnte ich mir in den Wochen in Zusammenarbeit mit Edda ein Bild machen von jener Situation, in die der junge Absolvent der Universität Halle an der Saale hineingeworfen wurde bei seinen ersten Begegnungen mit der königlich-preußischen Residenz Berlin Mitte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts.

Friedrich II.

Die Hallischen Überväter Semler und Nösselt hatten es geschafft, den ungestümen Saalfelder Jungen für den Ernst des studentischen Lebens hinzubiegen, so dass Josias mit 22 Jahren, zu Johannis 1774, in unserem heutigen Kalenderverständnis im Juni, die Universität beenden konnte. Vorher, zu Ostern, war er auf Anraten Semlers mit einigen Adressen, die er ihm in die Manteltasche gesteckt hatte, nach Berlin gereist. Schon die erste Adresse war ein Erfolg: im Haus von Oberkonsistorialrat Teller gab es nicht nur eine Übernachtung und gutes Frühstück, sondern auch das nicht auszuschlagende Angebot einer Hauslehrerstelle bei einem reichen Kaufmann, beginnend im September. 

Die Bekanntschaft mit der preußischen Residenz war für den provinziellen Thüringer in den ersten Wochen ein kulturelles Erdbeben – das Betuliche, Behagliche des Saalfelder Lebens; das Abgehobene, in der Gottesgelahrtheit Schwebende der Universität Halle war über Nacht dem lauten Treiben der ausgedehnten Berliner Magistralen gewichen. Josias brauchte einige Tage, die Weitläufigkeit der Plätze und Märkte der Friedrichstadt zu verdauen, das Gigantische des königlichen Schlosses am Lustgarten nicht mehr als Bedrohung zu empfinden, die junge Lindenallee in Richtung Charlottenburg anzunehmen. Dennoch – es war die Stadt des großen Friedrich, die ihn vom ersten Tage, ja von der ersten Stunde an in den Bann zog! 

Zeichner: Daniel Chodowiecki

Schnell hatte Josias das Netzeknüpfen begriffen: Semler kannte Teller, Teller war eng befreundet mit Propst und Oberkonsistorialrat Spalding, Spalding hatte über Minister von Zedlitz und dessen Staatssekretär Biester Zugang zur Majestät, letztlich entschied der König persönlich – die besten Hallenser Absolventen waren begehrt in Berlin, als Privatlehrer, als Prediger, als Juristen, als Ärzte, auch als Feldprediger im Heer.

Josias erkannte, dass insbesondere der Oberkonsistorialrat Johann Joachim Spalding ihn beobachtete. Man traf sich bei den Predigten in den altehrwürdigen Hallen von St. Nikolai und St. Marien, in den Bibliotheken, bei den gutbetuchten Eltern der Privatschüler, die vor allem in den antiken Sprachen und der Kirchengeschichte durch die jungen Hallenser Absolventen eine Erweiterung des Schulstoffes erfuhren.

Noch in Halle hatten seine beiden Mentoren Semler und Nösselt dem Absolventen Löffler wärmstens den Ratschlag ins Reisegepäck gesteckt, sich in Berlin an den Oberkonsistorialräten Wilhelm Abraham Teller und Johann Joachim Spalding zu orientieren, wenn ihm an einem Fortkommen in der Residenz gelegen sei. Josias entnahm den ausführlichen Erzählungen, dass e seine sehr enge, freundschaftliche, ja fast intime Bekanntschaft der Hallischen Professoren mit den führenden Berliner Kirchenleuten bis in die höchsten ministeriellen Kreise gab – bis in die Vorzimmer des Königs.

So hatte ihm in einem vertraulichen Gespräch Nösselt lachend und in aller Ausführlichkeit und Breite erzählt, wie er als junger Student im Jahre 1754 gemeinsam mit dem jetzigen Minister von Zedlitz in einer auf Spezialorder des Königs in höchster Eile kompilierten Vorlesung des bedächtigen und trockenen Philosophieprofessors Meier gesessen habe und sich beim Anhören des offensichtlich nur angelesenen und nicht verarbeiteten Sammelsuriums der erkenntnistheoretischen Ansichten von John Locke verstohlen vertrauliche Blicke der Missbilligung mit Zedlitz ausgetauscht habe. Noch Tage später hätten Zedlitz und er ihr Unbehagen und ihre scharfe Kritik an einer solchen Prozedur privat ausgetauscht und darüber hinaus mannigfaltige Berührungspunkte in ihren weltanschaulichen Positionen gefunden.

Nösselt hatte bewusst darauf verzichtet, seinem Lieblingsstudenten und Privat-Assistenten Löffler moralisierend eine „Lehre fürs Leben“ mitzugeben – den Weg zum jetzigen Minister von Zedlitz in Berlin müsste Löffler schon selbst finden. Lächelnd hatte er aber noch ergänzt, dass insgesamt nur vier Studenten die auf königliche Order zustande gekommene Vorlesung von Meier besucht hatten und Professor Meier dieses Thema niemals wieder berührt habe.

Johann Erich Biester

In den Ostertagen des Jahres 1774 – wir wissen es aus einem nachgelassenen Brief Johann Erich Biesters an seine Lübecker Freundin Luise Haake  vom 27. Juli 1776 aus Berlin, der durch einen der nicht seltenen Zufälle in unserem Archiv gelandet war – war es auch zu einem Gespräch Löfflers mit dem frisch promovierten Dr. jur. Biester im Gasthaus Zum Schwarzen Adler in der Berliner Poststraße gekommen, vermittelt durch den Vater eines Löffler anvertrauten Privatschülers. Ich suche den Brief nochmals heraus und bitte Edda, ihn vorzulesen, um mich konzentriert mit nunmehr geschultem Blick für das Berliner „Geflecht“ der jungen Akademiker Löffler und Biester der historischen Situation widmen zu können:

„Luise, mein geliebtes Täubchen, die elende Warterey hat ein Ende!!! Noch ist es nicht offiziell, aber du bist die erste, die vom angehenden Geheimsekretär des Ministers die geheime Nachricht von seiner geheimen Bestallung im geheimen Büro erhält – bitte aber geheim zu betrachten bis auf Weiteres!!! Offiziell wird es Staats Secretair heißen, aber der alte Fuchs von Zedlitz, der mich mit dem geschulten Blick des Kenners persönlich aus der Gruppe der Männer mit großen Ohren, geschlossenen Mäulern und  unersättlicher Wissensbegierde erwählte,  machte mich zum  Anwärter für Höheres, läßt mich aber vorerst nur Probestückchen meines Talents abliefern, die hoffentlich der Majestät zusagen werden.

In Berlin weiß es bisher nur mein alter Freund Josias Löffler, mit dem ich am Ostersonntag 1774 auf einer Bank am Spreeufer gegenüber dem königlichen Schloß Zukunftspläne schmiedete. Er war aus Halle herübergekommen, um sich nach einer Stelle als Privatlehrer umzusehen, war auch glücklich gelandet, so daß wir gemeinsam den Tintenkleksern der Residenz an beiden Ufern der Spree tüchtig einheizen können. Das Schloß fand er übrigens gar nicht so beeindruckend – es sei Gigantomanie, aufgeblasen, wirke kalt und tot. Er, Josias Löffler, habe nach kurzer Wartezeit in den privaten Schulräumen bei Bankiers und Handelsleuten eine königliche Predigerstelle erhalten, ich aber, wie du weißt, hatte weniger Glück, reiste im Mecklenburgischen herum, unterrichtete um des Broterwerbs willen störrische Adelssprosse, antichambrierte wieder in Berlin. Zwei schlimme Jahre, aber doch gefüllt mit Erfahrungen und endlich der Bekanntschaft des lieben Nicolai, dessen Bibliothek und Befreundetsein mit einflußreichen Hofbeamten nun Gottseidank Früchte trägt …“

In der Geschichte versunken, bitte ich Edda um etwas Geduld, bevor wir uns an Biester und Zedlitz heranmachen. Ich würde sie, die inzwischen eng Vertraute meiner Recherchen, gern in jene Gedanken einführen, die mir nach dem Durchblättern anderer Briefe Löfflers an Bekannte in Halle gekommen waren und die doch ein authentisches Bild der „Anfängerjahre“ des jungen Theologen Josias in der königlichen Residenz vermitteln:

An einem noch warmen, trockenen Oktoberabend 1776 bittet der Probst der Berliner Marienkirche Spalding – weißhaarig, mir einem goldbelegten Stock in der Linken, den rechten Arm auf gute schottische Art hinter den Rücken gelegt – den jungen Löffler zu einem Spaziergang in den Tiergarten. Er lässt sich von Josias über die Fortschritte bei dessen Studium der Kirchenväter berichten, zu dem er ihm ernsthaft vor zwei Jahren für die freien Abendstunden nach dem doch nicht allzu anstrengenden Unterricht mit den Privat-Zöglingen geraten hatte, verfällt dabei wie in Gedanken versunken ins Latein, freut sich im Stillen über die glänzende Parade des Zöglings, schlägt sich an die Stirn: „Ach mein Lieber, nun bin ich gar ins Antikische abgerutscht, bitte verzeihen Sie die Altersschwachheit! – Aber da wir nun schon mal vom Pfade abgekommen sind, auf die Wege des Herrn gelangt sind – Was halten sie denn, junger Freund, von einer Predigerstelle in Berlin? Es wird Zeit dafür, ansonsten ersaufen Sie im Sumpf des alltäglichen Trotts in den Familien der Wohlhabenden und kleinkarierten Hofbeamten !

Da wird zu Weihnachten eine Stelle frei, für die ich Sie wärmstens beim Minister empfehlen möchte – vorausgesetzt sie machen mir keine Schande und eine Schande wäre schon nach reiflicher Überlegung eine Ablehnung. Im Übrigen – der Minister erwartet von mir derartige Gefälligkeiten. Vergeben sie mir die Offenheit.  Aber so ist das Leben, so ist das Leben im Oberkonsistorium; solche Sachen werden ja nicht lange hin und hergeschoben, solche Sachen werden in kürzester Zeit entschieden! Sie, Josias Löffler, gelahrter Absolvent bei Semler und Nösselt in Halle, stehen bei mir ganz oben auf der Liste.“ Er nimmt Löffler vertraulich am Arm: „ Lassen sie uns in einer Woche am selben Ort wieder darüber sprechen, da kann ich Ihnen mehr sagen. Vorher verlangt es die Geheimniskrämerei in diesem Konsistorium, dass ich Ihnen nichts genaues sagen möchte.  Aber es ist in Berlin, es ist eine schöne interessante Tätigkeit als Prediger, nicht an einer Schule und nicht privat, sondern öffentlich und sehr nah am Hofe – das kann ich hier und heute schon sagen. Mehr noch nicht – schlagen Sie in den nächsten Tagen mal bei Christian Wolff nach, Sie wissen schon – Vollkommenheit und ähnliche Sujets!“

Als sie sich getrennt hatten, ist Josias Löffler hin und her gerissen. Das war nicht sein Lebensplan, die trockene Theologie, das Predigen in den Kirchen, die Seelsorge. Lehrer wollte er werden, Kinder und Jugendliche erziehen, ihnen Bildung für das ganze Leben vermitteln. Aber er wusste, wenn er Spaldings Angebot ausschlug, war seines Bleibens in Berlin nicht mehr sicher. Ohne feste Stellung, ohne Zuspruch und Föderung durch Spalding und seinen Kreis landete er in der Mittelmäßigkeit – und er könnte vor allem – was er ihm für die Laufbahn noch fehlte  – nicht publizieren. Er hat gerade ein neues französisches Buch auf seinem Tisch über die Kritik an der Orthodoxie, über das Verhältnis der Kirchenväter zur griechischen Philosophie, zu Platon, das reizte ihn ungeheuer. Vielleicht findet er einen Verleger, Berlin hat unendliche Mengen an Verlagen. Über seine Freunde könnte er vielleicht an den bekannten Friedrich Nicolai herankommen.

Ihm sind die Worte Nösselts und der anderen der väterlichen Freunde in Halle im Ohr und leuchtend vor Augen: Spalding ist unsere Speerspitze in Berlin und unser Schirm!  Seine Stellung verdankt er seinem Fleiß, seiner Weltsicht und seinem literarischen Vermögen! Wenn du etwas erreichen willst, übe dich unter seiner Anleitung im Ausdruck, schriftlich wie mündlich, beeindrucke die gelehrte Welt schon in deiner Jugend durch Veröffentlichungen, über die man spricht so wie es Spalding durch seine „Bestimmung des Menschen“ schaffte.

Ihm wurde während der Studienjahre ebenfalls schon früh klar, wie dicht und fest die Verbindungen der führenden theologischen Vordenker der Aufklärung, der so genannten Neologen, in Berlin, Halle, Magdeburg geknüpft sind. Obwohl er nicht hinter alle Kulissen schauen konnte, erkannte er, dass sie nicht als einsame Gründerfiguren, Universitätsprofessoren oder Schulhäupter auftraten, sondern als Persönlichkeiten einer immer mehr um sich greifenden Bewegung, die die Stärkung individueller religiöser Mündigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte – unter dem Schutz mächtiger Fürsten, ab 1740 sogar unter dem Schutzschirm des preußischen Königs Friedrich II.
Alle Erwägungen überzeugen jetzt den jungen Josias Löffler, dass er sich durch Zögern oder gar Ablehnung des Angebots der führenden preußischen Kirchenoberen seine Zukunft verbauen würde. Er lässt sich die Einzelheiten des Angebots erklären und erklärt offiziell seine Bereitschaft, mit sofortiger Wirkung in den Dienst des Oberkonsistoriums in Berlin treten. Im Stillen glaubt er nur an eine zeitlich begrenzte Tätigkeit, die ihn in die Nähe des Hofes bringt.  Er könne weiterhin seine privaten Unterrichtsstunden bei den Reichen und Mächtigen ableisten, er könne privat historischen Studien betreiben und größere Veröffentlichungen vorbereiten.

Zu Hause angekommen in seiner kleinen Dachstube machte er sich sofort an die Übersetzungsarbeit dieses Franzosen und es ging ihm zügig von der Hand.

Morgen würde er versuchen an Nicolai heranzukommen, der hatte ihn schon mal angesprochen wegen einer Arbeit von Moses Mendelssohn, für die er einen Bearbeiter suchte. Vielleicht reizt den Nicolai diese Übersetzung. Und den Wolff und nebenbei den Leibniz hatte er nicht vernachlässigt – da war Einiges, das  er seit den ersten Hallischen Tagen mit sich unerledigt herumschleppte.

Publikation Löfflers bei Frommann in Züllichau (Neumark)

Die Woche verging im Fluge. Auch das Wetter spielte mit, die Linden verloren im Abendwind ihre Blätter, gelb und braun mit leichtem rötlichen Schimmer wirbelten sie um ihre Füße.

Ohne gefragt zu werden entwickelt Josias Löffler beim nächsten Spaziergang Spalding gegenüber seine Bedenken; er glaubt das sei die beste Taktik. Er weiß, dass Spalding keine Jasager und Duckmäuser liebt; Spalding liebt Leute mit Verstand und mit eigenem Kopf und wenn ein junger Mann ihm auf ein so glänzendes Angebot mit Bedenken kam, dann reizt ihn das auch zum Widerstand. Der Herr Oberkonsistorialrat sollte erkennen, dass der Widerstand Löfflers nicht gespielt ist und er müsse schon das gesamte Repertoire der erfolgversprechenden Überzeugungsinstrumente auspacken:  die Hoffnung auf eine glänzende Zukunft, eine interessante Tätigkeit und auf viele Kontakte und Bekanntschaften vielleicht auch Reisen, vielleicht auch eine Professur an der Universität – vielleicht Halle, vielleicht Frankfurt – denn was ist ein Universitätsprofessor anders als die höchste Form des Lehrens, des Bildens, des Unterrichts.

Mitten in meine kunstvoll gestrickten Darlegungen platzt ein fremdes Geräusch – Edda war zusammengezuckt und rot geworden, ihr Täschlein war vom Tisch gefallen, Zeichen der Langeweile oder Müdigkeit? Also Pause, keine Überforderung !

Dr. Dieter Weigert 25. Juli 2023

(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)

LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663

LINK zu Folge 2: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33899

LINK zu Folge 3: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34059

LINK zu Folge 4: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34245

Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz- oder Leutnant Heinrich und Generalsuperintendent Josias Folge 4

Folge 4: An des buckligen Königs Universität und unterm Dach der Halloren    

König Friedrich I., Gemälde von Samuel Gericke 1701

Der Kurprinz Friedrich:

„War er wirklich bucklig, der erste preußische König?“ Edda hat vor sich einen miserablen Schwarz-Weiß-Druck des bekannten Gemäldes von Hofmaler Samuel Theodor Gericke aus den Jahren unmittelbar nach der Krönung in Königsberg. „Lies‘ doch mal bei Vehse nach!“ – Ich hätte mir auf die Zunge beißen mögen, wie konnte ich der lieben Edda aus dem Vorzimmer des Landrates so unverblümt ihre historischen Bildungslücken vorhalten. Ich nahm den Ersten Band des alten Kumpels Eduard Vehse aus dem Regal hinter mir, schlug die Seite über die Nachkommen des Großen Kurfürsten auf und bat Edda, die entsprechenden Zeilen laut zu lesen: „Kurfürst Friedrich III., der spätere König Friedrich I., war 1757 zu Königsberg geboren. Er war von Person schwächlich, und man glaubte nicht, daß er ein hohes Alter erreichen werde; auch litt er sein ganzes Leben lang an Engbrüstigkeit. Seine Amme hatte ihn als Kind rücklings vom Arme fallen lassen, davon war er verwachsen; er trug, um seinen krummen Rücken zu verbergen, eine sehr große Perücke.“ Edda betrachtet die Kopie – schüttelt den Kopf. Ich greife nochmals hinter mich, bekomme den richtigen Band aus der meiner privaten Reihe „Berlin-Archiv“ zu fassen und legen einen guten Farbdruck des Gericke-Gemäldes auf den Tisch – der König auf dem Thron im Jahr 1701 ! Und da ist auch das andere Gemälde – von eben diesem Gericke, das den Friedrich, den Buckligen, als Kurprinzen zeigt, also vor 1688. „Nun kann ich den schiefen Rücken fast fühlen, welch‘ ein chickes brünettes Gelöck und wie der weiße Pelz die Schultern gerade zieht!“, Edda hatte ein mitleidiges Gesicht. „Aber was ist mit der Hallenser Universität? Deshalb fesselt der krumme Friedrich uns noch!“ – Ich blättere einige Seiten weiter bei Vehse: „Darf ich es diesmal selbst, in jener poetischen Sprache des leidenschaftlichen Historikers vorlesen? – Edda nickt – „Mit vier Schöpfungen hat Friedrich, wenn auch gleichsam nur instinktiv vorbildend, die nachfolgende Größe des preußischen Hauses gegründet … die Königswürde, die Akademie der Wissenschaften, die Universität Halle und der prächtige Schloßbau zu Berlin.“ – „Du erkennst liebe Edda, fünfzig Prozent der Leistungen – nach Vehse – haben die Prüfungen der 300 Jahre Geschichte bestanden und strahlen noch heute an unserem Himmel.“ – „Mehr Worte hat er nicht, dein Idol Vehse, zur Hallenser Universität, die doch unseren Josias Löffler so prächtig geprägt hat?“

Am nächsten Morgen das kaum versteckte triumphale Lächeln Eddas – „es gab doch einmal in der fast unendlichen Geschichte der Fürsten unserer nördlichen Breiten einen Fast-König mit dem Beinamen „der Bucklige“, einen außerehelichen Sohn Karls des Großen mit Namen Pippin, der aber schon vor der möglichen Krönung als fränkischer König verstorben war! Pépin le Bossu nannten ihn die französischen Karolinger.“ Neidlos küsste ich Edda auf die kluge Stirn, ihr kühler Blick zwang uns aber zur nüchternen Arbeit …

Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgangen sein – aus der Reise an die Oder ist leider noch nichts geworden. Halle an der Saale hat den Vorzug.

Aber Frankfurt brennt in mir. Die Beschäftigung mit den Pastoren an der Marienkirche und dem Schicksal des Nonnenwinkels lässt mich nicht los. Seit mehr als zwei Jahrhunderten verbindet nun der mystische Nonnenwinkel am westlichen Ufer der Oder, sein steinernes Zentrum, die Marienkirche, die Namen dreier lutherischer Pastoren Frankfurts mit dem Schicksal des Dichters Heinrich von Kleist – Josias Löffler, Christoph Plothe und Carl Samuel Protzen.

Kleist und Löffler wirken über die Grenzen der Oderregion hinaus – Plothe und Protzen jedoch verlassen ihre angestammte Heimat nicht, so verwundert es mich nicht, dass bis auf eine Ausnahme aus den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts beide Frankfurter Pastoren der Marienkirche in den professoralen biographischen Kleist-Abhandlungen nicht erwähnt werden. Die Ausnahme – der in Potsdam und Brandenburg bekannte Klaus Günzel nennt 1984 in seinem Kleist-Lebensbild (Verlag der Nation, Berlin) Carl Samuel Protzen als Feldprediger, der Kleist in der Frankfurter Garnisonkirche taufte.

Die doppelbändige Gesamtausgabe von dtv aus dem Jahre 2001 „Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe“ verweist im Personenregister auf C. S. Protzen und die damit verbundene Quelle (Teil II, S. 471) – den Brief Kleists an Schwester Ulrike vom 25. Februar 1795: „Und nun noch ein paar Worte: ein Auftrag, mich der gnädigen Tante, der Fr. und Frl. v. Gloger, dem Protzenschen Haus, der Bonne, Martinin, Gustchen, mit deren Brief ich für diesmal nicht ganz zufrieden bin, und allen meinen Geschwistern zu empfehlen …“
Soweit ich erkennen kann, hat sich bisher keiner der Kleistforscher ernsthaft mit dieser Briefsequenz beschäftigt. Der 17-jährige Kleist läßt die Familie Protzen grüßen – also gab es doch enge persönliche Bezüge zum Pastor, der inzwischen Nachfolger des nach Gotha gewechselten Josias Löffler im Amt des Oberpfarrers an St. Marien geworden ist. Obwohl Protzen nach der Rückkehr aus dem Feldzug 1778/79 den Dienst im königl.-preuß. Infanterie-Regiment Nr.24 quittiert hatte und 1781 das Angebot in Züllichau als Pfarrer der Zivilgemeinde der Kreuzkirche und Inspektor mit der Zusage der Ernennung zum „Wirklichen Neumärkischen Consistorialrath“ angenommen hatte, war anscheinend der persönliche Umgang des Pfarrers mit seinem Taufkind und dessen Familie erhalten geblieben zu sein. Die ist umso wahrscheinlicher, als ein Blick auf die Landkarte und die damalige kulturelle Situation der preußischen Neumark östlich der Oder zeigt, wie eng die Verflechtungen der bedeutenden Städte Frankfurt und Züllichau waren. Züllichau, nahe der Grenze zu Schlesien und Polen gelegen, hatte sich in Erwartung eines Krieges um Schlesien zu einer starken Garnisonstadt entwickelt, war ein intellektuelles Zentrum mit Verlagen, Druckereien, einem berühmten Waisenhaus, Pädagogikum und Gymnasium.

Ich sollte mir den Spieker noch einmal vornehmen – zur Biographie des Pastors Protzen und zu der ausführliche Biographie des Pastors Plothe.

Ich schrecke auf, Edda fragt nach dem Brief Kleists vom Frühjahr 1793 an die Tante, in dem er über seinen Besuch bei Löffler in Gotha berichtet und Kleists Grüße an Protzen 1795 – da gäbe es noch Arbeit für die Forscher! Ich freue mich im Stillen, kann es aber nicht so zeigen – Edda hat nicht nur angebissen, sie steckt schon tief in der chose drin! Sie meint, es seien „Protzen-Bezüge“ zu finden in Kleists Anekdote „Mutwille des Himmels“, die er für die Berliner Abendblätter, 10. Oktober 1810 verfasst habe.  

Die Pastoren, fast gleichaltrig, lässt sie wie beiläufig fallen, seien der Aufklärertradition der mittel- und ostdeutschen Theologen und Philosophen an den Universitäten, Akademien und Fürstenhöfen verbunden, was gewiß nicht ohne Wirkung auf den Frankfurter Poeten geblieben sei.

Ich werfe die Decke über das hellauf lodernde Feuer: So fruchtbar und emotional stimulierend die Debatten mit Edda sind, wir müssen diese Themen verschieben !

Denn: Ich spüre es fast schmerzhaft, körperlich und geistig, wie nötig der Anschluss der weiteren Studien der Papiere aus der Hallenser Zeit zum Verständnis der theologischen und philosophischen Entwicklung des jungen Josias geworden ist.

Mein obligatorischer Blick aus dem Fenster: Der Sommer verabschiedet sich allmählich vom Schlosspark und See, die Kinder dürfen nur noch die Füße ins Wasser tauchen, kein Vollbad mehr nehmen. Für die größeren Mädchen und Jungen steht das neue Schuljahr mit interessanten Büchern und manchen neuen Lehrerinnen vor der Tür.

Doch zurück in die Lebensgeschichte unseres Josias, zurück in das 18. Jahrhundert, zu den Halloren. Der junge Löffler, im allgemeinen Geschichts- und Erdkundewissen und mit einer Menge Neugierde für sein Alter überdurchschnittlich ausgerüstet durch Oma Margarete, erweist sich in der Salzstadt Halle als bemerkenswert guter Latein-Schüler.

Der Junge ist sich im Jahre des Herrn 1769 der Tragweite der ihm durch die beiden akademischen Lehrer Semler und Nösselt angetragenen Entscheidung für ein Studium an der preußischen „Fridericiana“ durchaus bewußt – die „Friedrichs-Universität“ Halle an der Saale war eine der beiden „Räthe-Schmieden“ des Königreiches Preußen, gegründet unmittelbar nach dem Anschluss Halles an das Kurfürstentum Brandenburg Ende des 17. Jahrhunderts durch Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, den Namensgeber, der sich im Jahre 1701 mit Billigung des Habsburger Kaisers zum preußischen König krönt.

Aus heutiger Sicht gehörte die Universität Halle zu den bedeutendsten mitteldeutschen Universitäten, hatte herausragende Politiker, Verwaltungsbeamte, Theologen und Künstler hervorgebracht wie den Komponisten Georg Friedrich Händel, die Ärztin Dorothea Christiane Erxleben, die Dichter Clemens Brentano und Freiherr von Eichendorff, den Prediger und „Patriarchen der lutherischen Kirche in Nordamerika“ Henry Melchior Muhlenberg, den Theologen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Pottendorf,  den Anatomen Johann Friedrich Meckel den Jüngeren, die preußischen Minister Karl Abraham von Zedlitz und Carl August von Struensee.

Die Theologen und Bildungspolitiker und väterlichen Freunde Semler und Nösselt verstehen es, dem heranwachsenden Schüler und Studenten Löffler aus dem thüringischen, kleinstädtischen Saalfeld verständlich zu machen, dass diese ihre Hochschule im Wirtschaftszentrum und militärischen Standort Halle an der Saale neben den Lehraufträgen und Forschungsthemen ein politisches Schwergewicht im Ringen des Königreiches Preußen um europäische Geltung besitzt.

Sie soll den beiden benachbarten traditionellen sächsischen Institutionen, der kurfürstlichen Universität von Wittenberg im Norden und der bürgerlich-patrizischen Universität Leipzig im Osten den Rang ablaufen!

Junge Leute mit schneller Auffassungsgabe sind gefragt: eine Generation des Aufbruchs, mit klarem Blick für die Herrschaftsstrukturen und ihrem künftigen Platz in der Ordnung des Staates, für die Zusammenhänge von lutherischer Theologie und den Umwälzungen in Gesellschaft, Familie und den Bildungseinrichtungen seit dem Ende des Mittelalters, mit einem neuen, antidogmatischen Geschichtsdenken, mit dem Bedürfnis nach moderner pädagogischer Praxis und der persönlichen Bereitschaft, alles für den König, für dessen Staatsraison, für die erstrebte Größe Preußens zu geben. Ich glaube, dass Josias sich dieser Herausforderung bewusst  ist, dass er schon in sehr jungen Jahren die kostbaren Privat-Bibliotheken seiner Lehrer nach Lebensmaximen durchwühlt, sich nach anspruchsvollen Lehraufträgen drängt, nach historischen Persönlichkeiten sucht, an denen er sich reiben kann, bei deren kritischer Auseinandersetzung er geistig wachsen kann. Die jüdischen Propheten, die Kirchenväter, der heilige Bonifacius mitsamt seinen päpstlichen und klerikalen Zeitgenossen, die Fürsten der Franken der vorkarolinischen Periode werden den Studenten, den Theologen und Pädagogen Josias Löffler lebenslang begleiten und herausfordern, in Halle, in Berlin, in Frankfurt an der Oder und am Ende des Weges wieder in Thüringen, in Gotha.

Aber – wie bei so vielen Persönlichkeiten dieser Zeit der großen Umwälzungen anzutreffen – Josias Löfflers Loyalität, seine politische und geistige Leidenschaft ist an eine bestimmte, historisch konkrete Person gebunden, an die des jeweiligen Herrschers, des Fürsten, dem er Treue schwört und dessen Willen er sich unterwirft. Es ist der preußische König Friedrich II., dem er sich seit seiner Studentenzeit bis 1786, dem Todesjahr des großen Strategen von Potsdam, mit Haut und Haar verschreibt. Und es ist der Aufklärer Herzog Ernst im Schloss auf dem Friedenstein von Gotha, dessen Ruf er 1788 bereitwillig folgt und dessen Programm er mitträgt. Neben diesen beiden Herrscherfiguren ist es ein dritter deutscher Fürst, dem er in seiner Frankfurter Zeit persönlich verbunden ist, jener Braunschweiger Prinz Leopold, gleichaltrig mit Josias, der Bruder der Weimarer Herzogin Anna Amalia, zu dessen Vertrauten Lessing gehört, der seine kulturelle und geistig-theologische Bildung und Erziehung in den Kinder- und Jugendjahren durch den bekannten Abt Jerusalem erhielt. Gehe ich fehl – störe ich Edda in ihren Studien – wenn ich den Prinzen und den Theologen, in ihrer charakterlichen Ausprägung und ihren Zielen, zu „Stürmern und Drängern“ erhebe?

Der Prinz, ranghöchster Militär der preußischen Garnison Frankfurt an der Oder ist nicht nur Haus-Nachbar des Generalsuperintendenten Löffler, des obersten Verantwortlichen für das Kirchen- und Bildungswesen der Stadt Frankfurt, den er gern und oft zu seinen geselligen Abenden  im Salon des Kommandantenhauses im  „Nonnenwinkel“ einlädt. Er ist mit ihm auch eng verbunden im Ringen um  die Durchsetzung seines Lieblingsprojektes, einer Regiments-Schule für die Kinder seiner Soldaten.

Edda, die sich durch die wiederholten Störungen zum wilden Gestikulieren heausgefordet fühlt, ruft mich zur Ordnung:

Wäre ich schon wieder von der geraden Linie des Biographischen bei Josias abgewichen ? Warum dränge sich immer wieder das Anliegen der großen Romanciers der Neuzeit in meine streng begrenze Historiographie hinein, in dem ein junger Mann aus der Provinz sich aufmacht, sein Glück in der Metropole zu machen, in Paris, London, St.Petersburg ?

Edda meint, ich verkenne doch die Besonderheit der deutschen geistigen und politischen Situation im Vergleich zu den anderen europäischen Nationen – es gäbe doch keine Metropole! Es gäbe München, Frankfurt am Main, Hamburg, Braunschweig und Hannover, später kommend Berlin und Potsdam – aber es gäbe keinen deutschen kulturellen strahlenden Mittelpunkt, zu dem sich Dichter, Professoren, Musiker hingezogen fühlten! Und kein deutscher Dichter könne sich deshalb diesem Thema widmen, wie ich es in meiner Saalfelder Naivität erträumte!

Der junge Josias Löffler also erhofft sich sein Glück in Halle an der Saale, nicht in Göttingen, München oder Köln. Sein Übergang von der Lateinschule zur Universität verläuft 1768/69 ohne Reibungsverluste, nachdem er den Winter bei der Mutter und den Geschwistern in der Heimatstadt verbracht hatte. Schon am Ende des zweiten Semesters ließ ihn Professor Nösselt in seinem Haus wohnen mit dem Vorzug der Benutzung der privaten Bibliothek und Teilnahme an bedeutenden wissenschaftlichen Konferenzen – wie er auch in den engeren studentischen Mitarbeiterkreis von Professor Semler als Mitglied und später Senior des „theologischen Seminariums“ aufgenommen wurde – Voraussetzungen einer erfolgversprechenden wissenschaftlichen Laufbahn. Damit ist Josias Löffler schon als Student in die Auseinandersetzungen um  theoretische und politische Weichenstellungen an den preußischen Universitäten unter der Regentschaft König Friedrichs II. einbezogen.

Was begeisterte Josias an seinen akademischen Vorbildern? Konnte der 18-jährige Student die neuen theoretischen und methodischen Ansätze erkennen, durch die sich Semler und Nösselt aus der Masse der Kollegen an den deutschen Universitäten heraushoben? Vermutlich nicht in allen Einzelheiten der Dogmatik, der Interpretation des Neuen Testaments, der Homiletik, der Auseinandersetzung mit den Schriften der französischen, holländischen und englischen Theologen, aber doch in jener Grundfrage, die man auch in den frühen Schriften Löfflers wiederfindet: wie halten wir es mit der Geschichte? Können wir die christlichen Glaubensgrundsätze der Bibel und der Kirchenväter dem strengen Urteil der Geschichtswissenschaft unterwerfen? In jenen Jahren gehört ohne Zweifel das aufsehenerregende Buch des französischen Theologen Matthieu Souverain „Platonismus devoilé“  in seiner französischen Urfassung zu seiner bevorzugten Lektüre, reift der Gedanke an eine Übersetzung ins Deutsche in ihm, wohl auch der Plan, für diese Übersetzung einen Verleger zu finden. Auf der Suche nach einem Verleger spielt der Züllichauer Pädagoge und Theologe Steinbart schon in jenen Jahren eine entscheidende Rolle. Die Verbindungen Steinbarts zur Universität und  zum Waisenhaus von Halle führen zu der engeren Zusammenarbeit schon des jungen Löffler mit dem Züllichauer Verleger Frommann.

Leider habe ich die Quelle jener Bemerkung des jungen Josias nicht mehr zur Verfügung, in der sich unser vielversprechender Theologe über die Liebe der Hallenser Wissenschaftler zu den Ideen der französischen Aufklärung, zu der frischen Luft, die über den Rhein ins verstaubte orthodoxe Deutschland herüberwehte, zu den bewundernswerten Beiträgen der Frauen in Frankreich in den Wogen der neuen Literatur und Philosophie des neuen Europa sich ausbreitet.

Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass Semmler und auch Nösselt von den intellektuellen Fähigkeiten ihres Schützlings schon beim Umzug von Saalfeld nach Halle überzeugt waren, so dass sie ihn sofort in der Lateinschule beziehungsweise dem Pädagogikum anmeldeten. Man kann gewiss davon ausgehen, dass insbesondere Nösselt in dem Jungen ein Ebenbild seiner Person und seiner eigenen Charakterzüge (intellektuelle Neugier, Liebe zur Geschichte, zu antiken und modernen Sprachen, kritische Einstellung zum angebotenen Lehrstoff) erkannte und alles zur Förderung dieses Talents tat.

Auch wenn wir bisher nur wenige schriftliche Belege aus diesen ersten Hallenser Schuljahren von Josias Löffler besitzen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er in engem Kontakt zu diesen beiden Professoren und deren Familien stand:

1762, am Ende des Siebenjährigen Krieges stirbt der Vater. Semler holt den vielversprechenden Jungen nach Halle, um der Mutter die Kosten für die Schule in Saalfeld zu ersparen. Dieses Geld kommt dem ältesten Sohn der Familie zugute, wie es Sitte ist in jenen Jahren.  Fünf Wochen später, mit 11 Jahren, 1763, wird Josias in das Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen aufgenommen.

Unter den Papieren finde ich ein Blatt mit Löfflers Handschrift, das in wenigen Zeilen Hinweise auf die Lateinschule und den Übergang zur Universität in Halle enthält. Das Blatt war versehentlich in die Tagebuchnotizen während des Feldzugs von 1778/79 geraten:

… schließlich war ich von dieser Versuchung erlöst – der Professor Semler, dessen Eltern in der Nachbarschaft unseres ehemaligen Hauses am Markt von Saalfeld wohnten, ein guter Freund meines verstorbenen Vaters, war von der Universität Halle heruntergekommen, um mich einer Prüfung zu unterziehen, von deren Ausgang es abhing, ob ich als Freischüler in die berühmte Franckesche Stiftung aufgenommen werden durfte. Professor Semler fand mich gut geeignet, die Lehrer an der Saalfelder Schule hatten mich gut präpariert, mein Griechisch und Latein fand Semler passabel und auch die Anfänge des Hebräischen gefielen ihm ausnehmend gut. Ich bezog zu Michaelis die Hallesche Schule, ich war elf Jahre, war glücklich und bedauerte keineswegs den Verlust des reizenden Mädchenleibes im nunmehr verlassenen Kinderbett. An der Franckeschen Schule herrschte ein strenger Wind, nur Jungs, harte, fast militärische Disziplin – eben Preußen! Ende September, Anfang Oktober war es schon empfindlich kühl in jenem Jahr, der Herbst vertrieb nun mit Macht die süßen Gefühle, die der warme Körper meiner blonden Cousine hinterlassen hatte.“

Hier endet abrupt die Beschreibung des Josias Löffler – er hat den Rest vermutlich verbrannt, zu gewagt der Text für einen lutherischen Feldprediger.

Der Unterricht machte ihm am Beginn zu schaffen, alles war anders als in Saalfeld. Ihm fehlte die Mutter und Oma Margarete, ihm fehlte die Zuneigung der Lehrer in der Schule, ihm fehlten die Thüringer Berge. Den ersten Lehrer, den Hochwürdigen Herrn Doktor Gotthilf August Francke, konnte er nicht ausstehen, der war der Sohn des berühmten Stiftungsgründers August Hermann Franke, und ließ die Schüler die Ehrwürdigkeit und Unnahbarkeit des Vaters in jedem Augenblick spüren.

Es war nicht nur kühl, es war bitterlich kalt in der Halleschen Anstalt! Doch dann erkrankte der ehrwürdige Herr Doktor, mehrere jüngere Aushilfs-Lehrer – noch Studenten der Universität – nahmen sich Josias und seiner Mitschüler an, der trockene historische Stoff lebte in ihren Geschichten auf, das Latein, das Griechische gewann Farbigkeit, die Landkarten des Heiligen Landes ließen ihnen die Burgen der Kreuzritter und der Muselmanen, die Heldengestalten des Richard Löwenherz, des Kaisers Barbarossa und des großen arabischen Sultans Saladin auferstehen.

Die Autorität der jungen Lehrer hatte durch diese angenehme Art und Weise des Unterrichts nicht etwa gelitten – im Gegenteil, die Bewunderung für die Hilfslehrer hatte ihre Wissbegierde gestärkt, die Schüler wurden munterer, neugieriger, konnten kaum den Beginn der Stunden erwarten. Kurz vor Weihnachten genaß der Doktor von seiner Influenza, zu ihrer Verblüffung aber kam er am Morgen mit einem der Hilfslehrer in die Klasse, setzte sich in die letzte Reihe und beobachtete den Unterricht, ohne ein Wort zusagen. Man erholte sich schnell von der Überraschung, der Unterricht verlief wie gewohnt – die Hilfslehrer blieben dann bis Ostern.

Glücklicherweise hat sich ein weiterer Brief Löfflers erhalten, der auch Aufschluss gibt über jene Jahre in Halle – ein Brief, den er aus Gotha an seine noch in Frankfurt geblieben Ehefrau Dorothea im Jahre 1789 schrieb, mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten: 

„Wer war es aus den Reihen der Lehrer an der Universität, der auf mich aufmerksam wurde? Ich spürte die besonderen Aufgaben, die mir bei dem Eindringen in die Religionsgeschichte, in das Studium der verzwickten Geheimnisse der hebräischen Sprache gestellt wurden, die mich zwangen, gründlicher als an der Schule die Originaltexte zu lesen, die hebräischen, griechischen und lateinischen Fassungen der Bibeltexte und Briefe miteinander zu vergleichen, die offensichtlichen Widersprüche in den Erklärungen der Kirchenväter zu erkennen. Es war besonders die wissenschaftliche Herausforderung, die in Hebräisch überlieferten Texte ohne die Zwischenstufe des Griechischen ins Deutsche zu übersetzen, die mir Jahre später die Zuversicht gab, mich in Zusammenarbeit mit dem Verleger Friedrich Nicolai an dem Projekt des großen Moses Mendelssohn zu beteiligen, die fünf Bücher Moses in einer neuen Fassung ins Deutsche zu übertragen.

Semler und auch Nösselt waren mir von allen die Vertrautesten, die mich geistig nicht ruhen ließen, die mir alles abverlangten, was ich zu leisten imstande war. Sie glaubten an mich, an meine Berufung. Ich hatte unbegrenzten Zugang zu ihren Häusern, zu ihren Bibliotheken. Ihre Geduld war unerschöpflich, selbst in brenzligen Situationen, die das rauhe, aber auch oft romantische Dorfleben so mit sich bringen, die nächtlichen Spaziergänge, die Tänze auf der Tenne und manchmal auch etwa mehr Bier als der junge Körper vertrug.  Semler hatte mich einmal im Diesseits eingefangen wie ich glaubte für die Ewigkeit, hinter den Grenzen aller theologischen oder philosophischen jenseitigen Offenbarungen, mich, der ich einmal sogar die Universität verlassen wollte. Er nahm mich am nächsten Morgen nach dem Seminar beiseite, wanderte mit mir zum Giebichenstein. Sein scharfer Blick hatte meine Seelenlage durchdrungen, die Nöte des jungen Einzelgängers erkannt. Er drohte nicht, er lockte nicht, er erzählte seine ureigenste Version der biblischen Geschichte von Josef, dem Hebräer in Ägypten, so wie ich sie noch nie gelesen, noch nie gehört hatte.  Unsere Blicke folgten der ruhig fließenden Saale, den Weiten der Hügelkette, den Feldern und Wäldern am anderen Ufer, ohne Worte nahm mich Semler bei den Händen, führte mich zur Bank unter einer Birke. Während er von Joseph erzählte, kritzelte er mit einem Zweig Zeichen in den Sand zu unseren Füßen, Kreise, Ellipsen, allerlei zufällig sich berührende und wieder auseinanderstrebende gekrümmte Linien. Ich war verwirrt – ich konnte weder aufmerksam auf die Erzählung achten noch gleichermaßen die Spitze des Zweiges im Sand verfolgen. Schließlich gab Semler das Spiel auf – er hatte sein Ziel erreicht, er hatte mich in eine Sackgasse geführt, aus der ich mit eigener Kraft nicht mehr herauskommen würde.

Auf dem Rückweg kamen wir an einer Tischlerwerkstatt vorbei; da Semler den Meister gut kannte, ließ er unserem jungen Freund einen Blick in das geheimnisvolle Innere der beiden Arbeitsräume werfen. In der ersten, größeren Kammer lagerten die Rohhölzer in ihren unterschiedlichen Farben, ihren Gerüchen. Die großen, frisch aus dem Wald geschnittenen Bretter und Bohlen lagerten gestapelt auf Querhölzern, damit sich die Luft dazwischen bewegen kann. Deshalb waren auch die großen Fenster tagsüber geöffnet und deshalb herrschte hier auch eine angenehme Kühle, auch im Sommer. … Im zweiten Saal standen die Arbeitsbänke der Gesellen und Lehrlinge – insgesamt acht Menschen waren beschäftigt. Die Mitte des Raumes nahm der heiße Ofen ein, er diente dem Warmhalten des Leimes, dem Vorwärmen des zum Zusammenkleben vorgesehenen Holzes und natürlich auch der Schaffung einer wohligen Atmosphäre für die Arbeiter in den kalten Wintertagen …

Du fragtest im letzten Brief nach den Halloren, liebste Dörte. Während meiner etlichen Erzählungen über die Hallischen Jugendjahre war es mir nie in den Sinn gekommen, diese Eigentümlichkeit der Hallischen Gegend zu beschreiben – sie war für mich nach dem langen Aufenthalt dort so selbstverständlich wie der Holzhandel für den Oberlauf der Saale, meiner Heimat. In Berlin legen die braven Bürger, die Professoren, die Hofbeamten ihre Einnahmen und ihr Erspartes im Handel mit Tuchen, Porzellan, Büchern, Waffen, Schmuck an, in Halle an der Saale seit Urväter Zeiten in Salz! Die Familien der Professoren, das konnte ich in den Häusern von Semler und Nösselt selbst hautnah täglich spüren, lebten von den Einkünften aus den Salinen, den Salzköthen, an denen sie Beteiligungen hatten. So waren auch sie Entrepreneurs und konnten es sich leisten, manchem Bedürftigen ein Zimmer unter ihrem Dach anzubieten – zu einem geringeren Zinssatz als der nicht mir der Universität verbundene Bürger der Stadt. Du weißt, auch ich als Halbwaise habe davon profitiert.“

Es war Zeit, für den heutigen Nachmittag die Papiere beiseitezulegen. Edda versuchte noch einige Fragen, ich konnte sie nur auf die nächsten Tage vertrösten. Noch in der Tür gab sie mir auf den Weg: Und wie war er denn als Absolvent, hatte er Prüfungsangst? Wie haben sie sich auf die Examen vorbereitet, damals. Und wie schaffte er es, eine der begehrten Stellen in der Residenz Berlin zu ergattern?

Dr. Dieter Weigert 24. Juli 2023 Berlin Prenzlauer Berg

(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)

LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663

LINK zu Folge 2: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33899

LINK zu Folge 3: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34059

Dieter Weigert, Berlin 24. Juli 2023

Ein preußischer Hauptmann (+ 1941), ein sowjetrussischer Diplomat (+ 1923) und ein Kardinal – Wilhelm von Braun im Fadenkreuz brauner Mörder

Gedenken an Dr. Wilhelm von Braun

Der Fernsehsender 3sat strahlte am 4. Mai diesen Jahres eine historische Dokumentation unter dem Titel „Die Affäre Conradi“ aus. Nichtssagend die Produktion des Schweizer Fernsehens SRF auf den ersten Blick, aber überraschend aktuell für mich, da ich mich seit Jahrzehnten mit dem Schicksal des preußischen Hauptmanns Wilhelm von Braun beschäftige und bei diesen Recherchen auf den Namen des sowjetrussischen Diplomaten Worowski gestoßen war, der 1923 durch einen rechtsextremen schweizerisch-russischen Offizier in Lausanne ermordet worden war.

Während einer Veranstaltung auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof hatte ich im August 2011 Gelegenheit, in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Fördervereins an das Schicksal jenes preußischen Hauptmanns zu erinnern.

Ich erlaube mir, aus dieser Rede zu zitieren – mit wenigen Aktualisierungen:

„Wir gedenken heute eines Mannes, dessen Lebens- und Leidensweg mehrfach die überkommenen Leitlinien des königlich-preußischen Offiziers des 19. /20. Jahrhunderts durchbricht.

Das Leitbild, wie es die Knesebecks, Brauchitschs, Holzendorffs, Lützows hier auf diesem Berliner Offizierskirchhof an der Linienstraße verkörpern, wird durch die vier Eckpunkte bestimmt:

erstens – Offizier von der Wiege bis zur Bahre,

zweitens – protestantisch,

drittens – normgerechtes Familien- und Sexualverhalten und schließlich

viertens – politisch neutral, passiv  und loyal gegenüber der staatlichen Obrigkeit.

Hineingeboren 1883 in eine typische ostelbische Offiziersfamilie – Vater Regimentskommandeur, einer der Ahnen sogar Stadtkommandant Berlins am Ende des 18. Jahrhunderts – nimmt Wilhelm von Braun schon in jungen Jahren, kurz nach der Beförderung zum Artillerie-Leutnant im Jahre 1904,  den Abschied, um sich der Wissenschaft und der Rechtsprechung zu verschreiben. Er promoviert 1910 an der Universität Heidelberg zum Dr. jur. und promoviert nach Aussagen seines Neffen Ralph von Gersdorff (Brief an mich vom 2.Oktober 1995 und mündliche Aussage bei einem Besuch im Jahre 1996) zum Dr. theol. wie auch zum Dr. rer. pol. , was wir bisher nicht nachweisen können.  Der erste Ausbruch muss inkonsequent bleiben, da ihn der erste Weltkrieg holt – an die Ostfront, die er zwar überlebt, und in türkischen Diensten.  Er beendet den Krieg in russischer Gefangenschaft.

Der zweite Ausbruch, das Verlassen der protestantischen Gemeinschaft, der Übertritt zur römisch-katholischen Kirche, erfolgte vermutlich schon im Jahre 1912, wie der Journalist Hansjakob Stehle nach Recherchen in den Archiven des Vatikan schreibt. Es war die Freundschaft mit dem katholischen Priester Giuseppe Pizzardo, dem späteren Unterstaatssekretär im Vatikan und Kardinal, die ihn zu diesem Schritt führte.  

Pizzardo war ab 1909, also während der Studienzeit Brauns, in München Mitarbeiter der dortigen päpstlichen Nuntiatur. Über geistige, weltanschaulich-philosophische Beweggründe für diese Entscheidung ist nichts bekannt. Der Übertritt zum Katholizismus manifestiert sich vermutlich auch durch die Freundschaft zu dem polnischen Ingenieur Worowski, den er in München kennenlernt, während des Exils, in das Worowski als Sozialdemokrat (Bolschewiki) durch das Zarenregime gezwungen wurde.

Vaclav V. Worowski

Den dritten Bruch mit der Tradition, das offene Bekennen zur Homosexualität, vollzieht Braun auch schon in der Zeit vor dem Weltkrieg. Um den Verfolgungen auf der Grundlage des § 175 im Kaiserreich zu entgehen, geht Braun in das in dieser Hinsicht liberale  und tolerante Italien.

Und schließlich der endgültige Bruch – unmittelbar nach den Erlebnissen des Krieges der Eintritt in die praktische Politik, der Einsatz für die Ziele des Humanismus, des Friedens, der internationalen Zusammenarbeit. Es ist wiederum der befreundete Giuseppe Pizzardo, der die Fäden zum Vatikan knüpft. Der Vatikan versucht, die mit der Neuen Ökonomischen Politik Lenins verbundene Öffnung zum Westen zu nutzen und  bemüht sich um Kontakte zur Sowjetregierung, deren offizieller Vertreter als Chef einer Handelsmission in Rom der aus einer polnischen Familie stammende Ingenieur, Ökonom und Publizist, der Katholik Worowski ist, den der rechtsextreme Terrorist Conradi zwei Jahre später in der Schweiz erschießt. Worowski und Wilhelm von Braun kennen sich aus der gemeinsamen Zeit in München in den Jahren vor 1910 – Worowski, einer der wichtigsten Vertreter der Auslandsorganisation der Bolschewiki  in Deutschland und der Schweiz und Braun, der Jura-Student. Die erste Aufgabe Brauns in der Zusammenarbeit mit Pizzardo und Worowski im Jahre 1921 ist die Vermittlung von Hilfslieferungen der westlichen Staaten über den Vatikan für die hungernde russische Bevölkerung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese intensiven, aber informellen Kontakte Berlin – Moskau – Vatikan sich in jener Periode festigen, in der der Katholik Joseph Wirth Reichskanzler ist.

Aus diesen ersten Kontakten entwickelt sich eine Kette diplomatischer Aktivitäten, die schließlich in die Konferenz von Rapallo und die enge Zusammenarbeit des Deutschen Reiches mit Sowjetrussland ab 1921 führt. Dr. Wilhelm von Braun hat aktiven Anteil an dieser Entwicklung durch die Herstellung von Kontakten von deutschen Großunternehmen wie z.B. Siemens & Halske und Banken mit Sowjetrussland und daraus folgenden Angeboten von joint ventures zwischen dem Vatikan, Deutschland und Sowjetrussland.

In diese Periode fällt die Ermordung seines Freundes Worowski durch jenen schweizerischen Rechtsextremisten Moritz Conradi am 10. Mai 2023 in Lausanne.

Nach 1924 lebt Braun in verschiedenen Ländern, vermutlich in China, Italien, Deutschland – meist bei den Benediktinern.  Die politischen Hintergründe liegen im Dunkel, auch die weiteren Kontakte zu Moskau, geben aber Anlass zu Spekulationen – ebenso wie der überraschende Eintritt in die Nazipartei 1933.

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Die vier Ausbrüche enden 1935 mit der Verhaftung durch die Gestapo und die Einlieferung in das Konzentrationslager Dachau. Damit beginnt der Leidensweg durch die Gefängnisse und Konzentrationslager des NS-Regimes – Dachau, Mauthausen, Buchenwald. Nichts bleibt ihm erspart, der Status als politisch Prominenter wird sein Leiden noch verschärft haben, wie der Vermerk „Steinbruch“ auf einer Karteikarte der SS vom Jahre 1940 belegt.

In den KZ-Unterlagen wurde er als „prominenter Häftling“ geführt.

Was hatte es mit dem sogenannten Prominentenblock im KZ Buchenwald auf sich? Im Archiv Arolsen gibt es zwei undatierte Listen, jeweils überschrieben: „Prominente Häftlinge im K.L. Buchenwald“. Eine ist mit Sicherheit nach dem Februar 1940 angelegt worden, sie enthält Namen, darunter auch den des Dr. Wilhelm von Braun mit folgender Personenbschreibung: „Theologe, § 175, Hauptmann a.D., Polizei-Agent, Verbindungsmann zum Vatikan, Sowjetbotschafter in Rom“.  Die zweite Liste ist zwar auch überschrieben mit „Prominente Häftlinge im K.L. Buchenwald“, wurde aber in den Unterlagen des KZ Dachau gefunden. Die Eintragungen zu einzelnen Namen zeigen, dass die Liste von Mitte April 1940 stammt. Die Eintragung zu Braun ist gestrichen mit dem Vermerk 14.4.40.

Zur „Prominenz“ dieser Listen zählen u.a. Funktionäre der KPD auf Landesebene der Weimarer Republik, Hohe Staatsbeamte, katholische Priester, Militär und Gendarmerieoffiziere der ehemaligen Republiken Österreich und Tschechoslowakei.

Am 29. August 1941 wird Wilhelm von Braun durch eine Gift-Injektion ermordet. Die Schwester Bertha erhält im Winter 1941 die Habseligkeiten ihres ermordeten Bruders. Offiziell schreibt der zuständige SS-Offizier auf die Rückseite der Karteikarte mit der Auflistung des Eigentums.  „Der Nachlaß wurde am 19. Dezember 1941 der Kripo-Leitstelle Berlin zur Aushändigung an die Schwester des Verstorbenen übersandt.

W. v. Brauns Schwester Bertha

Seine Schwester, selbst dem Widerstand gegen das NS-Regime verbunden und später  vor dem „Volksgerichtshof“ angeklagt, setzte mutig durch, dass die Urne mit der Asche des Ermordeten im Familienbegräbnis auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof im Oktober 1941 ihren Platz fand.

Die Mutter Geros von Gersdorff, Bertha Friederike von Gersdorff-Büttikofer, geb. von Braun, wurde durch das NS-Regime nach dem 20. Juli 1944 festgenommen, da sie in Verbindung zu einer Widerstandsgruppe stand. Sie wurde vom „Volksgerichtshof“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und am 23. April 1945 durch die angesichts der sich nähernden Roten Armee verunsicherten Wärterinnen des Gerichtsgefängnisses in Berlin-Charlottenburg freigelassen.

Für die Verbindung der Familie Wilhelm von Brauns mit dem antifaschistischen Widerstand sprechen auch die Aktivitäten des Sohnes der Schwester Bertha, des Offiziers der Wehrmacht Gero von Gersdorf, der nach Aussagen von Familienangehörigen in Kontakt zu der Gruppe um von Tresckow stand, bei einem Einsatz für die Gruppe Ende 1941 an den Folgen eines Flugzeugabsturzes ums Lebens kam und auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof in der Familiengruft Braun/Gersdorf beigesetzt wurde.

Das Familienarchiv (Texte, Dokumente und Fotos) wurde uns freundlicherweise in den 90er Jahren durch den in Washington, D.C. (USA) lebenden Bruder des Rittmeisters Gero von Gersdorff und Neffen Wilhelm von Brauns, Dr. Ralph von Gersdorff, zur Verfügung gestellt. Er ist im Jahre 2006 verstorben, wie aus einem Nachruf der Washington Post hervorgeht.

Leider ist die Grabanlage der Familie von Braun mit den Grabdenkmalen des Vaters und der Mutter Wilhelm von Brauns, die noch 1978 in der von Peter Rohrlach angelegten Liste der auf dem Garnisonfriedhof vorhandenen Grabstätten aufgeführt sind (Platz 4, 3. Reihe, Nr. 299), abgeräumt worden.

Gedenken gilt ebenfalls der polnischen Widerstandskämpferin Sonia Horn, die während der Straßenkämpfe in Berlin ums Leben kam sowie zwei deutschen Soldaten, die noch in der letzten Kriegswoche bei den Kämpfen im Stadtzentrum dem Wahn der NS-Führer zum Opfer fielen – dem 18-jährigen Toni Feller (getötet am 2. Mai 1945) und dem 50-jährigen Johannes Volkmann (getötet am 27. April 1945), beide in Einzelgräbern auf dem Friedhof beigesetzt.“

Soweit die Gedenkrede aus dem Jahre 2011 – heute angesichts der zunehmenden Militarisierung unseres Landes und der kriegtreiberischen Aktivitäten führender Mitglieder der gegenwärtigen Regierung aktueller denn je.

Dr. Dieter Weigert, Vorsitzender des Fördervereins Alter Berliner Garnisonfriedhof e.V., 18. Juni 2023

Frankfurt am „frostigen Ufer der Oder“ – das Schicksal einer deutschen Universität

CREUTZ – HUMBOLDT – LÖFFLER – KLEIST

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Jochen Klepper (1903 – 1942), von heutigen Verfechtern des deutschen Konservatismus zu einem ihrer Stammväter auserkoren, ließ in seinem schriftstellerischem Hauptwerk „Der Vater. Roman eines Königs“ eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der ersten Jahrzehnte des preußischen Königreiches, Ehrenreich Bougslav von Creutz, vom ersten bis zum letzten Kapitel als ALTER EGO des Königs Friedrich Wilhelm für unsere Zeitgenossen auferstehen..

Dieser CREUTZ, erst später geadelt, führt uns nach Frankfurt an der Oder, an die alt-ehrwürdige VIADRINA. Von Creutz war der ranghöchste preußische Politiker, der an der Frankfurter Universität studiert hatte -heute nur einigen Preußen-Historikern bekannt, wie auch das Schicksal seiner Alma mater . Der 31. Juli des Jahres 1690 ist der Tag seiner Einschreibung als Student – stammend aus Stargard in Pommern – an der Oder-Universität – (Quelle: Ernst Friedlaender – Herausgeber, Aeltere Universitäts-Matrikeln. I. Universität Frankfurt a. O., Zweiter Band, Leipzig 1888, S. 214). Seinen Familiennamen schreibt er noch als CREITZ, den ersten Vornamen aber schon wie später auch EHRENREICH, den zweiten ursprünglich BOGISLAFF – daraus wird dann in den amtlichen Dokumenten Bogislav oder auch Boguslav. Vermutlich hatte er aus Gründen der späteren Laufbahn-Verheißung die juristische Fakultät gewählt, was auch die spätere Stellung als Militärjurist (Auditeur) im Regiment des Kronprinzen erklärt.
Diese Periode der Oder-Universität ab 1690 ist sowohl im juristischen wie auch im naturwissenschaftlich-technischen Bereich mit den Namen solcher Persönlichkeiten der Aufklärung verbunden wie Heinrich Cocceji, Leonhard Christoph Sturm, Johann Friedrich Retz. Etwa gleichzeitig mit Creutz studierten der Sohn seines Professors Cocceji, Samuel, an der Oder-Universität, der spätere preußische Justizminister und Großkanzler, wie auch andere Aspiranten auf höchste und höhere Positionen im kgl. preußischen Herrschaftssystem.
Die chronologisch erste überlieferte Personal-Urkunde des Ehrenreich Boguslav Creutz ist die seiner Bestallung als Rat und Kammer-Rat des Kronprinzen Friedrich Wilhelm im Jahre 1705 mit einem Jahresgehalt von 600 Talern. Diese Urkunde erwähnt seine bisherige Stellung als „Kriegs-Oberauditeur“, nicht aber seinen Universitäts-Abschluss.

Quelle: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Aus dieser ersten Tätigkeitsperiode des kronprinzlichen Rats ragt die Urkunde vom 18. November 1710 (fortgesetzt bis 13. Februar 1711) wegen ihrer politischen Bedeutung heraus: sie belegt die Teilnahme des (nun schon geadelten) Rats von Creutz an der Tätigkeit der vierköpfigen Untersuchungskommission zu den Verfehlungen der Minister von Wittgenstein, von Wartensleben und des Premierministers von Wartenberg.

Quelle: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Auszug, Bl. 1)

Unterschrift des Rats von Creutz unter das letzte Blatt des Untersuchungsberichts, Quelle: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Aus der Reihe der unzähligen Autoren, die sich mit der Geschichte des preußischen Hofes und seiner Persönlichkeiten v0n Rang in den letzten dreihundert Jahren beschäftigt haben, sind nur eine Handvoll zu nennen, die ernsthaft und gründlich rechercherten und somit auch die Rolle des Geheimrats von Creutz, des Absolventen der Oder-Universität Frankfurt, angemessen darstellten. Zu ihnen gehört Eduard Vehse. Ich erlaube mir, ihn im Kontext seiner Beschreibung des Abbruchs einer Reise des Kronprinzen Friedrich Wilhelm im Jahre 1705 zu zitieren: „. . . Er ward König, ohne gereist zu haben: die Feldzüge, die er als Prinz mitmachte, waren nicht geeignet, ihm freiere Begriffe zu erwerben. Bei seiner Zurückkunft ward er zu den Sitzungen des Staatsrats zugezogen und erhielt auch von seinem Vater endlich zur höchsten Freude ein Infanterieregiment. Bei der ersten Musterung desselben fand er einen Mann, dessen Größe ihn überraschte, den Auditeur Ehrenreich Bogislaus Creutz, einen Amtmannssohn. Dieser ward ihm sehr lieb, er machte ihn zu seinem Sekretär, der König adelte ihn 1708 auf die Empfehlung seines Sohnes, und sobald dieser den Thron bestiegen hatte, erhob er ihn zum Minister . . .“ (Eduard Vehse, Illustrierte Geschichte des preußischen Hofes bis zum Ende Wilhelms I., Bd. I, Stuttgart 1901, S. 174 f)

Ich erlaube mir- unbescheiden, wie man als Bloggist sein muss – dem lesenden Publikum entsprechende Passagen zu Creutz aus meinem Sachbuch (keine Poesie !) aus dem Jahre 1997 zu präsentieren:

Wo aber, fragt der Leser, ist der Bezug des Mannes Creutz zum Hackeschen Markt in Berlin ?

Er liegt in den familiären Beziehungen des von Ceutz zu dem Grafen von Hacke, dem Namensgeber des Platzes in Berlin-Mitte und ebenfalls einem Vertrauten des jungen Königs.
Ungebeten schlage ich das Buch auf (Seite 22): „Das Jahr 1732 bringt einen weiteren entscheidenden Einschnitt in das Leben des Offiziers von Hacke. Sein König verlangt von ihm ein Opfer – ein Frauenopfer. Auf allerhöchste Ordre soll er heiraten. Der König selbst tritt als Brautwerber auf. Nicht eine Dame eigener Wah|,sondern ein adliges Fräulein, um das Wohl des Staates willen. Der Vater hatte einen Schwiegersohn aus Sachsen ausgesucht- König Friedrich Wilhelm verweigert die Zustimmung: kein Stück preußischen Eigentums sollte nach Sachsen wechseln. Der zur Heirat vergatterte von Hacke ist überrascht, zögerlich, die vorgesehene Braut sträubt sich mit Händen und Füßen, die Mutter kniet vor dem König und bittet um Verständnis für die Wünsche der Familie, der Vaterder Braut trifft sich heimlich mit unserem Hacke und verspricht ihm die für damalige Verhältnisse beträchtliche Summe von 25.000 Talern für den Verzicht, der zugleich eine Befehlsverweigerung gegenüber dem König wäre. Hauptmann von Hacke bedenkt sich kurz- dann verabschiedet er den künftigen Schwiegervater mit den Worten: Herr Geheimer Rat, ich habe nun Geschmack an der Sache gefunden, ich nehme die Tochter und ich gedenke die 25.000 als Teil des Gesamtvermögens lhrer Familie, der Familie von Creutz, auch ohnehin zu bekommen.
Vater und Tochter Sophie Albertine mußten sich fügen, der Vater, Geheimrat des Soldatenkönigs und dessen oberster Kassenprüfer und allmächtiger Mitdirektor des Generaldirektoriums konnte es schwerlich wagen, die Pläne seines Herrschers zu durchkreuzen.
König Friedrich Wilhelm hatte sich aus prinzipiellen Gründen sehr entschieden in die Heiratspläne seiner Untertanen eingemischt. So ist eine allerhöchste Anweisung aus dem Jahre 1739 bekannt, das „Edict Wieder die allzuungleiche und zum Theil schändliche Heyrathen derer von Adel in den Königl. Landen“.
Herr Boguslav Ehrenreich von Creutz war einer der Klügsten, einer der Zielstrebigsten und einer der Zähesten im Preußen des 18. Jahrhunderts. Am Ende seiner Laufbahn gehörte er zu den wohlhabendsten Grundbesitzern am königlichen Hofe. Zweimal hat er sich das Wohlwollen seines Königs fast verscherzt – und beidemale ging es um eine Frau. Die erste Affäre hatte er als Mittvierziger, sehr zum Mißvergnügen eines adligen Konkurrenten und sehr zum Verdruß seiner Ehefrau. Gegenstand der Begierde war ein Fräulein am Hofe der Königin, ein Edelfräulein von Wackenitz (oder Wagnitz).
Creutz war über 20 Jahre älter als das Fräulein, neben den körperlichen Reizen waren es wohl die lnformationen über die politischen Vorgänge im Umkreis der Königin, die den obersten Rechnungsführer des Königreiches zum Fräulein hinzogen und ihn veranlaßten, über 1.000 Taler an Geschenken auszugeben. Die Frau von Creutz, seit etwa fünf Jahren mit dem Geheimrat verheiratet – die Mitgift bestand in Geld und Gütern aus der einflußreichen Familie derer von Haeseler -, wagte den Canossagang zum König Friedrich Wilhelm l. und bat ihn untertänigst um Intervention. Der König ließ das Edelfräulein von Wackenitz zu sich kommen, in den Zeitungsberichten jener Jahre ist vom Angebot des Verprügelns die Rede, und das Fräulein plauderte und rückte zwei kompromittierende Briefe des Herrn von Creutz heraus. Als der nach Wusterhausen beorderte Creutz im Gespräch unter vier Augen seinem König „die Hurerei“ unter Eid ableugnete, war das Donnerwetter so gewaltig, daß sich Herr von Creutz fürzehn Tage krank melden mußte. Danach konnte er wieder in sein Bureau, die schon die Messer wetzenden Rivalen gingen leer aus. Nie wieder sollte Seine Majestät Creutz bei Liebeshändeln erwischen.
Friedrich Wilhelm kannte Creutz schon aus der kronprinzlichen Zeit, hatte den damaligen Absolventen der Universität Frankfurt an der Oder im Jahre 1 705 auf Empfehlung des mächtigsten Mannes im Königreich, des Reichsgrafen von Wartenberg, als Militärankläger und Gehilfe des Militärrichters (Ober-Auditeur] in sein neu geschaffenes Leibregiment nach Wusterhausen geholt. Friedrich Wilhelm fand auch deshalb Gefallen an Creutz, da dessen Körpermaße überdurchschnittlich waren. Creutz wurde Privatsekretär des Kronprinzen und Leiter der Gutsverwaltung Wusterhausen. Von diesem Moment an rührt die enge Vertrautheit von Kronprinz Friedrich Wilhelm und dem Juristen Creutz. Ehrenreich Bogislav Creutz war ein unbemittelter, strebsamer Mann, Sohn eines brandenburgischen Amtmannes aus Stargard/Pommern, geboren etwa um 1670. Es gibt kein Bild von ihm und keine genauen Geburtsdaten. Aber die weiteren Daten seiner steilen Karriere sind dokumentiert: Am 3. Februar 1705 wurde er durch den Kronprinzen zum persönlichen Hof- und Kammerrat ernannt. Ohne Aufgabe der bisherigen Stellung wurde er im November 1706 pommerscher Regierungsrat, im April 1707 Geheimer Kammerrat und am 1. Dezember 1708 in den Adelsstand erhoben. Den Kronprinzen und den Juristen verbindet vor allem die Abneigung gegenüber der Mißwirtschaft, dem Mätressenunwesen, dem hemmungslosen Treiben der Günstlinge des ersten preußischen Königs, Friedrich l., der Herren von Wartenberg, von Wittgenstein und von Wartensleben. Der Kronprinz studiert, spioniert, prüft die Finanzen – ohne Auftrag und nur mit wenigen Getreuen. Nach Jahren der Observierung haben sie den ersten der drei großen Herren am Haken – Wittgenstein hat nachweisbar Hunderttausende Taler veruntreut. Während das Land hungert, die Opfer der Brandkatastrophe von Krossen auf die Auszahlung ihrer Gelder aus der Feuerversicherungs-Kasse warten, prassen die Herren Oberkämmerer und Obermarschälle im neuen Schlüterschen Schloß. Auf Druck des Kronprinzen und aus der Einsicht in die Notwendigkeit, der Öffentlichkeit ein Bauernopfer zu bringen, muß der königliche Vater am 12. November 1710 eine Kommission zur Untersuchung der Mißwirtschaft des Reichsgrafen Wittgenstein einsetzen. Der Kronprinz setzt durch, daß sein engster Vertrauter Creutz Mitglied dieser Kommission wird. Kriegskommissar Geheimrat von Blaspiel, der Geheime Justizrat von Plathen, Johann von Alvensleben und der Geheime Hofkammerrat von Creutz lassen Akten kommen, hören Zeugen und prüfen die Zahlen. Creutz schreibt den Bericht, kann damit wichtige Nuancen im interesse des Kronprinzen formulieren. Die entscheidende Passage: „Die Acten und Briefschaften, die wir aus der Hofkammer gefordert, sind theils garnicht, theils erst nach langem Suchen aufzufinden gewesen, viele sind unvollständig, viele verstümmelt; Berichte, die längst zu den Acten gegeben sein sollten, sind erst nachträglich angefertigt der Krone und dem Lande unermeßlichen Schaden gebracht“ etc. pp. Der Schlußbericht wird am 23. Dezember dem König vorgelegt. Er führt zur Verhaftung Wittgensteins am 29. Dezember, der Graf wird in die Festung Spandau verbracht. Die Überführung und Verurteilung Wittgensteins zieht auch den Sturz Wartenbergs nach sich, desjenigen, der Creutz erst bei Hofe eingeführt hatte, sicherlich zum eigenen Nutzen als lnformanten und Gehilfen bei künftigen lntrigen. Nun also schlägt der Zögling zurück. Komplice Reichsgraf von Wartenberg wird am 30. Dezember durch den König über Wittgensteins Verurteilung informiert und seines Amtes als Oberkammerherr enthoben und auf sein Gut Woltersdorf verbannt. Dort stirbt er am 4. Juli 1711.
Aber zurück zu Creutz. 1713 wird Friedrich Wilhelm nach dem Tode seines Vaters König von Preußen – Creutz bleibt sein engster Vertrauter. Beim Regierungsantritt am 25. Februar übernimmt ihn der König sofort als Erster Kabinettssekretär in seinen Dienst, am 4. März wird er „Wirklicher Geheimer Rath“ und am 4. Mai Minister. Creutz erhielt die wichtigste Vertrauensstellung – die des obersten Finanzkontrolleurs des Königreiches. Eine Generalrechenkammer wird am 2. Oktober 1714 eingesetzt; an ihrer Spitze steht Creutz als „General-Controlleur aller Cassen“. Das sind Schritte einer grundsätzlichen Neugestaltung der zentralen Verwaltung, im Prinzip bedeuten sie die Abschaffung des aus der Zeit der Kurfürsten stammenden Kollegialitätssystems. 1719 wird Creutz Oberdirektor des Generalfinanzdirektoriums und Controleur général, mit der Schaffung des Generaldirektoriums im Jahre 1723 dessen Vizepräsident und dirigierender Minister im zweiten Departement. lm Auftrag des Königs hatte Creutz das Konzept der Verwaltungsreform von 1723 ausgearbeitet. Es war eine strategische Aufgabe, und Creutz war für den Soldatenkönig der wichtigste Stratege in Finanzfragen. Von allen zentralen Verwaltungsstrukturen wurde das Finanzwesen am gründlichsten umgestaltet: Die bisher getrennten Verwaltungen der Domänen, der Münze, der Post, der Hofkammer wurden zusammengefaßt im GeneraI-Finanz-Directorium unter der Leitung Ka- meckes; die Militärfinanzen standen unter Leitung von Blaspeil, dem General-Kriegs-Kommissar.
Später erhält Creutz weitere Staatsämter, jeweils verbunden mit Gehaltsaufbesserungen und der Möglichkeit, sich über Personalentscheidungen neue Einflußbereiche zu verschaffen: Er wurde Protector der Königlichen Societät der Wissenschaften, Director der kurmärkischen und magdeburgischen Landschaftssachen, Director des Ober-Collegium Medicum.
Soviel zur Person des Herrn von Creutz, der es gewagt hatte, eigene Wünsche bei der Wahl des Schwiegersohnes ins Spiel zu bringen. Doch alle Titel und Reiehtümer waren nichts vor der Order des Königs.
Am Ende wird doch noch glücklich geheiratet- im Februar 1732 im Palais Creutz in der Klosterstraße 36.
Das Grundstück Klosterstraße 36, schon seit dem 15. Jahrhundert als Burglehen der Hohenzollern im Besitz der kurfürstlichen Familie, ist nach jahrzehntelanger Mißwirtschaft und einem Brande nach der Übernahme der Regentschaft durch Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1713 nun wieder an den
König zurückgefallen. Ein Glücksfall, denn jetzt kann er es erneut vergeben und einen Günstling damit für treue Dienste entlohnen. Das Gebäude hat eben nur den Haken, daß es der Günstling auf eigene Kosten wieder aufbauen muß. Das ist der Kern der Baupolitik des Soldatenkönigs – seine Beamten und die Bürger seiner Residenz müssen auf eigene Kosten bauen und der König gibt ihnen die Grundstücke.
Wozu ist aber einer wie Creutz enger Vertrauter Seiner Majestät und gesuchter hoher Beamter, wenn es um die Finanzierung königlicher Projekte geht? Der letzte Hofbaumeister ist gerade mit Schimpf und Schande, ohne Zahlung ausstehender Gehälter und ohne die üblichen Geschenke entlassen worden. Der Schloßbau, halbfertig, ist dem Nachfolger im Bauamte, dem Herrn Böhme mit einem Appell an die königlich verordnete Sparsamkeit übergeben.
Böhme baut nun auch den Palast des Herrn von Creutz; inwieweit Materialien und Arbeitskräfte von anderen königlichen Bauvorhaben abgezweigt wurden, ist nicht bekannt. Da Creutz der oberste aller Kassenkontrolleure des Reiches
war, bleibt das eine offene Frage.


Sicher ist, daß Martin Böhme eine Meisterleistung in der Klosterstraße vollbracht hat. lm Stadtführer des Dr. Franz Lederer von 1930 lesen wir: „Die Klosterstraße war im alten Berlin die Straße der vornehmen Leute. Eine ganze Reihe von Palästen entstanden hier im 18. Jahrhundert um das alte Kloster herum. Dem Geheimen Staatsrat von Kreutz schenkte er (der König) das Grundstück Klosterstraße 36. Dieser ließ sich durch Martin Böhme ein palastartiges Gebäude mit Freitreppe und schmückenden Genien erbauen, das, wenn auch mit erneuerter Front, noch heute wohlerhalten ist. Das nischenartig vertiefte, mit Volutenbogen geschlossene Mittelfenster ist ein echt Schlütersches Motiv. Eine breite Treppe, deren reich geschnitztes Geländer Trophäen und Waffenschmuck aufweist, führt in den Festsaal des Hauses. Dieser zeigt eine Barockdekoration von solcher Feinheit der Ausführung, daß man dieses Werk Schlüter selbst zuschrieb und dem Saal den Namen „Schlütersaal“ gab. Martin Böhme hat sich hierals gelehriger Schüler des Meisters gezeigt. Die fein getäfelte Wand teilt er durch korinthische Pfeiler. Der Dreifenstergruppe der Außenwand setzt er eine große Bogentür und zwei Rundbogennischen gegenüber. ln diesen erblicken wir die überlebensgroßen, vergoldeten Gestalten des Großen Kurfürsten mit dem Feldherrnstab und des ersten preußischen Königs. Die Decke schmückt ein Gemälde mit einer der antiken Mythologie entnommenen Darstellung. Ringsherum gruppieren sich im reizenden Wechsel die mannigfachen Motive, die die Kunst des Barock liebte.“ Das Palais, das Hacke als einziger Schwiegersohn des reichen Creutz erbte, wurde später wegen familiären Geldmangels der Krone zurückgegeben. Es beherbergte im 19.Jahrhundert das königliche Gewerbeinstitut und im 20. Jahrhundert ein Museum. Der Palast wurde mehrfach gezeichnet, eine der schönsten Darstellungen stammt von Eduard Gärtner aus dem Jahre 1830. Gärtner nutzte die Chance und setzte in das Gemälde als Passanten in der Klosterstraße die beiden, die maßgeblich die Bedeutung des Königlichen Gewerbeinstituts ausmachten, Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) und Peter Christian Beuth (1781- 1853]. Die Bomben des Zweiten Weltkrieges ließen keine steinernen Zeugen der Pracht Schlüters und Böhmes und der Festlichkeiten der Familien von Creutz und von Hacke übrig . . . Der alte Creutz hat anscheinend das Scheitern seines Heiratplanes nie verwunden. Er wird schwer krank und stirbt ein Jahr später, am 13. Februar 1733. Begraben ist er neben seiner Frau in der Gruft von St. Marien zu Berlin.“

Soweit also zu CREUTZ, dem bedeutendsten der Absolventen der Oder-Universität in Frankfurt. Soweit also auch die Ergebnisse gründlichen Recherchierens zu Biographien bedeutender Persönlichkeiten der preußischen Geschichte.

Frankfurt an der Oder

Was aber, wenn Poeten sich an eine Sache wagen, die ihnen fremd ist – wie zum Beispiel Auffinden relevanter historischer Archive, wie zum Beispiel tagelanges Recherchieren in alten Handschriften, wie zum Beispiel mühevolles, nächtelanges Vergleichen alter Texte ? Man denkt sich kurzerhand eine Geschichte aus !

Man nimmt den irgendwo gehörten Anfang – der Mann stamme aus Pommern, man nimmt das bekannte Ende – der Mann ist irgendwann des Königs oberster Rechnungsprüfer und schon schreibt sich das Zwischenstück von ganz allein – wie bei den Poeten Martin Stade und Ulrich Plenzdorf, die damit auch noch die Vorlag für einen historischen Spielfilm fabrizieren, der ja als Genre von derlei Fabrikationen lebt:

So wird nun lustig drauflos fabuliert:

(Seite 27:) Gundling erinnert sich: Ich kannte einen Mann, von dem ich dachte, er könne mir helfen. Es war Creutz, der Sekretär des Königs, und so sehr hoffte ich auf ihn, daß ich versuchte, seine geheimsten Gedanken zu erraten, daß ich mich sogar, wo immer es ging, in diesen Mann versetzte, um zu ergründen, was er tun konnte oder was er tun würde.
Ehrenreich Boguslaw Creutz. Er war unentbehrlich geworden. Er, der Sohn eines pommerschen Beamten, eines armen Beamten, eines längst gestorbenen Beamten. Vier Jahre hockte er schon in der Residenz und in Wusterhausen. Im Elend zuerst, inmitten von Schulden und Dreck, in einer engen, schmutzigen Gasse an der Spree. Er hatte das träge Wasser mit dem sachte treibenden Unrat vor Augen, damals, vor dreieinhalb Jahren. Er hatte es immer vor Augen in der Stadt Berlin, und das Wasser verband sich bei ihm mit seinem Elend. Er erhielt keine Stellung, solange er auch lief und sooft er auch fragte. Mein Junge, hatte sein Vater vor vielen Jahren zu ihm gesagt, Schreiben und Lesen und Rechnen mußt du können, dann wirst du fortkommen in deinem Leben. ]a, Herr Vater, hatte der Sohn Ehrenreich Boguslaw geantwortet. Und folgsam begann er zu pauken, nach der Anweisung seines Herrn Vaters. Die Bibel, das Hausbuch der Creutzens, vermochte ihn allerdings nicht zu fesseln. Vielmehr waren es Zahlen, die er hin und her schob. Seine Welt waren die Zahlen, und es mochte vielleicht in seinem Gehirn eine Extrakammer eingerichtet sein für sie, eine größere vielleicht als bei anderen Leuten. Das ging sonderbar schnell vonstatten, und sein Herr Vater War stolz auf ihn.
Aber dann, in der großen Residenz Berlin, brauchte keiner seine Rechenkünste und seine zierliche, ausgewogene Schrift. Er lief sich die Sohlen von den geflickten Schuhen und wetzte sich mit der Zeit die Lumpen von dem langen Leib. Und als er sah, daß es gar nichts mehr gab, sah er nur noch das Wasser, das träge floß und manchmal gurgelte und in dem der Unrat sachte vorübertrieb.
Da war in dem langen Ehrenreich Boguslaw Creutz nur noch Verzweiflung, nichts anderes mehr, nicht einmal der Funke einer Hoffnung. Es wollte ihm gewissermaßen scheinen, daß hier einer zu viel auf der Welt war. So nahm er sich vor, aus dieser Welt in eine andere hinüberzuwechseln, in der es sorgloser zuging.
Doch setzte er sein Vorhaben behutsam ins Werk. Er stürzte oder glitt vielmehr mit einem dumpfen, verzweifelten Schrei vom Ufer in die Spree, und das just in dem Moment, als eine Wache des Königs im Begriff war vorüberzustampfen. Nun ia, man zog ihn heraus, den armen Mann Creutz, und wenn er gezwungen wurde darüber zu sprechen, dann verklärte sich ihm dieserAugenblick. Das Gleiten insWasser wurde unmerklich in seinem Gedächtnis ein verzweifelter, alles hinter sich lassender Sprung, und nicht mehr entsinnen konnte er sich an den dumpfen, hoffnungslosen Schrei. Nein, geschrien hatte er nicht. Wozu sollte er damals geschrien haben, nach wem sollte er gerufen haben, nein, die Wache hatte sich getäuscht. Das Rechnen hatte von ihm in einem Maße Besitz ergriffen, daß er vergaß, auch in diesem Augenblick Berechnungen angestellt zu haben, vielleicht über den Weg, den die Wache noch zurückzulegen hatte, vielleicht über die Höhe des Wassers, das an dieser Stelle nur bis zur Brust des langen Creutz ging. Nein, obwohl es nur wenige ]ahre her war, dieser Augen- blick zwischen Verzweiflung und Hoffnung, dieses sekundenlange, dieses sorgsame und genaue Rechnen in jenem Augenblick verklärte sich in Creutzens Kopf zur Tat eines Mannes, der Schluß machen wollte mit seinem Leben.

Ich wußte nicht, wie es kam, daß der Kronprinz davon hörte. Ein gewisser Kapitän von Einsiedel kam zu Creutz und fragte ihn aus. Ob es wahr sei, daß er schreiben und rechnen könne. Aber sicher sei es wahr, Euer Wohlgeboren. Ob er eine Probe davon geben könne. Da sprang er auf, der arme Mann Creutz, und zog aus dem Tischkasten säuberlich gefaltetes, graues Papier, zeigte dem Kapitän seine recht kunstvolle Schrift, warf Zahlenkolonnen mit dem einzigen Federkiel, den er besaß, aufs Papier und addierte sie geschwind. Ob er wüßte, wer vor ihm stehe, fragte der Uniformierte. Wohlgeboren ist ein Offizier von der Wache, antwortete der arme Mann Creutz. Er sei der Kapitän von Einsiedel, und er käme, um Soldaten für den Herrn Kronprinzen zu werben. ]etzt durchfuhr es den Mann Creutz, und schnell schob er das Papier zurück. Oh, er wußte, was vor sich ging in Wusterhausen. Der Kronprinz hatte dort seine Kompanie. Seltsame Gerüchte machten die Runde. Die Soldaten seien alle sechs Fuß groß und darüber und sie bekamen jeden Tag ihre Prügel wie andere ihre tägliche dünne Suppe. Das war nichts für den armen Mann Creutz. Zum Soldaten tauge er nicht, sagte er dem von Einsiedel. Er könne aber Schreiber werden in der Kompanie und hätte sodann sein Auskommen. Er hätte die Listen unter sich und müsse die Zu- und Abgänge fixieren und was derlei Sachen mehr wären. Und noch dazu sei er wohlproportioniert, wenn auch jetzt ein wenig mager und eingefallen. Aber das gebe sich mit der Zeit. Ja, da spürte es der arme Mann Creutz, seine Länge hatte es dem Herrn Offizier angetan, das kommt selten zusammen, lang wie ein Lulatsch und schreiben und rechnen können noch dazu. So fing es an mit ihm. Nun war er fleißig und saß hinter seinen Listen, und seinem Herrn Obersten, dem Kronprinzen, stachen Zahlen und Schrift ins Auge. Das War ein Haushalt nach seinem Herzen. Ein Rechenkünstler ist er, Creutz, er ist sehr geschickt, Creutz, er ist mir lieb so. Und dem Manne Creutz flossen die Augen über vor Dankbarkeit, er lernte das Strammstehen im Nu, und wie er rechnend über seinen Listen saß, fing er an, achtzugeben auf die Dinge um ihn her.

Nicht lange dauerte es, so war der Kronprinz eine Sache, die er einbezog in seine Berechnungen. Er war fleißig zur rechten Zeit, er war schweigsam zur rechten Zeit, und er sagte zur rechten Zeit ein kleines wohlabgewogenes Wort, das so recht hineinpaßte in seine Berechnungen. Er ist klug, Creutz, sagte der Herr Oberst, er wird mir den Regimentsauditeur machen, und wenn ich ihn brauche, Creutz, dann muß er zur Stelle sein. Und der arme Mann Creutz stand stramm und war voller Glück, wie es nur ein armer Mann sein konnte. Wer schrieb so gut wie er, wer rechnete so gut wie er, wer war so klug wie er. Der Einsiedel kannte sich nur aus in Patronentaschen und in Handgriffen, die Korporale konnten nur brüllen wie die Stiere und waren deshalb angesehen, aber er, Creutz, er war ein kluger Mann, der seinem Herrn ganz anders zur Hand ging.
Und dann, vor zwei Jahren, kam der große Tag für ihn. Ehrenreich Boguslaw Creutz, Auditeur beim Kronprinzenregiment, wird Protokollant in einer Untersuchungskommission. Was Wunder auch, die Provinzen zahlen keine Steuern mehr, Pest und Hungersnot grassieren, und alles scheint sich einem Abgrund zu nähern. Schon gibt es Zusammenrottungen und Rebellionen, schon gibt es Plünderung und Mord, Während das Triumvirat der drei Minister, an ihrer Spitze Wartenberg, dem König immer noch Sand in die Augen streut. Aber was wollen sie machen,wenn die Taler fehlen. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Wo sind die achtzigtausend Taler für die Stadt Krossen? Die Stadt ist ausgebrannt vor zwei Jahren, und die achtzigtausend Taler waren in der Brandkasse, die der Generaldomänendirektor Graf Wittgenstein verwaltet. ]etzt sind sie nicht mehr da, die Taler, und die Untersuchungskommission, auf Betreiben des Kronprinzen zusammengestellt, stellt hartnäckige Fragen. Und Abend für Abend zeigt der Protokollant Creutz dem Kronprinzen die vollgeschriebenen Seiten. Das war ein böses Weihnachtsfest siebzehnhundertzehn, für den Reichsgrafen Wittgenstein. Ihm bleibt nichts übrig, er muß sich schlotternd auf den Weg begeben und dem Kö- nig ein Geständnis machen. Er macht ein Geständnis und bittet um Gnade. Aber anderntags kommt die Wache zu dem großmächtigen, unfähigen und verbrecherischen Herrn. Man bindet ihn und führt ihn durch die Straßen von Berlin, und das Volk, die Weiber und Straßenjungen, die Dirnen und das herrenlose, hungernde Gesindel, von Creutz durch Zwischenträger unterrichtet und auf die Beine gebracht, läuft johlend und fluchend mit und gibt ihm Geleit bis zur Feste Spandau, und der General von Gersdorf reißt ihm den Schwarzen Adlerorden herunter. Es war, als sei ein Windstoß in einen schlecht brennen- den Scheiterhaufen gefahren. Creutz war wer, er drehte mit am Rad der Geschichte. Nicht, daß er ein kleines Rädchen im Getriebe war, nein, er drehte mit an der Kurbel, er machte sich unentbehrlich und war ein treuer Helfer seines Herrn. Und weil der von Wittgenstein schreit, daß er immer nur auf Befehl seines Herrn und Gönners, des Grafen Wartenberg, gehandelt und weil die Untersuchung dies bestätigt, wird der letzte Tag des Jahres für den Reichsgrafen Kasimir Kolbe von Wartenberg zugleich der letzte Tag im Amt. Auch er zittert schon voller Angst und denkt an Spandau. Er hätte es verdient, denkt Creutz. Er hätte es verdient, denkt der Kronprinz, aber der König, irre geworden an der Welt, die‘ ihn umgibt, entläßt ihn nur. Nun ja, da steckt vielleicht des Reichsgrafen Frau dahinter, die schöne Schankmamsell aus Emmerich, die es damals schon mit den Rheinschiffern getrieben hat, die es jetzt mit dem König und zur gleichen Zeit mit dem Englischen Gesandten und mit dem Kammerjunker Schenk treibt, da schreckt der König zurück und läßt Gnade vor Recht ergehen.
Ja, und jetzt, nach dem Tod des Königs, ist Creutz endlich eingerückt in die Residenz, sein Platz ist im Schloß, er hat ein spartanisch eingerichtetes Zimmer und ist der erste Geheimschreiber des neuen Königs von Preußen. Und eigentlich ist er noch mehr, denn zusammen mit seinem Herrn zählt er die Einnahmen des Staates, wägt Einnahmen und Ausgaben ab und läßt die Ko- lonnen der Zahlen marschieren. Und mit jedem Tag, der anbricht, spürt Creutz wie etwas zwischen ihm und dem König wächst. Jetzt, da die Tage länger werden, sitzen sie schon um fünf Uhr auf ihren Schemeln, Creutz vor dem hohen Rechenpult, angetan mit Leinenschürze und Leinenärmeln. Und Creutz sagt auf Befragen seines Herrn, daß er damals, als er noch Ladenschwengel im Pommerschen war, es immer so gehalten hat. Der König befühlt Schürze und Ärmel und meint, daß es praktisch wäre. Er sei sehr für praktische Dinge. Sehr nützlich wäre das. Und zwei Tage später sitzt auch er mit grüner Leinenschütze und grünen, übergestreiften Ärmeln am Schreibtisch und meint, daß man damit sehr gut seine Kleidung schonen kann. Diese kleinen Dinge und der Umstand, daß Creutz weiß, wie es mit dem Volk steht, was die Leute auf den Tellern haben und was ihre Sorgen sind, daß er antworten kann, wenn er gefragt wird und dabei noch gescheite Antworten gibt, diese kleinen Dinge sind es, die Creutz spüren lassen, wie etwas zwischen ihnen wächst. Creutz scheint es, als rücke der König täglich ihm näher oder als rücke er, der Mann Creutz, dem König immer näher.
Und so weiter, und so fort . . .

Adieu historische Wahrheit, adieu !!! Adieu Frankfurt an der Oder Wenn es nicht die anderen Große aus der Geschichte Preußens gäbe wie zum Beispiel die Humboldts.

Alexander von Humboldt

Die Oder-Universität in Frankfurt – ist Alma Mater der Brüder Humboldt – die Wendung „am frostigen Ufer der Oder“ fließt aus der Feder des jüngeren Humboldt, Alexander, und ist in einem Brief an dessen Berliner Freund Ephraim Beer der Nachwelt erhalten.

Und einer ihrer akademischen Lehrer wie auch väterlicher Ratgeber des Dichters Heinrich von Kleist an der VIADRINA ist der Theologe Josias Friedrich Christian Löffler – auch fast in Berliner und ehemals preußischen Landen unbekannt, dafür aber doch – ausgleichende Gerechtigkeit – mit Denkmalen und Namensgebungen in der ehemaligen herzoglichen Residenz GOTHA geehrt!

Und da wir nun schon bei den zu Unrecht fast vergessenen Wissenschaftlern der ost- und mitteldeutschen Geschichte angelangt sind, sei der bedeutendsten Persönlichkeit ehrenvoll und dankbar gedacht, die mit dem Namen und der Geschichte der Oder-Universität verbunden ist: Günter Mühlpfordt !

Prof. Günter Mühlpfordt (verstorben 2017)

Danke fürs Lesen und Verständnis

Dr. Dieter Weigert, Berlin Prenzlauer Berg im Mai 2023