Folge 11 Unter den Chorfenstern von St. Marien – die ersten Jahre des Josias Löffler an der VIADRINA
Ein Traum wird wahr – der große König beordert Josias Löffler nach Frankfurt an der Oder, setzt ihn als Pfarrer an die lutherische Oberkirche St. Marien ein und besetzt mit ihm die durch den Tod des Professors Simonetti entstandene Vakanz an der Theologischen Fakultät der Viadrina.
-Wir schreiben das Jahr 1782. Suchen wir also in dem Konvolut nach Papieren und Dokumenten, die mit diesem Ereignis in Beziehung stehen, liebe Edda! -Bester Chef, da wäre jener bedeutsame Satz, der uns in den Erinnerungen des Josias an das Ende seines militärischen Einsatzes in Schlesien und Böhmen 1779 schon einmal begegnet war: „Und nun kehrte bey ihm der Wunsch zurück, Lehrer der Wissenschaften, wenn möglich auch einer Universität zu seyn.“ Ich bemühe mich, weitere Belege zur Untermauerung dieses Wunsches oder Traumes zu finden und vielleicht auch manches zu finden, was zur Erleuchtung des Weges dienen kann, der ihn schließlich nach dreijähriger Wartezeit nach an die Oder-Universität führte. – Edda zog sich in eine stille Ecke zurück und wühlte sich schweigsam durch die sorgsam geordneten Stöße von Papier.
Der Blick aus dem Fenster zeigt – der Winter will nicht weichen. Trostlosigkeit und Trauer erfassen mich beim Blick aus dem Fenster, der graue See liegt erstarrt, die größeren Jungs spielen Eishockey, einige Anfänger üben sich im Langlauf. Es wird Zeit für mich in die Berge abzuhauen.
Aber: Ich mache mich an die Papiere, die Josias Löfflers Aufenthalt in Frankfurt an der Oder betreffen und die mir Edda vorgelegt hatte. Da ist ein historischer Stich: Wuchtig tritt sie uns entgegen, die Oberkirche, die Hauptkirche der Gemeinde der Lutheraner in der Odermetropole. Sie scheint uns den Weg zu versperren zu den Gebäuden der Universität, der VIADRINA.
St. Marien und der Nonnenwinkel in Frankfurt an der Oder
Nicht nur visuell, sondern materiell-praktisch symbolisierte dieses gewaltige gotische Bauwerk in den Jahrhunderten seit der Gründung der Oder-Universität die Einheit von Religion und Wissenschaft – auch in den Biographien der Universitätslehrer!
St. Marien ist nicht nur administrativ und theologisch die „obere Kirche“, sie steht auch auf einem Hügel und beeindruckt daher auch topographisch die LOandvhaft, die Stadt. Unter ihr liegt der Markt, daran anschließend das Rathaus, auf der anderen Seite die Gebäude der Universität und in einiger Entfernung die Kasernen des Militärs. Auf diesen Hügel stellt der preußische König Friedrich II. den Thüringer Theologen, in Halle an der Saale und Berlin ausgebildet und gerüstet für die politischen Auseinandersetzungen mit den Konservativen, gestählt im Krieg gegen die Habsburger, durch die verbündeten Verleger mit den wissenschaftlichen Lorbeerkränzen gekrönt – den Vorbedingungen für Professur und klerikaler Machtposition, mit dem Begriff Generalsuperintendent umschrieben.
Ein Renaissance-Gemälde aus Frankfurt an der Oder präsentiert uns die Einheit von Klerus, Wissenschaft, Bürgermacht – im 16. Jahrhundert, in den Strukturen aber auch für das Verständnis der Jahre brauchbar, in denen Josias Löffler in der Oderstadt wirkte:
Michel Ribestein, Epitaph für Hans Schreck und seine Gattin, 1555
Dass des Königs Minister von Zedlitz im Frühjahr 1782 den Theologen Löffler aus Berlin auf den Theologie-Lehrstuhl der VIADRINA, der Oder-Universität, als Nachfolger des im Januar 1782 verstorbenen Christian Ernst Simonetti beruft, bedeutet für den nunmehr 30jährigen Josias Friedrich Christian Löffler einen bedeutenden akademischen und sozialen Aufstieg.
Einer der Vorgänger Josias Löfflers als Lehrstuhlinhaber an der Oder-Universität, Friedrich Ebert, Professor für Hebräisch, um 1670/1680
Die chronologisch erste Urkunde, die Auskunft gibt über die Gunst des Königs:
Seite 1
Seite 2Seite 3 – mit amtlichem Siegel
Meine (nicht-amtliche) Transkription:
„Bestallung für den bisherigen Feld-prediger des Regiments Gensd’armes Johann Christ. Löffler zum Professore Theologiae extraordinario zu Frankfurth an der Oder
Wir Friderich von Gottes Gnaden, König von Preußen u.s.f. Thun Kund und fügen hiermit zu wißen, daß Wir an des verstorbenen Simonetti Stelle, den bisherigen Feld-Prediger Unseres Regiments Gensd’armes Johann Christ Löffler, in Betracht seiner Uns angerühmten Geschicklichkeit, zum Professore Theologiae extraordinario bey Unsrer Universitaet zu Frankfurth an der Oder, allergnädigst bestallet und angenommen haben.
Wir thun solches auch hiermit und in Kundt dieses dergestalt und also daß Uns und Unserem Königlichen Hause denselben threu, gehorsam und gewärtig seyn, Unseren Nutzen und Bestes nach äußerstem Vermögen suchen und befördern, Schaden und Nachtheil aber, so viel an ihm ist, verhüten, … und abwenden helfen; das Amt eines Professoris Theologiae extraordinarü bey gedachter Unserer Universitaet im Lesen, Lehren, Disputiren und Praesidieren mit äußerster Application zu verwalten, der studierenden Jugend jederzeit mit gutem Exempel vorgehen, und die Stipendiaten treulich unterweisen, über Unsere bereits gemachten oder noch zu machende Reglements und Verordnungen gebührend halten und an sich nichts … lassen solle, damit die Universitaet immer mehr in … und Aufnahme gebracht und berühmt werden möge; Was Wir ihm sonst commitiren und befehlen, das soll er willig und getreu ausrichten, in Summa alles dasjenige thun und leisten, was einen getreuen Königlichen Diener und rechtschaffenen Professori, seinen abzulegenden Eidespflichten nach, zu thun oblieget und gebühret.
Dahingegen und für seine Dienste soll er, der Professor Löffler, sich nicht allein allen, denen übrigen Professoribus zukommenden Privilegien, Rechte und Prerogativen ebenmäßig zu erfreuen und, nach Verlauf des denen Simonetti ihre Erben zustehenden Neben-Jahres, der damit verknüpften Besoldung von Zweyhundert Reichsthalern zu erheben haben, sondern Wir wollen ihn auch bey sich … Gelegenheit … Merkmale Unserer Königlichen Huld verspüren laßen…
Berlin Zedlitz, Chef Unseres Christlichen Departements, 27ten April 1782
Das Studium des förmlichen Schreibens führt uns nicht sehr weit, es sagt nicht viel aus über die Qualifikation des jungen Josia Löffler für beide Positionen – die an der Kirche und die an de Viadrina. Aber gleich darunter findet sich ein Druck, starkes Papier, fast schon braun verfärbt vermutlich durch das ständige Sonnenlicht, dem es vermutlich ausgesetzt war. Auf der Rückseite eine Notiz in blauer Tinte „Rauch, 1533“, vermutlich von Josias Löffler:
Professor Josias Löffler bekennt sich zu den Renaissance-Tugenden, ohne jedoch in die Luthersche Orthodoxie zu verfallen. Damit erfüllt er die Ewartungen seines Königs, des Ministers von Zedlitz, der Frankfurter Studenten und der Gemeinde von St. Marien. In seinen Erinnerungen beschreibt Josias aber auch, mit welchen Widerständen und Intrigen er an der Viadrina zu kämpfen hatte (Zum Verständnis der politischen und wissenschafts-geschichtlichen Situation im damaligen Frankrut sollten wir einen längeren Abschnitt zu unsererm Bericht zitieren – meint mit meiner Billigung die kluge Edda) :
Kleine Schriften, Bd. 1, XII
XIIIXIV
In Ergänzung zu den umfangreichen Tätigkeiten, die Josias Löffler als Prediger an St. Marien, als Theologie-Professor an der Viadrina, als Oberaufseher des Frankfurter Bildungswesens zu erledigen hatte, wären seine Kontakte zu den Offizieren des königl.preuß. Infanterie-Regiments Nr. 24 eine Beschreibung wert – rät Edda.
Welch‘ freudige Überraschung, wird der aus dem aktiven Dienst entlassene Feldprediger Josias Löffler bei seinem Arbeisbeginn Frankfurt empfunden haben, als er den Antrittsbesuch beim Chef des in der Garnisonstadt an der Oder stationirten kgl-pr. Infanterie-Regiments Nr. 24 absolviert und dem „alten Bekannten“ aus dem „Kartoffelkrieg“ gegenübersteht: Prinz Leopold von Braunschweig, seit Januar 1776 in dieser Position als Oberst und später Generalmajor. Das Regiment ist der ruhmreichen Friderizianischen Tradition aus den Schlesische Feldzügen und dem Siebenjährigen Krieg verpflichtet, sein Kommandant war der vor Prag 1757 gefallene Feldmarschall Graf von Schwerin, dessen Porträt (Maler: Christian Bernard Rode) in der Berliner Garnisonkirche 1761 in Öl als Teil einer Gruppe von vier „Gedächtnisbildern“ präsentiert wurde, mit der Zerstörung der Kirche durch Bomben im Zweiten Weltkrieg verbrannte.
Christian Bernard Rode, Feldmarschall Schwerin wird sterbend von der Siegesgöttin bekränzt, Radierung um 1765
Den gesellschaftlichen Umgang mit hohen und höchsten Offizieren der königlich-preußischen Armee ist Josias Löffler nicht erst seit dem Feldzug von 1778/79 gewohnt, in Berlin war er im privaten Kontakt zum Kavallerie-Generaol von Prittwitz und anderen Militärs; hier aber ist sein Gegenüber ein Erbprinz, ein möglicher künftiger Herzog aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg, Ritter des Johanniter-Ordens, schon mit 20 Jahren Oberstleutnant in der Armee seines herzoglichen Vaters, und – wie schon erwähnt – ab 1776 in Diensten seiner preußischen Majestät – während seine Schwester Amalia dem herzoglichen Hof von Weimar standesgemäß anvermählt wurde, jene Amalia, die zur Förderung des Schriftstellers Goethe maßgeblich beitrug.
Sie sind gleichaltrig, der Theologe aus Thüringen und der Welfen-Prinz aus Braunschweig-Lüneburg, Neffe des preußischen Königs Friedrich II. Sie verkörpern nicht nur die gleiche Generation, sie vertreten auch – trotz ihres Standesunterschieds – die gleichen Ideale und Werte der Aufklärung: der Zögling des großen Lessing, der ihn auf seinen Wunsch auf einer mehrmonatigen Italienreise begleitete, und Professor Josias Löffler, der Schüler Semlers und Nösselts. Sie sind auch im wirklichen Leben Nachbarn – Prinz Leopold residiert im sogenannten Kommandantenhaus hinter der Marienkirche, Löfflers Wohnung befindet sich, da er gleichzeitig Pfarrer an jener Marienkirche ist, im angeschlossenen Gemeindehaus.
Johann Friedrich Nagel, Blick auf Frankfurt vom Ostufer der Oder, um 1788. Links im Hintergrund St. Marien, davor am Ufer die Kasernen des IR 24
In jenem Kommandantenhaus oder auch im Salon des Generalsuperintendenten im Gemeinde-Gebäude neben der Kirche finden auf Einladung des jeweiligen Hausherrn abendliche Lesungen, Konzerte, Vorträge von Universitätsprofessoren statt. Für die Offiziere des Leopoldschen Regiments hat dieser Winkel noch eine dritte nachbarliche Bedeutung – hier wohnt ihr Kamerad, der Major von Kleist, Bataillonskommandeur, dessen 1777 geborener Sohn Heinrich seine familiär ebenfalls vorbestimmte militärische Laufbahn in einigen Jahren einschlagen wird.
Noch liegt der bunte Rock des Königs für Heinrich von Kleist in einiger Ferne, noch sind der Welfen-Prinz und der Theologie-Professor und Oberpfarrer der Marienkirche seine nachahmenswerte Idole in den Nachbarhäusern.
An diesem Punkt meiner Beschäftigung mit dem Papierbündel hatte ich einige Tage aus dienstlichen Gründen eine Pause. Edda war beauftragt, niemanden einsicht in unsere Papiere zu gewähren. Auf mich wartete außerhalb monotoner Bürokram, die Übernahme des Privatarchivs eines Wissenschaftlers aus Jena, Einstellungsgespräche mit Kandidaten für unsere Einrichtung. Mit jedem Tag der Abwesenheit von meinem Schreibtisch wuchs meine Sehnsucht nach jenen alten Schriften. Am Vorabend meiner Rückkehr zu Löffler und Kleist hatte ich einen absonderlichen Traum – bei einem Gang durch die Zimmer des Archivs spürte ich ungewohnte Bewegung und Geräusche, aus einer entlegenen Ecke des Archivs wanderten Bücher auf angeklebten Füßen in meine Richtung, versammelten sich zu meinen Füßen und bewegten sich mit mir zu meinem Schreibtisch.
Angeführt wurde der wüste Haufen von einem einigermaßen gut erhaltenen braun eingebundenen Buch im Quart-Format, unlesbar, verschmiert der Titel, herausgefallene Zettel vermerken Ideen -Anregungen für künftige Werke des Dichters Kleist aus der sinnlichen Wahrnehmung der Chorbilder von St. Marien: der Weltenrichter und der Dorfrichter Adam im Zerbrochenen Krug, der Antichrist, das Jüngste Gericht und vor Gott dem Richter steht nackt und bloß der Kleistsche sündige Dorfrichter Adam und signalisiert die Ankunft des Antichristen !
Erschreckt und verschwitzt versuche ich dem Traum zu entkommen. Wie ruhig und ausgeglichen waren doch die Tage mit Edda, vergleichbar mit jenen Jahren des Predigers Josias in Berlin im Vergleich zu jenen Tagen, Wochen, Monaten des kämpferischen Aufenthalts in Frankfurt.
Als wir – Edda und ich – wieder in trauter Gemeinsamkeit zusammen im Dachstübchen arbeiten, versuchen wir ein erstes Resumé der Anfangsjahre des Pedigers Löffler an der Oder: Es ist bezeichnend für den Geist der Zeit, dass in den amtlichen Dokumenten und Bestallungsurkunden stets auf die bisherige Position Löfflers als Feldprediger im ruhmreichen Kavallerieregiment Gensd‘armes und weniger auf seine akademischen Verdienste verwiesen wird. Für den König, seinen Minister von Zedlitz und dessen zuständigen Staatssekretär Biester wird die wissenschaftliche Qualifikation vorausgesetzt, sie haben seine Aktivitäten auch nach der Rückkehr aus dem Feldzug 1779 nicht aus den Augen verloren.
Insbesondere Biester und sein Freundeskreis hatten sich – die harten Anforderungen der Oder-Universität und die Widerstände in den kirchlichen Kreisen des Bistums und der Stadt vor Augen – des jungen Wissenschaftlers in Uniform angenommen, hatten ihn in seinem Bestreben bestärkt, den literarischen Stoff, den er während des Feldzuges so sehr vermisste, nachzuarbeiten, hatten ihm wichtige Kontakte zu den führenden Köpfen der Berliner intellektuellen Elite an der Akademie der Wissenschaften, in kirchlichen Kreisen, der Verleger, Geschäftsleute und Schriftsteller vermittelt. Sie verstanden, wenn ihnen der junge Löffler in den Ohren lag mit den Träumen vom Lehrerberuf, von den Wünschen der Disputationen mit jungen Leuten, mit Schülern und Studenten. Schmerzlich wird ihnen bewusst, wie nötig die Residenz Berlin eine Universität braucht, wie anachronistisch die fürstliche Abneigung gegen die Unruhe ist, die Studenten und junge Wissenschaftler in die Mentalität des Beamtenstandes bringen könnten. Nun also die VIADRINA, neben der Halleschen Fridericiana die zentrale Nachwuchsschmiede für Juristen und Theologen des preußischen Königreiches. Nun also dem Traum von Bildung und Erziehung einen Riesenschritt näher. König, Minister und der unermüdliche Biester lassen Josias Löffler genügend Zeit für die Einarbeitung in die schwierigen Aufgaben. Die Professur an der Viadrina ist unmittelbar nach dem Tod von Simonetti auf Michaelis 1782 datiert, das Sommersemester wird vorwiegend dem Kennenlernen von Professor und Studenten gewidmet, Josias Löffler hält erste Vorlesungen zu ihm geläufigen Themen der Kirchengeschichte, der Beginn des Predigeramtes an St. Marien wird auf Januar 1783 gelegt. Josias Löffler ist beeindruckt von Frankfurt. War die seelsorgerische Tätigkeit des jungen Pfarrers Löffler in Berlin auf einen kleinen Kreis und kleine Räume beschränkt – die Gefängnisinsassen und Beamten der königlichen Hausvoigtei, die Ärzte, Pfleger, Schwestern und Kranken der Charité – so muss er sich jetzt in der großen Halle der gotischen St-Marien-Kirche von Frankfurt bewähren, so hat er jetzt vor einer mehrere Hunderte Köpfe zählenden Zuhörerschaft zu predigen. Verbunden mit den kirchlichen Aufgaben an der Oberkirche ist für ihn auch neu die Pflicht der städtischen Schulaufsicht, beschrieben mit dem Begriff des „Generalsuperintendenten“. Hospitationen an den Schulen werden mindestens einmal jährlich durchgeführt, um den Wissensstand und die pädagogische Eignung der Lehrer zu überprüfen. Er hat Berichte an die Kirchenleitung und den Magistrat zu verfassen, disziplinarisch zu loben und zu strafen, Zwistigkeiten zu schlichten – also sehr viel Verwaltung und Personalia, diplomatisches Geschick ist gefragt, da kommen ihm die Erfahrungen aus der Militärzeit gelegen, die Fähigkeiten, die er sich im Feldzug 78/79 aneignen musste. Josias Löffler „kommt gut an“ bei den Frankfurtern, in der Kirche und an der Universität. Der Chronist Christian Wilhelm Spieker kann noch Jahrzehnte später in seiner „Beschreibung und Geschichte der Marien- oder Oberkirche zu Frankfurt an der Oder“ den „ausgezeichneten Theologen“ Josias Löffler im Vergleich zu dessen Vorgängern ohne jeden Abstrich würdigen.
Besonders hebt er – gemessen an der streitsüchtigen und groben Manier des alten und kranken Simonetti – die jugendliche Frische, die lebendige Art des Predigens des neuen Diakons an St. Marien hervor. Ich erinnere mich an den Brief Amelangs an Josias Löffler aus dem Jahre 1777, der sehr anschaulich jenes das Publikum abweisende und abschreckende Moralisieren Simonettis beschrieb. Der Chronist Spieker verweist aber auch auf die Gegner Löfflers an der Universität, sowohl in den Reihen der orthodoxen, aufklärungsfeindlichen Lutheraner ebenso wie die Mehrheit der Reformierten. Was Spieker verschwieg oder nicht wusste, war der Zusammenhang der Berufung Löfflers an die Universität Frankfurt exakt vor diesem politischen Hintergrund – auf Empfehlung der der Aufklärung verpflichteten Zedlitz und Biester wurde Löffler einer der bedeutendsten „zivilen Offiziere“ des Königs im Feldzug der Aufklärung.
Doch genug für heute mit den relativ trockenen Angelegenheiten vor und hinter den Türen von St. Marien. Überlassen wir Löfflers Privatleben, den familiären Verflechtungen und den Intrigen der Aufklärungsgegner in Potsdam und Berlin den nächsten Folgen.
Dr. Dieter Weigert, 13. August 2023
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Die Germanistin A. M. Textor und andere Sprachbewusste haben eine umfangreiche Liste von Verben und Substantiven gesammelt, die der Bedeutung des schönen deutschen Wortes KLITTERN nahekommen:
beschönigen färben, frisieren, weichzeichnen, soften, retuschieren, ausschmücken, euphemisieren, schminken, verbrämen, verklären, idealisieren, schönen, vergolden, vemiedlichen, idyllisieren, durch die rosa Brille sehen, schönreden, schönzeichnen, schönfärben, schönrechnen, verblümen, bemänteln, bagatellisieren, verharmlosen, herunterspielen, untertreiben; unschöpferisch zusammenstellen, verfälscht darstellen, verfälschen, entstellen, verzerren, verdrehen, verzeichnen, überzeichnen, umkehren, ummünzen, hineininterpretieren, hineinlegen, auf sich beziehen, projizieren, hineinsehen, abfälschen, Verwandelt und erweitert in Sustantive: Beschönigung Retuschierung, Retusche, Ausschmückung, Euphemismus, Verbrämung, Verklärung, Idealisierung, Hagiographie, Überhöhung, Vemiedlichung, Idyllisierung, Schönreden, Schönzeichnen, rosa Brille, Hofberichterstattung, Schönfárberei, Schönrechnerei; Klitterung, Bemäntelung, Verharmlosung, Bagatellisierung, Untertreibung, Verfälschung, zusammengestückeltes Geschichtswerk. Eine saubere Aufzählung – Nichts sagt jene Liste aber über die Motive des Klitterers !
Bevor wir uns aber den bekanntesten KLIMSCH-Klitteren zuwenden, können wir erfreut einen Nachtrag zum letzten Blog beifügen: die von Fritz Klimsch im Jahre 1922 porträtierte Ilse Röchling-Heye war die Ehefrau des Neffen Hermann Röchlings, Alexander Röchling ( 1889 – 1937). Über Alexander Röchling wird in den Familienannalen der Röchlings deshalb wenig berichtet, da er nicht dem Idealtyp des technisch und erfinderisch interessierten Unternehmers entsprach, sich aus der Aufsicht Onkel Hermanns befreite, ins Ausland absetzte, dort früh starb und auch seine Ehefrau als Dichterin der erzkonservativen Unternehmer-Familie und vor allem dem Ultranationalisten und Patriarchen Hermann Röchling immer fremd blieb.
Aber zu den konservativen Geschichtsklitterern: Der erste Klitterer in der Reihe der „KLIMSCH-KLITTERER“ war Fritz Klimsch höchstpersönlich – in seinen Erinnerungen von 1952:
Leinen-Umschlag der Ausgabe von 1952
Verräterisch erscheint schon das Inhaltverzeichnis – die Zuordnung der Seitenmengen zu den historischen Perioden der deutschen Geschichte im Lebenslauf des Bildhauers Fritz Klimsch. Von den insgesamt 151 Text/Bild-Seiten widmete er nur 20 Seiten der NS-Zeit, in der er aber wie am Fließband auf Bestellung produzierte und vor allem seinen Gönner Goebbels privat und für seinen Amtssitz ausgiebig belieferte .
Heldentod und von ganz oben verordnete kollektive Trauer ist in Deutschland seit Afghanistan wieder „zeitgemäß“! Da sollte man sich einige Stunden nehmen und über histoische Friedhöfe schlendern – wegen der historischen Nähe!
Was thematisch und inhaltlich beim Lesen dieser „Erinnerungen und Gedanken eines Bildhauers“ erschrecken lässt, ist der Umgang Klimschs mit den Monaten und Jahren der wirklichen Umwälzungen der deutschen Geschichte. Für die Novemberrevolution und den vorangegangenen Weltkrieg hat er nur Klischees: „Von unserer damaligen Flucht aus Südtirol ist mir noch lebhaft in Erinnerung, wie ahnungslos über den drohenden Ausbruch des Krieges wir dort lebten … Noch ganz deutlich steht mir das Bild der Landschaft und des Himmels vor Augen, das, trotzdem wir im Hochsommer waren, von einer stahlharten Klarheit war, die man sonst nur im Winter beobachten kann. Ich hatte eine solche Stimmung noch nie erlebt und sie bestärkte mich in dem Gefühl, daß wir vor furchtbaren Ereignissen ständen.“ (S. 126) Und seine Beschreibung der Wende 1918: „Nahc Beendigung des ersten Weltkrieges war aus dem stolzen Deutschen Kaiserreich eine Republik geworden. Auf den Straßen Berlins jagten Lastwagen mit zerlumpten Soldaten, und ein Untermenschentum, das hauptsächlich in Tiergarten und Unter dern Linden herumstrolchte, bildete das Kennzeichen dieser wüsten Wochen. Der Spuk dauerte aber nicht allzulange …“(S. 131) Fritz Klimsch trauert den dern Weltkriegs-Arbeits-Sitzungen vom Herbst 1916 mit Hindenburg im Oberkommando Ost in Kowno nach: „Ich wurde am Zuge von dem Adjutanten des Feldmarschalls, einem Herrn v. Bismarck, abgeholt und in das Gästehaus gebracht; dieses befand sich etwas außerhalb der Stadt in angenehm ruhiger, freier Lage, hatte schöne, gut eungerichtete Räume, und ich muß sagen: ich fühlte mmi9ch dort wohl,. Die Verpflegung war ausgezeichnet5. … Doie Sitzungen verliefen in schönster Harmonie. Ich lernte diesen Mann mit jedem Tag mehr schätzen und lieben und freute mich an seinem Humor und seinem naiven, aber treffenden Urteil über Menschen.“ (S. 129)
Vergeblich sucht man in diesem Buch nach Erinnerungen des Künstlers an den Machtantritt Hitlers. Das Jahr 1933 findet keine Erwähnung. An die persönlichen Beziehungen zu Gerhart Hauptmann, Max Planck, Sven Hedin, Ernst Barlach, Käthe Kollwitz erinnert er sich, an das im Krieg ausgebombte Atelier und seinen Umzug in die Steiermark, später nach Salzburg. Der Zweite Weltkrieg erscheint in den „Erinnerungen“ – abgesehen von den Bomben auf Berlin – in einem Nebensatz: „Nachdem die Stadt Posen vorübergehend wieder deutsch geworden war, …“ (S. 150).
Die Worte „Unheil“, „Kulturschande“ finden sich zur Charakterisierung von politischen Handlungen jener Jahe – nicht aber zur Beschreibung von NS-Brutalitäten oder Militäraktionen der Nazi-Armee – sondern sind bei Fritz Klimsch Attribute, die er der Niederlage des NS-Regimes und dem Einmarsch der amerikanischen Armee in Salzburg 1945 (S. 154) oder seiner Ausweisung als bekannter Nazi-Aktivist aus Österreich (S. 155) anfügt. Das Höchste an Distanzierung von der Unmenschlichkeit der Hitler-Herrschaft in Deutschland und Österreich ist die Formulierung „der unglückselige Krieg“ (S. 149).
Als besonderes Kapitel der Geschichtsverfälschung, der Reinwaschung von jeder Schuld und der Leugnung der aktiven Mittäterschaft an den Verbrechen des NS-Regimes zieht sich wie ein dickes schwarzes Band die Beschreibung des Umgangs des Künstlers Klimsch im Nachhinein mit den führenden NS-Verantwortlichen Hitler, Goebbels und Just durch Fritz Klimschs Erinnerungsbuch von 1952. Es soll den heutigen Lesern nicht zugemutet werden, die Wortwahl, das Schönreden, die Beschreibung als Normalität des „auf-Augenhöhe“- Sprechens und Handelns, des „Dazugehörens“ in der Reichskanzlei, in den Ministerien zwischen 1933 und 1945 nochmals erleben zu müssen. In der Adenauer-Zeit gehörte es dazu, um in Bonn und Stuttgart sich die Meriten zur Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes zu verdienen, auch wenn in einigen wenigen Situationen (z.B. Aufnahme in die Kunstakademie) demokratische Kräfte die Kraft zum Widerstand aufbrachten.
Diese Charakterisierung trifft auch in vollem Maße auf die familiäre „Solidarität“ des Sohne Uli zu. Die Sprache des „echten“ Uli Klimsch – das sind die Ergüsse, Anbiederungen an den „Führer“, an Goebbels und das NS-System in seiner Publikation „Fritz Klimsch – Die Welt des Bildhauers“ aus dem Jahre 1938 – nicht erzwungen, sondern aus dem freiem Willen des Mittäters formuliert.
Es fehlt nichts an Nazi-Ideologie – die „Mitgabe oder eine Grundgabe des Bodens und des Volkes“ an den Künstler, „das Volk, die Rasse, das Fleisch und Blut“ (S. 23), das „rücksichtslose Zupacken in die Wirrnis“ (S. 26). Ein erzkonservativer, IG-Farben-dominierender Unternehmer erhält seine Würdigung: „Dieser Mann kümmerte sich weder um die Meinung anderer Kunstsammler noch um die Kritik der Tagespresse. Er ging immer wieder in die Werkstatt des Bildhauers, er kam plötzlich und nahm sich das, was ihm gefiel. Es war dies Carl Duisberg … – ein Helfer und Freund in schwerer Zeit.“ (S. 37) Da sind sie, die schwerwiegenden Begriffe der Nazi-Aggression gegen die Menschlichkeit: „Daseinszweck und Daseinskampf“ (S. 76), „das Genie, der Philosoph, der Mann mit dem Vernichtungswillen des Gegners, der weitblickende Feldherr, der Grandseigneur“ – Graf Schlieffen, dessen Porträtbüste Klimschs in den Worten des Sohnes Uli 1938 zum „Denkmal eines der größten militärischen Genies der Weltgeschichte“ wird. (S. 83) Schwer wird es dann dem Sohne, die Leistung des Vaters in rechte Worte zu fassen, wenn die künstlerische Aneignung der Personen Hitlers, Fricks, und anderer NS-„Größen“ beschrieben werden soll – da hilft nur der Mythos:“Diese Kopf wirft alles über den Haufen, was es überhaupt an Theorien über Köpfe gibt …“ (S. 94) In dieser Publikation werden sie stolz abgebildet, jene Köpfe, – nach 1945 verhindert die Amnesie, ihre damalige Existent auch nur zu erwähnen.
Elf Jahre sind vergangen seitdem Sohn Uli dem künstlerischen Werk des Vaters die NS-Krone wortreich ergoldete. Nun muss die Sprache den neuen Realitäten angepasst werden – „Freiheit“ (schon im Titel des Buches sichtbar) und „Götterferne“, das „friedensspendende Lächeln“ sind die Schlüsselbegriffe: „Götterferne gibt es in jeder Zeit – … Wer hat dieses friedensspendende Lächeln nicht in den Bildwerken der drei letzten Jahrtausende und bis zur Gegenwart beglückt empfunden?“ (S. 5) Texte und Bildauswahl belegen, dass der Sohn ein würdiger Klitterer ist – Verschwunden ist der große Mäzen Carl Duisberg, „vergessen“ sind die Jahre 1933 – 45 und der von Goebbels so geliebte Mozartbrunnen, im Unterschied zum Vater verzichtet Uli auf Beschimpfungen der Amerikaner und der Salzburger Nazigegner, die die Familie Klimsch nicht in ihren Mauern sehen wollten. Uli Klimsch, der große Klitterer weiß, was die neuen Herren in Stuttgart und Bonn lesen und betrachten möchten. Sehen wir es umfassender, jenseit der Grenzen der Ästhetik und der Hei8matgefühle im Schwarzwald und der Alpen: An der Akzeptanz des „Heldentodes“ in der Bundesrepublik Deutschland haben sie durch ihre besondere Art der Geschichtsklitterung eifrig gearbeitet – neben Fritz Klimsch selbst sein Sohn Julius („Uli“), die Kunsthistoriker Hermann Braun und Werner Stopp sowie jener anonyme Journalist, der 1960 den kurzen Nachruf auf Fritz Klimsch verfasste:
Neben der etwas grobschlächtigen und verkürzten Darstellungsweise von Fritz und Uli KLimsch wirken die biographischen und kunsthistorischen Werkbeschreibungen der Kunstwissenschaftler subtiler und – wie durch die Auftrageber angefordert – detaillierter.
Beschränken wir uns aus die Analysen von Hermann Braun in senem Katalog zur Einzelausstellung von Fritz Klimsch in der Galerie Koch in Hannover im Juni 1980.
Selbstverständlich sind die offen deklarierten NS-Produkte des Bildhauers ausgespart, es findet auch keine textliche Auseinandersetzung oder offene Kritik der Mittäterschaft Klimsch an den Propaganda-Aktivitäten des NS-Regims unter Führung seines Mäzens Goebbels statt. Im Weglassen liegt also System. Braun sichert sich ab:
„Auf eine zusammenfassende Würdigung der Persönlichkeit und des Gesamtwerks von Fritz Klimsch wurde hier bewußt verichtet.“ (S. 7)
Weggelassen sind die Bezüge zur Familie des zweifach durch Frankreich verurteilten Kriegsverbrechers Hermann Röchling, man vergleiche die Zeittafel der Ausstellung von 1980. In die Zeittafel wurden ebenfalls die für Goebbels privat angefertigten Arbeiten wie auch die von ihm privat angekauften Werke nicht aufgenommen. Der Name Goebbels taucht somit nicht in der Zeittafel auf wie selbstverständlich auch nicht die der anderen hochrangigen Kontaktpersonen aus der NS-Zeit.
Subtil erscheint ebenfalls die Art der Verschleierung der Auftraggebung jener Werke, die für das Goebbelssche Propagandaministerium durch Goebbels bestellt und durch Fritz Klimsch angefertigt und geliefert wurden. Da sie für den klassizistischen Teil des Gebäudekomplexes am Wilhelmsplatz vorgesehen waren, kann Hermann Braun sie in der Zeittafel und in den Bildbeschreibungen unter dem Standort „das von Karl Friedrich Schinkel entworfene Prinz-Friedrich-Karl-Palais, Berlin“ deklarieren (S. 14, Jahr 1937; Jahre 1938-40; S. 149). In wenigen Fällen fügt er Propagandaministerium hinzu.
Die entsprechende Analyse der Publikation von Hermann Braun aus dem Jahre 1991 bleibt einer künftigen Veröffentlichung vorbehalten.
Dr. Dieter Weigert Berlin Prenzlauer Berg 9. August 2023
Für treue Leser und andere Interessenten:
Der LINK zur ersten Folge: („Heldentod und trauernde Frau – Fritz Klimsch und die Seinen“)
Folge 10 Freunde in Neuruppin und Breslau – Nachlese des Kartoffelkrieges – Wien – Kleists Arminius
Für den Theologen Josias Löffler bringt das Jahr 1779 den ersehnten Frieden, die Rückkehr vom „Kartoffelkrieg“, vom Elend der Opfer, von Trauer und Leid, aus Schlesien und Böhmen nach Berlin, aber nicht sofort die Befreiung vom Militärdienst.
Adolph Menzel, Zeichnung zur Biographie Friedrichs II.
Noch ist er Feldprediger im königl.-preuß. Kürassier-Regiment Nr. 10 der Gens d’armes, ich wiederhole die wenigen Worte aus seinem Tagebuch, mit denen er knapp die Zwitterstellung beschreibt, die Unterstellung als Militärgeistlicher und als ziviler Theologe auf der „Warteliste“ des Berliner lutherischen Oberkonsistoriums, doppelt also König Friedich II. verpflichtet: „Hierauf kehrte er mit dem Regiment 1779 nach Berlin zurück. Hier widmete er sich, bey einem sehr leichten und geschäftsfreyen Amte, bey dem er oft bedauerte, daß es ihm nicht mehr bestimmte Arbeiten auflegte (weil es einem jungen Manne, zumal in der Hauptstadt, zu schwer sey, ohne äußerliche Veranlassungen und Nöthigungen, sich selbst auf eine befriedigende Art zu beschäftigen) theils dem Unterrichte junger Leute in der alten Litteratur, theils der Aufholung dessen, was er während des Jahres, in welchem er von der Litteratur ganz getrennt war, versäumt hatte; theils dem Umgang mit den Studierenden. Und nun kehrte bey ihm der Wunsch zurück, Lehrer der Wissenschaften, wenn möglich auch einer Universität zu seyn.“
Wir sind glücklich, in den nachgelassenen Papieren des Theologen Josias Löffler ein Blatt in seiner eigenen Handschrift gefunden zu haben, die Auskunft geben über seine Stimmung und Gefühle am Ende des Militäreinsatzes genau ein Jahr nach dem Ausmarsch aus Berlin:
Josias Löfflers Tagebuch 1778/79, Bl. 31
Die wichtigsten Passagen, mit kleineren Lücken transkripiert:
Den 21 ten April 1779 „Heute ist es gerade ein Jahr, daß ich meine Reise aus Berlin antrat, um in eine Lebensart zu treten, die voller Unruhe, Zerstreuungen und derjenigen ganz entgegengesetzt war, die ich bisher geführt hatte. So lehrreich dieses Jahr für mich gewesen, so mannigfaltig die Erfahrungen, die ich darin gemacht, so wünschte ich doch einen ruhigeren Zeitpunkt und freue mich zu der Hoffnung des wiederkehrenden Friedens um wieder zu meiner vorigen Lebensart zurückzukehren, und mich wieder auf die Wissenschaften zu legen, die mich zur Führung meines Amtes geschickter und zu einem brauchbaren Menschen machen. Wenn ich bedenke, daß der Werth des Menschen und die Zufriedenheit mit sich selbst lediglich oder größtentheils aus der regelmäßigen Thätigkeit entspringt, in der er seinen Geist erhält und durch die er der Welt nützlich wird, so wird dieser Wunsch um so lebhafter, je mehr ich bis jetzt in Zerstreuungen lebe, die den Geist allmählich von planvoller Geschäftigkeit entwöhnen, und ihm seine Festigkeit und gleichsam seine Consistenz rauben, daß er gleich dem Waßer über der Oberfläche der Dinge hin und her schwimmt. Es scheint, daß mich diese Veränderung meiner Lebensart nicht weiter stört, so bald ich meinen Geist zu seiner Thätigkeit wiedergewöhne. Aber ich muß mich grämen, wenn die Flüchtigkeit und Unruhe ihm eigen bleibt, die ihn bisher hin und her geworfen hat. Der Honigsucher ist sich nur alsdann nützlich, wenn er gleich der Biene, die von einer Blume zur anderen fliegt, auch jene brauchbaren Säfte fängt und setzt ihrer Leistung und ihrer Lebensart getreu alles in Honig ansammelt – unter seinen Arten herumflattern von Städten zu Städten, und von Menschen zu Menschen, immer Nahrung für seinen Geist, für sein Herz, und für die Kunst sammelt, der sein Werk ist und wodurch er der Welt nützlich werden soll – Ein Tageslauf in dem am Abend des Tages wenn er das was er gesehen, gehört, gedacht hat, alles vor dem Auge seines Geistes vorüberziehen läßt, alle seine Mittel, Zweck und Vorteil nicht zu verlieren, den ihm diese neue Lebensart darbietet. „
Es sind Hilfeschreie, und es sind Reflektionen, die er seinen Freunden aus der Hallischen Zeit, Stuve und Lieberkühn, in Briefen mitteilt. In der Folge 8 dieser Serie erwähnte ich die beiden Freunde aus der Studienzeit, die nun als Pädogogen eine Stelle gefunden hatten, um die Josias Löffler sie beneidete – Philipp in Neuruppin, Johann in Breslau. Aus seiner Sicht waren seine beruflichen Voraussetzungen nicht schlechter als die der Freunde, sie hatten aber mehr Glück. Wir finden in den Papieren des Komvoluts Hinweise darauf, wie modern die pädogogischen Auffassungen der drei Hallischen Ansolvenen waren: Für die moderne, den sachkundlichen Bedürfnissen des bürgerlichen Berufes der Schüler zugewandte Pädagogik der drei Freunde, spricht auch Löfflers Geschenk an die Schule in Neuruppin (siehe Philipp Julius Lieberkühns, gewesenen Rektor am Elisabethanischen Gymnasium zu Breslau Kleine Schriften …, herausgegeben von Ludwig Friedrich Gottlob Ernst Gedike, Züllichau und Freystadt 1791, S. 55) – „den Köhlerschen Atlas der alten Geographie“ (vermutlich handelte es sich um die wertvolle Edition aus dem Jahre 1720, erschienen bei Christoph Weigel in Nürnberg unter dem Titel „Descriptio orbis antiqui in XLIV tabulis exhibita. Atlas Manualis Scholasticus et itinerarius“) In einem Begleitschreiben wird Josias geschichtsphilosophisch: der Atlas des Altdorffer Universitätsprofessors Johann David Köhler regt ihn an zum Träumen in globaler oder zumindest europäischer Tragweite. Dieses Schreiben ist leider nicht erhalten, aber den Dankesbrief von Philipp Julius Lieberkühn und zwei weitere Briefe konnte ich im Archiv von Neuruppin ausfindig machen. Aus ihnen las ich zu meiner Verblüffung heraus, dass es eine weltanschauliche Debatte zwischen Philipp und Josias über das Thema China und Europa gegeben hat. Es stellt sich heraus, dass Lieberkühn ein glühender Bewunderer Köhlers war, der in seinen letzten 20 Lebensjahren eine Geschichtsprofessur in Göttingen innehatte und in Halle unter den Studenten wegen seiner gediegenen Kenntnisse in der Genealogie, der Heraldik und der Geschichte der Münzen beliebt war. Philipp Lieberkühn bezog sich in seinen Briefen auf die China-Beiträge in dem genannten Atlas, wandte sich aber kritisch gegen Köhler, weil er im populären Bilderatlas mit Hunderten von Kupferstichen zur Geschichte unter dem Titel „Gedächtnis-Hülfliche Bilder-Lust der Merkwürdigsten Welt-Geschichten Aller Zeiten“ von 1726 die asiatischen Länder östlich Persiens und Palästinas nicht behandelte. Aber dafür finde ich unter den Papieren des Lieberkühn die 11-seitige Schrift: Joseph Moxon, Hamburg 1676, „kurtzer Diskours von Der Schiff-Fahrt bey dem Nord-Pol Nach Japan / China / und so weiter. Durch drey Erfahrungen dargethan und erwiesen/ nebenst Beantwortungen aller Einwürffe/ welche wieder die Fahrt auff diesem Weg können eingewendet worden; Als 1. Durch eine Schiffahrt von Amsterdam in den Nord-Pol. 2. Durch eine Schiffahrt von Japan / nach den Nors-Pol. 3. Durch einen Versuch den der Großfürst in der Moskau thun lassen/ wodurch erscheinet / daß gegen Norden von Nova Zembla eine frey und offene See ist biß nach Japan China und so weiter Sampt einer Land-Charte so alle Länder nechst dem Polo anweiset. Aus dem Englischen ins Hochdeutsche übersetzet.“ (mit Karten) Aber auch dieses schöne Stück der Sammlung zu orientalischen Themen leidet, wie die Freunde meinen, an „Schwindsucht“, wenn es um China geht. Philipp kennt sich aus, er hatte sich auch intensiv mit Leibniz beschäftigt, seinen Briefwechsel mit den Jesuiten gelesen und war auf den Würzburger Jesuitenpater Kilian Stumpf gestoßen. Philipp war ein Leibnizianer, von den im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts erschienen Novissima Sinica hatte er gehört, sie aber leider nicht zu Gesicht bekommen. Ich suche verbissen in dem Papierbündel nach weiteren Zeugnissen der Beschäftigung der beiden „Neuruppiner“, wie ich sie nenne, mit der chinesischen Philosophie und Theologie, – aber vergeblich. Keine weiteren Briefe. Aber als ich schon diese Spur verlassen wollte, geriet mir ein zusammengeheftetes dreiblättriges Stück mit verblassten Tintennotizen in die Finger – nach einem Handschriftenvergleich aus der Feder von Philipp Lieberkühn. Es waren nicht abgeschickte Briefentwürfe. Soweit ich bisher verstand, hatten die drei Freunde zu ihrer Hallenser Zeit auch das Thema China ausführlich diskutiert, Leibniz‘ Briefwechsel mit den Jesuiten entdeckt und mit Bedauern festgestellt, dass es unter den europäischen protestantischen Fürsten kein Interesse gab an der Unterstützung von Missionen nach China. – Sie empfanden diese Haltung kleinkariert, borniert, suchten nach Wegen, wie sie als künftige Akademiker mithelfen könnten, die Überzeugungen der Fürsten zu verändern. Vermutlich stammten die gefundenen Notizen aus dieser Periode. Heute und morgen jedoch ist nicht die Gelegenheit, sich mit diesem anregenden Thema zu beschäftigen, die Aktivitäten unseres Theologen Josias nach seiner Rückkehr aus dem Kriege haben Vorrang.
Edda ist zurück , aus dem freien Vormittag ist eine halbe Woche geworden. Ihr Geschenk für mich: ein Sack voller Fragen und Anregungen, ein großer Umschlag mit Karten, Abbildungen, Zeichnungen. Zu meiner Verblüffung legt sie wortlos ein handgeschriebenes Blatt auf meinen Tisch, das nur eine Zeile enthält:
Wie fühlte er sich, der Propagandist des Krieges?
Wir sind sofort in einer heißen Debatte – war Josias Löffler ein Pazifist? Hat er sich grundsätzlich, philosophisch zu Krieg und Frieden, Gewalt und Toleranz geäußert? Edda bringt Heinrich von Kleist wieder ins Gespräch, auch wenn der Dichter und Leutnant in den Jahren des Kartoffelkrieges noch in den Armen der Amme des Nonnenwinkels lag. Es wäre dennoch von Nutzen, die Reflektionen des Feldpredigers mit den späteren Haltungen des Dramatikers z.B. im Arminius-Stück zu vergleichen. Ich verberge meine Verwunderung darüber, mit welcher gedanklichen Tiefe, vermutlich durch nächtliches Studium erreicht, Edda aus Ihrer mehrtätigen „Büro-Diaspora“ zurückgekommen ist und versuche, durch geschicktes Fragen diese Hintergründe zu verstehen. Sie verweist locker auf Wien, auf den Schriftsteller Collin. Den habe sie ohne großes Aufsehen nebenbei in den Tagen vor ihrem Privat-Rückzug in einem Regal entdeckt. Angriffslustig lenkte sie die Unterhaltung auf jene Passagen im Arminius-Stück, in denen Kleist dreißig Jahre nach den Kartoffelkriegs-Erfahrungen des väterlichen Freundes Josias Löffler die Lüge, die Tatsachen-Verdrehungen, die Fälschungen und das gesamte System der Propaganda zum legitimen Instrumentarium des Heerführers und seiner Offiziere erklärt. – Und was hat jener Collin damit zu schaffen? – Ohne Collin wäre das Stück nicht in dieser Gestalt entstanden! Edda macht es Freunde, mich auf dem falschen Fuß zu erwischen und tanzen zu lassen.
Ich lasse mich auf ein Gefecht mit den leichten Waffen ein, wähle das Florett, lehne Säbel und Degen ab: – liebe Edda, darf ich auf jene mustergültige Predigten unseres Josias verweisen, in denen er Texte aus dem Alten und Neuen Testament als Belegstücke für die innere Widersprüchlichkeit der christlichen Religion in diesen Fragen anführt ? Wohin schlägt aus deiner Sicht das Pendel aus ?
Auch ich bin gut vorbereitet: Ich greife wie zufällig in die Buchreihe hinter mir, in den letzten Wochen sogfältig mit Drucken aus der Feder von Josias Löffler gefüllt, bitte Edda, Seite 153 des gut erhaltenen, goldbestückten Exemplars „Predigten Zweyter Band“ aufzuschlagen:
Die darin enthaltene Rede zum Gedächtnis Friedrich II. vom 10. September 1786, S. 153 ff, springt und sofort in die Augen. Obwohl zu ihrem Verständnis eigentlich die Darstellung der professoralen Jahre des Theologen in Frankfurt an der Oder eine wichtige Voraussetzung wären, sollten und müssten wir sie schon heute studieren, d.h. uns den Positionen Löfflers zur christlichen Friedenslehre widmen – sozusagen als Nachlese zu den schmerzlichen Erfahrungen im sogenannten Kartoffelkrieg !
Der Text ist gruppiert um ein Zitat aus dem Alten Testament: 1. Chronik XVII, 8: „Ich habe dir einen Namen gemacht, wie die Großen auf Erden Namen haben“ (S. 157)
Für Josias Löffler ist Friedrichs Name identisch mit der allgemein-menschlichen Friedenssehnsucht: Frieden: „… diese Aufopferung für das allgemeine Beste bewies er aber nicht bloß in diesem oder jenem Theile der Staatsverwaltung, sondern überall; … bey der Beschützung und Vertheidigung seiner Länder, im Kriege nicht minder, als in der Ruhe des Friedens – … (S. 161)
„Er argumentiert mit den Zweiflern: „Es ist wahr, er führte drey Kriege – denn im vierten bewegte Er nur Sein Heer, um den Frieden zu erhalten – … Verheerende Kriege und blutige Schlachten konnten dem guten Könige keine Freude seyn, der so gern sein Land in blühenden Stand setzen und bevölkern wollte … Friede war sein höchster Wunsch, und ihn auf das festeste, selbst für die Zukunft zu gründen, eines der glorreichsten und letzten Geschäfte seine Lebens. Und so nimmt er dieser bewunderte König auch den Ruhm mit in das Grab, daß Er der große Beschützer und Vertheidiger seiner Länder, daß Er der Friedensstifter unseres ganzen deutschen Vaterlandes war.“ (162)
Das Resumé: „Nur unter dem gesegneten Einflusse des Friedens konnte Er sein angenehmstes Geschäft betreiben, und den erhabensten Zweck seiner Regierung erreichen, konnte er seine Länder beglücken und ihren Wohlstand mehren.“ (S. 163)
Ich schlage den Band zu, bin stolz auf die in meiner Regie – aber mit öffentlichen Geldern – erworbene Predigtsammlung des Josias Löffler, herausgegeben vom ehrwürdigen Frommann in Züllichau:
Darin findet sich – zu unserem aktuellen Thema passend – auch die Abschiedspredigt Regiment Berlin 16. Oktober 1782: (S. 1 ff), wobei ich schon wieder dem Gang der Gedanken vorauseile, mitgerissen vom goldbedruckten ledernen Buchrücken aus Züllichau.
Was packt mich sofort? In den meisten der abgedruckten und von Josias selbst ausgewählten Predigten die theologisch verpackte Friedenssehnsucht: an erster Stelle jene Predigt im Bd. 3 aus dem Jahre 1793, (S. 397 ff) zu einer Stelle im Lukasevangelium (II, 22-32), der er den Titel gibt „Von der Verbindung der Vaterlandsliebe und der allgemeinen Menschenliebe“ – Josias Löffler propagiert den Zuhörern in Gotha seine Version des bekannten Lukas-Berichtes der Darbringung des Säuglings Jesus im Tempel:„Simeon, der sich bei der Darstellung Jesu im Tempel einfand, erscheint uns von Seiten seines Verstandes und seines Herzens gleich ehrwürdig. Gleich jedem jüdischen Patrioten jenes Zeitalters wartete auch er auf den Trost, den Erretter und Heiland Israels; aber er hatte von ihm nicht die verkehrten Begriffe der Menge; … Aber, was ihn weit ehrwürdiger zu machen verdient, das ist das gute wohlwollende Herz, welches aus jedem Zuge seiner Aeußerungen hervorleuchtet, …
Er freuete sich des Ruhms seiner Nation, aber auch der Erleuchtung der heidnischen Welt; und so zeigte er die wärmste Vaterlandsliebe, die nicht unempfindlich gegen das Glück und den Ruhm des Vaterlandes ist, mit der reinsten, über alle Vorurteile erhabenen Menschenliebe, die kein Volk von ihrem Wohlwollen und von ihrer Teilnahme ausschließet.“ S. 402/03
Löffler predigt, „daß die Verbindung beyder nicht nur möglich, sondern selbst pflichtmäßig und leicht, sey.“ S. 403 und er definiert: „Dieses sind die Züge der Vaterlandsliebe: Gerechtigkeit gegen jedermann; Gehorsam gegen die Gesetze; Ehrfurcht gegen den Regenten; weise Regierung des Hauses, und Erziehung der Kinder; gewissenhafte Verwaltung anvertrauter Geschäfte; und Bereitwilligkeit, jede Anstalt zu unterstützen, wodurch Ruhe und Sicherheit, Wohlstand und Ordnung, Sittlichkeit und Tugend, befördert wird.“ (412)
„Menschenliebe– heiliger, ehrwürdiger oft entweiheter aber doch ehrwürdiger Name – Was ist sie? Der Name sagt; Sie ist die einfachste verständlichste Sache; Sie ist Liebe der Menschen, aber der Menschen als Menschen ohne Rücksicht des Hauses des Standes, des Volkes, der Religion, des Welttheils; sie ist Liebe jedes Hauses, jedes Standes jedes Volkes kurz des ganzen Geschlechts; sie ist der Wunsch, daß es allen Mitgliedern derselben wohlgehe, daß sie alle erleuchtet und sittlich werden; sie ist endlich das streben zu diesem Zwecke nach dem Vermögen dass Gott darreicht selbst beyzutragen.“ (413)
„So der fromme Simeon. Er freuete sich nicht bloß des Glücks und des Ruhms seines Volks, sondern auch der Erleuchtung der Heiden …
So verband er Liebe seines Volks und Liebe für unser Geschlecht, und zeigte dadurch die Möglichkeit, beydes zu verbinden.“ (415)
Edda zieht mich zurück in die gegenwärtigen Aufgaben, ich sträube mich – die alten Texte haben etwa Verführerisches ! Nochmals greife ich in das Regal hinter mir, fasse blind den Nachdruck der ersten Luther-Bibel, halte Edda die Seite mit dem Beginn des Lukas-Evangeliums vors Gesicht:
Edda schafft es, mich in die nüchterne Gegenwart zurück zu ziehen, denn ich bin auch etwas ermüdet von den Gedankenspielen über Leben und Tod auf den Schlachtfeldern Böhmens, Sachsens, Schlesiens. Um die chose zu Ende zu bringen, blättere ich die restlichen ungeordneten Zettel und Briefe durch, die sich in dem Umschlag „Feldzug 78/79“ befinden – und stutze. „Edda, ich habe Sie in den letzten Tagen kaum behelligt. Nun aber frage ich die Kennerin – wann ist denn die Textfassung der Kleistschen ‚Hermannsschlacht‘ in öffentlicher Form erschienen? Noch zu Lebzeiten des Dichters oder auch noch zu Lebzeiten Löfflers? Abgesehen von seinen eigenen kurzen Gefechtserfahrungen gegen die Truppen der französischen Republik konnte sich Leutnant a.D. Heinrich von Kleist beim Feldprediger a.D. Josias Löffler doch interessante Ratschläge für die Gestaltung des Felzuges des Cheruskers Arminius gegen die Römer einholen!“ Mein wandelndes Lexikon muss nicht lange nachdenken – „Erst lange nach dem Tode beider !“ – Ich hake nach – „Wieso aber gibt es hier eine handschriftliche Notiz Löfflers zur Thematik von ‚Lug und Trug‘, von Aufheizung der Völker in Kriegszeiten durch Zeitungen und Theaterstücken, die sich auf mehrere Passagen in Kleists Hermannsschlacht bezieht und in der Löffler den Namen Collin nennt?“- „Collin?“ zieht Edda nachdenklich am Pferdeschwanz, „war das nicht jener Mensch mit Adelstitel, der für das Wiener Burgtheater schmalzige Lieder und Postillen aus dem antiken Rom für den Tagesgebrauch schrieb, unverdauliches Zeug? Die Kitschprodukte brachten nichts ein, aber dafür den hoch dotierten Posten als Dramaturg!“ Vergnüglich spende ich der lieben Edda Beifall, auf meine fragenden Blicke setzte sie hinzu: „mein Zweitfach an der Uni war deutsche Literaturgeschichte, der Assistent beschäftigte uns zwei Jahre lang mit Brechts Vorliebe für das alte Rom, da ist etwas hängen geblieben, zum Beispiel der unvergessliche Coriolanus auf den deutschsprachigen Bühnen zu Klassiker Goethes Zeiten!“ – Ich bohre weiter: „wie aber kommt Löffler an einen Text von Kleist, der noch nicht veröffentlicht war?“ Edda vertröstet mich auf den Montag, sie wolle sich in ihren Nachschriften von damals umsehen, ob da nicht etwas über den Burgtheater-Menschen Collin zu finden sei, vielleicht über den Umweg Varus im Teutoburger Wald und somit über Kleists Germanischen Helden Hermann! Den geheimnisumwitterten Notizzettel kopiert sie schon mal für das ruhige Weekend.
Am Montagmorgen ist großes Spectaculum angesagt – Edda bepflastert die Holzverkleidung meiner Fensterwand (sehr helle Zirbelkiefer mit lustigen kleinen Astzeichnungen) mit bunten Zettelchen und einigen Porträts und Theaterpapieren. Darüber befestigt sie ein Banner mit dem barock verzierten Schriftzug: Eddas Tableau! Burgtheater Wien und Kgl. Preuß. Schauspielhaus Berlin kann ich von meinem Platz in der ersten Zuschauerreihe erkennen. Edda hat eine Schwäche für graphische Darstellungen, für geometrische Figuren – also ist das Ganze kreisförmig angeordnet: im Zentrum ein einzelnes Blatt, von dort strahlen farbige Fäden in die vier Himmelsrichtungen. Zwischen dem Tableau und dem Kreis klebt sie nun eine Holzleiste mit einer Zahlenreihe, vor die Wand platziert sie ein Stehpult, darauf das Heft mit dem Text der Hermannschlacht: „Druck und Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1920; „Reclams Universal-Bibliothek“ Nr. 348; „Rosenranken-Umschlag“).
Auf einen Wink der Gestalterin trete ich näher, ihr rechter Zeigefinger weist auf drei rot unterlegten Zeilen des Blattes im Zentrum:
„erhalten Sie ferner Ihr Wohlwollen demjenigen,
der sich nennt Ihr ergebenster
Gotha, den 28.Jan. 1810 Heinrich v. Kleist.“
Mein Blick muss Verständnislosigkeit ausstrahlen – Edda versucht es mit Stichworten: „Gotha?, Löffler?, der Kamerad aus Potsdam? Der Selbstmord-Versuch? Immer noch nichts ?“ Sie führt mich zu dem zugehörigen Brieftext in der unteren rechten Ecke ihres Tableaus und zitiert genüsslich die ersten Sätze, dann den gesamten Brief:
157.Heinrich von Kleist an Heinrich Joseph von Collin
Teuerster Herr von Collin,
Kurz vor dem Ausbruch des Krieges erhielt ich ein Schreiben von Ihnen, worin Sie mir sagten, daß Sie das Drama: die Hermannsschlacht, das ich Ihnen zugeschickt hatte, der K. K. Theaterdirektion, zur Prüfung und höheren Entscheidung, vorgelegt hätten. Natürlich machten die Vorfälle, die bald darauf eintraten, unmöglich, daß es aufgeführt werden konnte. Jetzt aber, da sich die Verhältnisse wieder glücklich geändert haben, interessiert es mich, zu wissen: ob sich das Manuskript noch vorfindet ? ob daran zu denken ist, es auf die Bühne zu bringen? und wenn nicht, ob ich es nicht nach Berlin zurück erhalten kann? – Ebenso lebhaft interessiert mich das Käthchen von Heilbronn, das Sie die Güte hatten, für die Bühne zu bearbeiten. In demselben, schon erwähnten Briefe schrieben Sie: die Rollen seien ausgeteilt, und alles zur Aufführung bereit. Ist es aufgeführte Oder nicht? Und wird es noch werden? – Alle diese Fragen, die mir, wie Sie begreifen, nahe gehen, bitte ich, in einem freien Augenblick, wenn Sie ihn Ihren Geschäften abmüßigen können, freundschaftlich zu beantworten. – Wie herzlich haben uns Ihre schönen Kriegslieder erfreut; und wie herzlich erfreut uns der Dank, den der Kaiser, Ihr Herr, Ihnen kürzlich öffentlich dafür ausgedrückt hat! Nehmen Sie die Versicherung meiner innigsten Liebe und Hochachtung an, und erhalten Sie ferner Ihr Wohlwollen demjenigen, der sich nennt Ihr ergebenster
Gotha, den 28.Jan. 1810 Heinrich v. Kleist.
N. S. Ich war nur auf kurze Zeit hier, und gehe morgen nach Berlin zurück, Wohin ich poste restante zu antworten bitte.“
Ich muss mich wieder setzen! Der Blitz hat eingeschlagen: „Edda, das ist die Antwort auf unsere Frage vom Freitag! Kleist hatte bei dem Besuch seines ehemaligen Potsdamer Regimentskameraden von Schlotheim selbstverständlich bei Löffler ‚vorbeigeschaut‘ und mit ihm über die Theatervorhaben, also auch über die ‚Hermannsschlacht‘ geplaudert, also über Themen, die – wie im Brief an Collin beschrieben – ‚mir nahe gehen‘. Ganz gewiß hatte er auch eine Arbeitskopie des bisher unveröffentlichten Stückes im Reisegepäck, daher die Textauszüge, die sich Löffler selbst anfertigte oder von einem der herzoglichen Schreiber anfertigen ließ. Das ist des Pudels Kern, wie Goethe formulieren würde. Und beim Schlotheim junior war er aufgekreuzt wegen der finanziellen Verbindungen, über die wir schon gesprochen haben!“
Edda hält das Heftchen hoch und nimmt die klassische Deklamierstellung ein – schon muss ich unterbrechen: -„Was hat es mit der hölzernen Zahlenleiste dort auf sich ?“ – „Das sind die Zeilen-Nummern einer modernen Ausgabe der ‚Hermannsschlacht‘, wo wir Bezüge zu unserer Ausgangsfrage – Propaganda in Kriegszeiten, Fanatismus und nationalistischer Haß, Massenmanipulation in zweitausend Jahren – finden! Ich komme darauf zurück, Chef.“ Ich notiere schon mal die Zahlen für mein geplantes nochmaliges Lesen des Textes am Abend: 894 – 955, 1473 – 1527, 1570 – 1627, 1720 – 1750, 2200 – 2225. Aber Edda meint, wir sollten jetzt schon uns an den Kleistschen Text wagen und zu versuchen, uns der Kriegsstimmung und dem Propagandafeldzug, der „Lug- und- Trug“- Taktik zu stellen. Sie nimmt das Heftchen und deklamiert:
Akt III Zweiter Auftritt
Drei Hauptleute treten eilig nach einander auf. – Die Vorigen.
DER ERSTE HAUPTMANN indem er auftritt.
Mein Fürst, die ungeheueren (894)
Unordnungen, die sich dies Römerheer erlaubt,
Beim Himmel! übersteigen allen Glauben.
Drei deiner blühndsten Plätze sind geplündert,
Entflohn die Horden, alle Hütten und Gezelte –
Die unerhörte Tat! – den Flammen preisgegeben!
HERMANN heimlich und freudig.
Geh, geh, Siegrest! Spreng aus, es wären sieben! (900)
DER ERSTE HAUPTMANN.
Was? – Was gebeut mein König?
EGINHARDT. Hermann sagt –
Er nimmt ihn beiseite.
DER ERSTE ÄLTESTE. Dort kommt ein neuer Unglücksbote schon!
DER ZWEITE HAUPTMANN tritt auf.
Mein Fürst, man schickt von Herthakon mich her,
Dir eine gräßliche Begebenheit zu melden!
Ein Römer ist, in diesem armen Ort,
Mit einer Wöchnerin in Streit geraten,
Und hat, da sie den Vater rufen wollte,
Das Kind, das sie am Busen trug, ergriffen,
Des Kindes Schädel, die Hyäne, rasend
An seiner Mutter Schädel eingeschlagen. (910)
Die Feldherrn, denen man die Greueltat gemeldet,
Die Achseln haben sie gezuckt, die Leichen
In eine Grube heimlich werfen lassen.
HERMANN ebenso. Geh! Fleuch! Verbreit es in dem Platz, Govin!
Versichere von mir, den Vater hätten sie
Lebendig, weil er zürnte, nachgeworfen!
DER ZWEITE HAUPTMANN.
Wie ? Mein erlauchter Herr!
EGINHARDT nimmt ihn beim Arm. Ich will dir sagen –
Er spricht heimlich mit ihm.
ERSTER ÄLTESTER. Beim Himmel! Da erscheint der dritte schon!
DER DRITTE HAUPTMANN tritt auf.
Mein Fürst, du mußt, wenn du die Gnade haben willst,
920 Verzuglos dich nach Helakon verfügen.
Die Römer fällten dort, man sagt mir, aus Versehen,
Der tausendjährgen Eichen eine,
Dem Wodan, in dem Hain der Zukunft, heilig.
Ganz Helakon hierauf, Thuiskon, Herthakon,
Und alles, was den Kreis bewohnt,
Mit Spieß und Schwert stand auf, die Götter zu verteidgen.
Den Aufruhr rasch zu dämpfen, steckten
Die Römer plötzlich alle Läger an:
¬ Das Volk, so schwer bestraft, zerstreute jammernd sich,
930 Und heult jetzt um die Asche seiner Hütten. –
Komm, bitt ich dich, und steure der Verwirrung.
HERMANN. Gleich, gleich! – Man hat mir hier gesagt,
Die Römer hätten die Gefangenen gezwungen,
Zeus, ihrem Greulgott, in den Staub zu knien ?
DER DRITTE HAUPTMANN.
Nein, mein Gebieter, davon weiß ich nichts.
HERMANN. Nicht ? Nicht ? – Ich hab es von dir selbst gehört!
DER DRITTE HAUPTMANN.
Wie ? Was ?
HERMANN in den Bart.
Wie! Was! Die deutschen Uren!
– Bedeut ihm, was die List sei, Eginhardt.
EGINHARDT. Versteh, Freund Ottokar! Der König meint –
Er nimmt ihn beim Arm und spricht heimlich mit ihm.
ERSTER ÄLTESTER.
940 Nun solche Zügellosigkeit, beim hohen Himmel,
In Freundes Land noch obenein,
Ward doch, seitdem die Welt steht, nicht erlebt!
ZWEITER ÄLTESTER.
Schickt Männer aus, zu löschen!
HERMANN der wieder in die Ferne gesehn. Hör, Eginhardt!
Was ich dir sagen wollte –
EGINHARDT. Mein Gebieter!
HERMANN heimlich. Hast du ein Häuflein wackrer Leute wohl,
Die man zu einer List gebrauchen könnte?
EGINHARDT. Mein Fürst, die War‘ ist selten, wie du weißt.
– Was wünschest du, sag an ?
HERMANN. Was ? Hast du sie ?
Nun hör, schick sie dem Varus, Freund,
Wenn er zur Weser morgen weiter rückt, 950
Schick sie in Römerkleidern doch vermummt ihm nach.
Laß sie, ich bitte dich, auf allen Straßen,
Die sie durchwandern, sengen, brennen, plündern:
Wenn sies geschickt vollziehn, will ich sie lohnen!
EGINHARDT. Du sollst die Leute haben. Laß mich machen.
Er mischt sich unter die Hauptleute.
Akt VI Dritter Auftritt
Hermann und Eginhaırdt treten auf.
HERMANN. Tod Verderben, sag ich, Eginhardt! 1473
Woher die Ruh, Woher die Stille,
In diesem Standplatz römscher Kriegerhaufen ?
EGINHARDT. Mein bester Fürst, du weißt, Quintilius Varus zog
Heut mit des Heeres Masse ab.
Er ließ, zum Schutz in diesem Platz,
Nicht mehr, als drei Kohorten nur, zurück.
Die hält man ehr in Zaum, als so viel Legionen, 1480
Zumal, wenn sie so wohlgewählt, wie die.
HERMANN. Ich aber rechnete, bei allen Rachegöttern,
Auf Feuer, Raub, Gewalt und Mord,
Und alle Greul des fessellosen Krieges!
Was brauch ich Latier, die mir Gutes tun ?
Kann ich den Römerhaß, eh ich den Platz verlasse,
In der Cherusker Herzen nicht
Daß er durch ganz Germanien schlägt, entflammen:
So scheitert meine ganze Unternehmung!
EGINHARDT
1490 Du hättest Wolf, dünkt mich, und Thuskar und den andern
Doch dein Geheimnis wohl entdecken sollen.
Sie haben, als die Römer kamen,
Mit Flüchen, gleich die Teutoburg verlassen.
Wie gut, Wenn deine Sache siegt,
Hättst du in Deutschland sie gebrauchen können.
HERMANN. Die Schwätzer, die! Ich bitte dich;
Laß sie zu Hause gehn. –
Die schreiben, Deutschland zu befreien,
Mit Chiffern, schicken, mit Gefahr des Lebens,
1500 Einander Boten, die die Römer hängen,
Versammeln sich um Zwielicht – essen, trinken,
Und schlafen, kommt die Nacht, bei ihren Frauen. –
Wolf ist der einzge, der es redlich meint.
EGINHARDT. So Wirst du doch den Flambert mindestens,
Den Torst und Alarich und Singar,
Die Fürsten an des Maines Ufer,
Von deinem Wagstück staatsklug unterrichten?
HERMANN. Nichts, Liebster! Nenne mir die Namen nicht!
Meinst du, die ließen sich bewegen,
1510 Auf meinem Flug mir munter nachzuschwingen ?
Eh das von meinem Maultier würd ich hoffen.
Die Hoffnung: morgen stirbt Augustus!
Lockt sie, bedeckt mit Schmach und Schande,
Von einer Woche in die andere. –
Es braucht der Tat, nicht der Verschwörungen.
Den Widder laß sich zeigen, mit der Glocke,
So folgen, glaub mir, alle anderen.
EGINHARDT. So mög der Himmel dein Beginnen krönen!
HERMANN.
Horch! Still!
EGINHARDT. Was gibts?
HERMANN. Rief man nicht dort Gewalt ?
EGINHARDT. Nein, mein erlauchter Herr! Ich hörte nichts, 1520
Es war die Wache, die die Stunden rief.
HERMANN. Verflucht sei diese Zucht mir der Kohorten!
Ich stecke, Wenn sich niemand rührt,
Die ganze Teutoburg an allen Ecken an!
EGINHARDT. Nun, nun! Es wird sich wohl ein Frevel finden.
HERMANN. Komm, laß uns heimlich durch die Gassen schleichen,
Und sehn ob uns der Zufall etwas beut.
Beide ab.
Akt IV Fünfter Autritt
… DER ZWEITE VETTER.
1565 Wer die Person ist, fragt ihr ?
Er nimmt eine Fackel und beleuchtet ihre Füße.
TEUTHOLD. Gott im Himmel!
Hally, mein Einziges, was widerfuhr dir ?
Der Greis führt ihn auf die Seite und sagt ihm etwas ins Ohr.
Teuthold steht, wie vom Donner gerührt. Die Vettern, die ihm gefolgt waren,
erstarren gleichfalls. Pause.
DER ZWEITE CHERUSKER.
Genug! Die Fackeln weg! Führt sie ins Haus!
Ihr aber eilt den Hermann herzurufen!
TEUTHOLD indem er sich plötzlich wendet.
Halt dort!
DER ERSTE CHERUSKER.
Was gibts?
TEUTHOLD. Halt, sag ich, ihr Cherusker!
Ich will sie führen, Wo sie hingehört. Er zieht den Dolch.
– Kommt, meine Vettern, folgt mir!
DER ZWEITE CHERUSKER. Mann, was denkst du? 1570
TEUTHOLD zu den Vettern.
Rudolf, du nimmst die Rechte, Ralf, die Linke!
– Seid ihr bereit, sagt an ?
DIE VETTERN indem sie die Dolche ziehn.
Wir sinds! Brich auf!
TEUTHOLD bohrt sie nieder.
Stirb! Werde Staub! Und über deiner Gruft
Schlag ewige Vergessenheit zusammen!
Sie fällt, mit einem kurzen Laut, übern Haufen.
Das Volk. Ihr Götter!
DER ERSTE CHERUSKER fällt ihm in den Arm.
Ungeheuer! Was beginnst du ?
EINE STIMME aus dem Hintergrunde.
Was ist geschehn ?
EINE ANDERE. Sprecht!
EINE DRITTE. Was erschrickt das Volk ?
DAS VOLK durcheinander.
Weh! Weh! Der eigne Vater hat, mit Dolchen,
Die eignen Vettern, sie in Staub geworfen!
TEUTHOLD indem er sich über die Leiche wirft.
Hally! Mein Einzges! Hab ichs recht gemacht?
Sechster Auftritt
Hermann und Eginhardt treten auf. Die Vorigen.
DER ZWEITE CHERUSKER.
1580 Komm her, mein Fürst, schau diese Greuel an!
HERMANN.
Was gibts?
DER ERSTE CHERUSKER.
Was! Fragst du noch? Du weißt von nichts?
HERMANN. Nichts, meine Freund! ich komm aus meinem Zelte
EGINHART. Sagt, was erschreckt euch?
DER ZWEITE CHERUsKER halblaut. Eine ganze Meute
Von geilen Römern, die den Platz durchschweifte,
Hat bei der Dämmrung schamlos eben jetzt –
HERMANN indem er ihn vorführt.
Still, Selmar, still! Die Luft, du weißt, hat Ohren.
– Ein Römerhaufen ?
EGINHARDT. Ha! Was wird das werden?
Sie sprechen heimlich zusammen. Pause.
HERMANN mit Wehmut, halblaut.
Hally ? Was sagst du mir! Die junge Hally ?
DER ZWEITE CHERUSKER.
Hally, Teutholds, des Schmieds der Waffen, Tochter!
– Da liegt sie jetzt, schau her, mein Fürst, 1590
Von ihrem eignen Vater hingeopfert!
EGINHARDT vor der Leiche.
Ihr großen, heiligen und ewgen Götter!
DER ERSTE CHERUSKER.
Was wirst du nun, o Herr, darauf beschließen?
HERMANN zum Volke.
Kommt, ihr Cherusker! Kommt, ihr Wodankinder!
Kommt, sammelt euch um mich und hört mich an!
Das Volk umringt ihn ; er tritt vor Teuthold.
Teuthold, steh auf!
TEUTHOLD am Boden. Laß mich!
HERMANN. Steh auf, sag ich!
TEUTHOLD. Hinwegl Des Todes ist, wer sich mir naht.
HERMANN. – Hebt ihn empor, und sagt ihm, wer ich sei.
DER ZWEITE CHERUSKER. Steh auf, unsel’ger Alter!
DER ERSTE CHERUSKER. Fasse dich!
DER ZWEITE CHERUSKER.
Hermann, dein Rächer ists, der vor dir steht. 1600
Sie heben ihn empor.
TEUTHOLD. Hermann, mein Rächer, sagt ihr ? – Kann er Rom,
Das Drachennest, vom Erdenrund vertilgen ?
HERMANN. Ich kanns und wills! Hör an, was ich dir sage.
TEUTHOLD sieht ihn an.
Was für ein Laut des Himmels traf mein Ohr?
DIE BEIDEN VETTERN.
Du kannsts und willsts ?
TEUTHOLD. Gebeut! Sprich! Red, o Herr!
Was muß geschehn ? Wo muß die Keule fallen ?
HERMANN. Das hör jetzt, und erwidre nichts. –
Brich, Rabenvater, auf, und trage, mit den Vettern,
Die Jungfrau, die geschändete,
In einen Winkel deines Hauses hin! 1610
Wir zählen funfzehn Stämme der Germaner;
In funfzehn Stücke, mit des Schwertes Schärfe,
Teil ihren Leib, und schick mit funfzehn Boten,
Ich will dir funfzehn Pferde dazu geben,
Den funfzehn Stämmen ihn Germaniens zu.
Der wird in Deutschland, dir zur Rache,
Bis auf die toten Elemente werben:
Der Sturmwind wird, die Waldungen durchsausend,
Empörung! rufen, und die See,
1620 Des Landes Ribben schlagend, Freiheit! brüllen.
DAS VOLK. Empörung! Rache! Freiheit!
TEUTHOLD. Auf! Greift an!
Bringt sie ins Haus, zerlegt in Stücken sie!
Sie tragen die Leiche fort.
HERMANN. Komm, Eginhardt! Jetzt hab ich nichts mehr
An diesem Ort zu tun! Germanien lodert:
Laß uns den Varus jetzt, den Stifter dieser Greuel,
Im Teutoburger Walde suchen!
Alle ab.
Akt IV, Neunter Auftritt
… THUSNELDA mit steigender Angst.
Du Unbarmherzger! Ungeheuerster!
– So hätt auch der Centurio, 1709
Der, bei dem Brande in Thuiskon jüngst
Die Heldentat getan, dir kein Gefühl entlockt ?
HERMANN. Nein – Was für ein Centurio ?
THUSNELDA. Nicht ? Nicht ?
Der junge Held, der, mit Gefahr des Lebens,
Das Kind, auf seiner Mutter Ruf,
Dem Tod der Flammen mutig jüngst entrissene –
Er hätte kein Gefühl der Liebe dir entlockte
HERMANN glühend. Er sei verflucht, wemı er mir das getan!
Laß, ich beschwöre dich, laß mich ihm heimlich melden,
Was über Varus du verhängt: 1730
Mag er ins Land der Väter rasch sich retten!
HERMANN. Ventidius? Nun gut. – Ventidius Carboa
Nun denn, es sei! – Weil es mein Thuschen ist,
Die für ihn bittet, mag er fliehn:
Sein Haupt soll meinem Schwert, so wahr ich lebe,
Um dieser schönen Regung heilig sein!
THUSNELDA sie küßt seine Hand.
O Hermann! Ist es wirklich wahr ? O Hermann!
Du schenkst sein Leben mir ?
HERMANN. Du hörst. Ich schenks ihm.
Sobald der Morgen angebrochen,
1740 Steckst du zwei Wort ihm heimlich zu,
Er möchte gleich sich übern Rheinstrom retten;
Du kannst ihm Pferd aus meinen Ställen schicken,
Daß er den Tagesstrahl nicht mehr erschaut.
THUSNELDA. O Liebster mein! Wie rührst du mich! O Liebster!
HERMANN. Doch eher nicht, hörst du, das bitt ich sehr,
Als bis der Morgen angebrochen!
Eh auch mit Mienen nicht verrätst du dich!
Denn alle andern müssen unerbittlich,
Die schändlichen Tyrannenknechte, sterben:
1750 Der Anschlag darf nicht etwa durch ihn scheitern!
Akt V, Dreizehnter Auftritt
… SEPTIMIUS. (2195) So ist es wahr ? Arminius spielte falsch ?
Verriet die Freunde, die ihn schützen wollten?
HERMANN. Verriet euch, ja; was soll ich mit dir streiten ?
Wir sind verknüpft, Marbod und ich,
Und werden, wenn der Morgen tagt,
Den Varus, hier im Walde, überfallen. 2200
SEPTIMIUS. Die Götter werden ihre Söhne schützen!
– Hier ist mein Schwert!
HERMANN indem er das Schwert wieder weggibt.
Führt ihn hinweg,
Und laßt sein Blut, das erste, gleich
Des Vaterlandes dürren Boden trinken!
Zwei Cherusker ergreifen ihn.
SEPTIMIUS. Wie, du Barbar! Mein Blut ? Das wirst du nicht -!
HERMANN. Warum nicht ?
SEPTIMIUS mit Würde. – Weil ich dein Gefangner bin!
An deine Siegerpflicht erinnr‘ ich dich!
HERMANN auf sein Schwert gestützt.
An Pflicht und Recht! Sieh da, so wahr ich lebe!
Er hat das Buch vom Cicero gelesen.
Was müßt ich tun, sag an, nach diesem Werke 2210
SEPTIMIUS. Nach diesem Werke Armsel’ger Spötter, du!
Mein Haupt, das wehrlos vor dir steht,
Soll deiner Rache heilig sein;
Also gebeut dir das Gefühl des Rechts,
In deines Busens Blättern aufgeschrieben!
HERMANN indem er auf ihn einschreitet.
Du weißt was Recht ist, du verfluchter Bube,
Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt,
Um uns zu unterdrücken ?
Nehmt eine Keule doppelten Gewichts,
Und schlagt ihn tot! 2220
SEPTIMUS. Führt mich hinweg! – hier unterlieg ich,
Weil ich mit Helden würdig nicht zu tun!
Der das Geschlecht der königlichen Menschen
Besiegt, in Ost und West, der ward 2223
Von Hunden in Germanien zerrissen:
Das wird die Inschrift meines Grabmals sein!
Er geht ab; Wache folgt ihm.
DAS HEER in der Ferne. Hurrah! Hurrah! Der Nornentag bricht an!“
Erschöpft, aber glücklich sinkt Edda in den Stuhl zurück. – Ich nehme ihr das Reclam-Heft aus der Hand und lege es auf das Pult zurück: „Bewunderswert, wie du an einem Wochenende nur diesen sperrigen Text auseinander reißen konntest ! Hermann steht so nackt vor mir wie die Think Tanks der Gegenwart. Aber eine Frage bleibt : ob Josias Löffler wohl vor zweihundert Jahren diese Zusammenhänge verstanden hat?“ – „Warum hat er dann, liebe Edda, unser braver Theologe und gelegentlich auch Feldprediger, diese Zeugnisse von Lug und Trug der Herrscher in einer Zeit der europäischen Kriege aufbewahrt ? Gibt es denn in dem Briefwechsel Kleists mit dem Wiener Heinrich von Collin Anzeichen und Gründe dafür?“
„Gut Chef, dann zum zweiten Teil meiner Ergebnisse der Weekend-Studien: mit Collin war Kleist mindestens seit dem Jahre 1804 in Kontakt. Aber die Leidenschaft für das Hermann-Varus-Thema können wir bei Kleist bis auf die Jahre 1801/1802 zurückverfolgen, ohne dass wir dafür theatergeschichtliche schriftliche Belege finden: Klopstock, Arndt, Karl Heinz Venturini, Johannes von Müller … Ich fand aber im Briefwechsel mit Adolfine von Werdeck, der späteren Frau von dem Knesebeck, einen interessanten Bezug zum Teutoburger Wald – schon aus dem Jahre 1801: „An Adolfine von Werdeck [Paris und Frankfurt am Main, November 1801] – Also an dem Arminiusberge standen Sie, an jener Wiege der deutschen Freiheit, die nun ihr Grab gefunden hat? Ach, wie ungleich sind zwei Augenblicke, die ein Jahrtausend trennt! Ordentlich ist heute die Welt; sagen Sie mir, ist sie noch schön ? Die armen lechzenden Herzen! Schönes und Großes möchten sie tun, aber niemand bedarf ihrer, alles geschieht jetzt ohne ihr Zutun. Denn seitdem man die Ordnung erfunden hat, sind alle großen Tugenden unnötig geworden. Wenn uns ein Armer um eine Gabe anspricht, so befiehlt uns ein Polizeiedikt, daß wir ihn in ein Arbeitshaus abliefern sollen. Wenn ein Ungeduldiger den Greis, der an dem Fenster eines brennenden Hauses um Hilfe schreit, retten will, so weiset ihn die Wache, die am Eingange steht, zurück, und bedeutet ihn, daß die gehörigen Verfügungen bereits getroffen sind. Wenn ein Jüngling gegen den Feind, der sein Vaterland bedroht, mutig zu denWaffen greifen will, so belehrt man ihn, daß der König ein Heer besolde, welches für Geld den Staat beschützt. – Wohl dem Arminius, daß er einen großen Augenblick fand. Denn was bliebe ihm heutzutage übrig, als etwa Lieutenant zu werden in einem preußischen Regiment ?.“ Edda scheint gerührt. Ich wende mich wieder dem Tableau und der ihrer Erklärung zu – „Die Briefe Kleists an Collin habe ich in Richtung Südosten postiert – dort, wo Wien liegt. Gehen wir davon aus, dass sich Kleist sporadisch ab 1801, dann systematisch ab 1808 mit dem Thema beschäftigt, kommen folgende Briefe in Betracht: Dresden 14. Februar 1808, Dresden, 2. Oktober 1808, Dresden, 8. Dezember 1808, Dresden, 1. Januar 1809, Dresden. 22. Februar 1809, Dresden, 20. und 23. April 1809. Hier nun chronologisch die Belegstellen – beginnen wir mit dem Februar 1808, als sich Kleist nach seiner Rückkehr aus der französischen Gefangenschaft nun in Dresden aufhält und weitgefaßte Pläne schmiedet:
An Heinrich Joseph von Collin
EW. Wohlgeboren
uns, mit so vieler Herzlichkeit gegebene, Versicherung, unser Kunstjournal, einer eignen Unternehmung gleich, zu unterstützen, hat mir sowohl, als H. Adam Müller, die größte Freude gemacht. Es geschieht, Ihnen einen Beweis zu geben, wie sehr wir jetzt auf Sie rechnen, daß wir unser Gesuch, uns mit einem Beitrag zu beschenken, gleich nach Empfang Ihres Schreibens noch einmal wiederholen. Es könnte uns, bei dem Ziel, das wir uns gesteckt haben, keine Verbindung lieber sein, als mit Ihnen, und so wenig es uns an Manuskripten fehlt: es liegt uns daran, daß Ihr Name bald im Phöbus erscheine. Da das Institut vorzüglich auch dazu bestimmt ist, von großen dramatischen Arbeiten, die unter der Feder sind, Proben zu geben, so würden uns Szenen aus Werken, die unter der Ihrigen sind, ganz vorzüglich willkommen sein. Doch auch für alles andere, was Sie uns geben wollen, werden wir dankbar sein; schicken Sie es nur gradezu an die hiesige Kaisl. Königl. Gesandtschaft, welche alle unsere wechselseitige Mitteilungen zu besorgen die Güte haben wird. Ich bin, außer der Penthesilea, von welcher ein Fragment im ersten Hefte steht, im Besitz noch zweier Tragödien, von deren einen Sie eine Probe im dritten oder vierten Heft sehen werden. Diese Bestrebungen, ernsthaft gemeint, müssen dem Phöbus seinen Charakter geben, und auf der Welt ist niemand, der in diese Idee eingreifen kann, als Sie. Das erste Werk, womit ich wieder auftreten werde, ist Robert Guiskard, Herzog der Normänner. Der Stoff ist, mit den Leuten zu reden, noch ungeheurer; doch in der Kunst kommt es überall auf die Form an, und alles, was eine Gestalt hat, ist meine Sache. Außerdem habe ich noch ein Lustspiel liegen, wovon ich Ihnen eine, zum Behuf einer hiesigen Privatvorstellung (aus der nichts ward) genommene Abschrift schicke. H. v. Goethe läßt es in Weimar einstudieren. Ob es für das Wiener Publikum sein wird? weiß ich nicht; wenn der Erfolg nicht gewiß ist (wahrscheinlich, wir verstehen uns) so erbitte ich es mir lieber wieder zurück. Es ist durch den Baron v. Buol K. Chargé d’Affaires) der es sehr in Affektion genommen hatte, mehreremal dem H. Grafen v. Palfy empfohlen worden (nicht zugeschickt), – aber niemals darauf eine entscheidende Antwort erfolgt. – Von der Penthesilea, die im Druck ist, sollen Sie ein Exemplar haben, sobald sie fertig sein wird. – Sagen Sie mir, ums Himmelswillen, ist denn das I. Phöbusheft bei Ihnen noch nicht erschienene und wenn nicht, warum nicht? Wir sind sehr betreten darüber, von dem Industriecomptoir in Wien, dem wir es in Kommission gegeben haben, gar nichts, diesen Gegenstand betreffend, erfahren zu haben. Würden Sie wohl einmal gelegentlich die Gefälligkeit haben, sich danach zu erkundigen? Das zweite Heft ist fertig; und noch nicht einmal die Ankündigung ist in Wien erschienen! –
Ich hätte noch dies und das andere, das ich Ihnen schreiben, und worum ich Sie bitten möchte, doch man muß seine Freunde nicht zu sehr quälen, leben Sie also wohl, und überzeugen Sie sich von der Liebe und Verehrung dessen, der sich nennt
Dresden, den 14. Feb. 1808 Ihr H. v. Kleist. Pirnsche Vorstadt, Nr. 123
An Heinrich Joseph von Collin
EW. Hochwohlgeboren
habe ich die Ehre, hiermit die Penthesilea, als ein Zeichen meiner innigsten und herzlichsten Verehrung, zu überschicken, und damit ein Versprechen zu lösen, das ich Denenselben zu Anfange des laufenden Jahres gegeben habe.
Herr Hofrat Müller sowohl, als ich, wiederholen die Bitte uns, wenn die öffentlichen Verhältnisse ruhig bleiben sollten, gefälligst mit einem Beitrag für den Phöbus zu versehen.
Das Käthchen von Heilbronn, das ich für die Bühne bearbeitet habe, lege ich Ew. Hochwohlgeb. hiermit ergebenst, zur Durchsicht und Prüfung, ob es zu diesem Zweck tauglich sei, bei.
Indem ich noch bitte, mir, wenn es Ihren Beifall haben, und die Bühne es an sich zu bringen wünschen sollte, diesen Umstand gefälligst bald anzuzeigen, damit mit dem Druck, in Tübingen bei Cotta, der das Werk in Verlag nimmt, nicht vorgegangen werde, habe ich die Ehre mit der vorzüglichsten Hochachtung zu sein,
EW. Hochwohlgeboren ergebenster
Dresden, den 2. Okt. 1808 Heinrich v. Kleist. Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123
An Herrn Heinrich von Collin Hochwohlgeboren zu Wien.
Teuerster Herr von Collin,
Das Käthchen von Heilbronn, das, wie ich selbst einsehe, notwendig verkürzt werden muß, konnte unter keine Hände fallen, denen ich dies Geschäft lieber anvertraute, als den Ihrigen. Verfahren Sie ganz damit, wie es der Zweck Ihrer Bühne erheischt.
Auch die Berliner Bühne, die es aufführt, verkürzt es; und ich selbst werde vielleicht noch, für andere Bühnen, ein Gleiches damit vornehmen. – Wie gern hätte ich das Wort von Ihnen gehört, das Ihnen, die Penthesilea betreffend, auf der Zunge zu schweben schien! Wäre es auch gleich ein Wenig streng gewesen!
Denn wer das Käthchen liebt, dem kann die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein, sie gehören ja wie das + und – der Algebra zusammen, und sind ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht. – Sagen Sie mir dreist, wenn Sie Zeit und Lust haben, was Sie darüber denken; gewiß! es kann mir nicht anders, als lehrreich und angenehm sein. – Hier erfolgt zugleich die Quittung an die K. K. Theaterkasse. Ich schicke sieIhnen, teuerster Herr von Collin, weil es mir an Bekanntschaften in Wien fehlt, und die Güte, die Sie für mich zeigen, mich zu dieser Freiheit aufmuntert. Besorgen Sie gefälligst die Einziehung des Honorars, umd senden Sie es mir, da es Papiere sind, nur mit der Post zu, wenn sich keine andre sichre und prompte Gelegenheit findet. – Schlagen Sie es doch in ein Kuvert ein, an den Baron v. Buol, hiesigen K. K. Chargé d’affaire, so ersparen wir das Postgeld. – Ich verharre mit der innigsten Hochachtung, Herr von Collin,
Ihr ergebenster
Dresden, den 8. Dezmbr. 1808 Heinrich von Kleist.
Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123
An Heinrich Joseph von Collin
An den H. von Collin Hochwohlgeb. zu Wien.
Verehrungswürdigster Herr von Collin,
Sie erhalten, in der Anlage, ein neues Drama, betitelt: die Hermannsschlacht, von dem ich wünsche, daß es Ihnen gleichfalls, wie das Käthchen von Heilbronn, ein wenig gefallen möge.
Schlagen Sie es gefälligst der K. K. Theaterdirektion zur Aufführung vor. Wenn dieselbe es annehmen sollte, so wünsche ichfast (falls dies nochmöglich wäre) daß es früher auf die Bühnekäme, als das Käthchen; es ist um nichts besser, und doch scheint es mir seines Erfolges sichrer zu sein.
Ich hoffe, daß Sie den, das Käthchen betreffenden, Brief, in welchem auch die Quittung enthalten war, durch Hr. v. Gentz, der ihn, von Prag aus, dem Hr. Pr[inzen] von Rohan nach Wien
mitgegeben hat, empfangen haben werden.
ln Erwartung einer gütigen Antwort verharre ich mit der in-
nigsten und lebhaftesten Hochachtung,
Herr von Collin Ihr ergebenster
Dresden, den I. Januar 1809 Heinrich v. Kleist.
Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123
An Heinrich Joseph von Collin
An Herrn Heinrich von Collin, Hochwohlgeboren zu Wien, fr.
EW. Hochwohlgeboren
habe ich, zu Anfang Dezembrs. v. Jahres, durch eine Gelegenheit, die Quittung über die bewußten 300 Guld. Banknoten, für das Manuskript: das Käthchen von Heilbronn und bald darauf die Abschrift eines zweiten Dramas: die Hermannsschlacht, durch eine andere Gelegenheit, ergebenst zugesandt. Da ich nicht das Glückgehabt habe, seitdem mit einer Zuschrift EW. Hochwohlgeb. beehrt zu werden, so bitte ich Dieselben inständigst, mir, wenn es sein kann, mit nächster Post, gefälligst anzuzeigen, ob diese beiden Adressen richtig in Ihre Hände gekommen sind ? Es würde mir, besonders um dieser letzten willen, leid tun, wenn die Überlieferung derselben, durch irgend ein Versehn, vernachlässigt worden wäre, indem dies Stück mehr, als irgend ein anderes, für den Augenblick berechnet war, und ich fast wünschen muß, es ganz und gar wieder zurückzunelhmen, wenn die Verhältnisse, wie leicht möglich ist, nicht gestatten sollten, es im Laufe dieser Zeit aufzuführen.
Ich habe die Ehre, mit der vorzüglichsten Hochachtung zu sein,
EW. Hochwohlgeb. ergebenster
Dresden, den 22. Feb. 1809 Heinrich V. Kleist.
Rammsche Gasse, Pirnsche Vorst. Nr. 12.3
An Heinrich Joseph von Collin
Teuerster Herr von Collin,
Die 300 fl. Banknoten sind in Berlin angekommen. Ich habe sie zwar noch nicht erhalten; doch kann ich Ihnen die Quittung darüber, nebst meinem ergebensten Dank, zustellen.
Ihre mutigen Lieder östr. Wehrmänner haben wir auch hier gelesen. Meine Freude darüber, Ihren Namen auf dem Titel zu sehen (der Verleger hat es nicht gewagt, sich zu nennen), war unbeschreiblich. Ich auch finde, man muß sich mit seinem ganzen Gewicht, so schwer oder leicht es sein mag, in die Waage der Zeit werfen; Sie werden inliegend mein Scherflein dazu finden. Geben Sie die Gedichte, wenn sie Ihnen gefallen, Degen oder wem Sie Wollen, in öffentliche Blätter zu rücken, oder auch einzeln (nur nicht zusammenhängend, weil ich eine größere Sammlung herausgeben will) zu drucken; ich wollte, ich hätte eine Stimme von Erz, und könnte sie, vom Harz herab, den Deutschen absingen.
Vorderhand sind wir der Franzosen hier los. Auf die erste Nachricht der Siege, die die Österreicher erfochten, hat Bernadotte sogleich, mit der sächsischen Armee, Dresden verlassen, mit einer Eilfertigkeit, als ob der Feind auf seiner Ferse wäre.
Man hat Kanonen und Munitionswagen zertrümmert, die man nicht fortschaffen konnte. Der Marsch, den das Korps genommen hat, geht auf Altenburg, um sich mit Davoust zu verbinden; doch wenn die Österreicher einige Fortschritte machen, so ist es abgeschnitten. Der König und die Königin haben laut geweint, da sie in den Wagen stiegen. Überhaupt spricht man sehr zweideutig von dieser Abreise. Es sollen die heftigsten Auftritte zwischen dem König und Bernadotte vorgefallen sein, und der König nur, auf die ungeheuersten Drohungen, Dresden verlassen haben.
Jetzt ist alles darauf gespannt, was geschehen wird, wenn die Armee über die Grenze rücken soll. Der König soll entschlossen sein, dies nicht zu tun; und der Geist der Truppen ist in der Tat so, daß es kaum möglich ist. Ob er alsdann, den Franzosen so nahe, noch frei sein wird? – ist eine andere Frage. – Vielleicht erhalten wir einen Pendant zur Geschichte von Spanien. – Wenn nur die Österreicher erst hier wären!
Doch, wie stehts, mein teuerster Freund, mit der Hermannsschlacht? Sie können leicht denken, wie sehr mir die Aufführung dieses Stücks, das einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet war, am Herzen liegt. Schreiben Sie mir bald: es wird gegeben; jede Bedingung ist mir gleichgültig, ich schenke es den Deutschen; machen Sie nur, daß es gegeben wird.
Mit herzlicher Liebe und Hochachtung,
Ihr
Dresden, den 20. April 1809 Heinrich v. Kleist.
Willsche Gasse, Löwenapotheke
N. S. Das sächsische Korps ist auf Wägen plötzlich nach Plauen und von da, wie es heißt, nach Zwickau aufgebrochen. Was dies bedeuten soll, begreift niemand. – Im Preußischen ist, mit der größten Schnelligkeit, alles auf den Kriegsfuß gesetzt worden. den 23. [April 1809]
Chef, ich brauche Tee oder Kaffee – Edda erlöst mich aus dem ungewohnten Status des passiven Zuschauers ihrer Performance.
Nach einer sehr, sehr langen Pause des Nachdenkens fasse ich die bemerkenswerten Ergebnisse der Edda-Wochenend-Recherchen zusammen – kurz und druckreif:
Verstehe ich recht – Grundidee, Konzept und erste Passagen der „Hermannsschlacht“ entwickelte Kleist im Winter 1809/1810 auf der Reise von Dresden nach Wien und tauschte vorläufige Gedanken darüber mit Josias Löffler bei seinem Aufenthalt in Gotha im Januar 1810 aus. Mit Wien verband Kleist die Hoffnung auf den baldigen Ausbruch eines siegreichen Volkskrieges gegen das napoleonische Frankreich, zu dessen „patriotischer“ Vorbereitung er seinen Beitrag leisten wollte. Der Wiener Dichter Heinrich Joseph Collin, dem er in einem Brief aus Gotha das Bühnen-Schicksal des Stückes, das er ihm vor Monaten zugeschickt hatte, nochmals ans Herz legte, ist ihm seit Jahren als Autor auch von den Berliner Theatern bekannt. Die Dringlichkeit seines Anliegens begründet Kleist in mehreren folgenden Briefen mit der politischen Lage, mit der Notwendigkeit, die deutsche Nation unter Führung Österreichs und Preußens moralisch und gefühlsmäßig für den bevorstehenden Krieg gegen Napoleon aufzurüsten. Inwieweit der Theologe Josias Löffler die fanatische, militante Haltung des Dichters Heinrich von Kleist teilte, wird aus den Notizen nicht ersichtlich; aber dass er jene Passagen aus dem Stück, die voller chauvinistischem Hass, propagandistischem bellizistischem Trommelfeuer, voller taktischer Anweisungen zu „kriegsbedingten“ Lügen, Fälschungen, Kriegsverbrechen, Desinformationen stecken, nicht billigen kann, sollten wir annehmen. Es waren insbesondere die folgenden Szenen, die wir gemeinsam erlebt haben – leider gibt es keine Quellen, die uns sagen, ob, wann und wie Löffler und sein „Zögling“ Kleist sich darüber ausgetauscht haben.
Vorstellen können wir uns aber, wie in jene Periode der Rückkehr des Theologen Löffler ins ruhigere Berliner Leben, der Monate und Jahre des brieflichen Austauschs mit den Freunden in Neuruppin und Breslau der Wunsch nach einer gesicherten Stellung an einer guten Schule oder gar Universität von ihm Besitz ergreift.
Vorstellen können wir uns auch, wie Josias die Fühler ausstreckt – Frankfurt an der Oder? Göttingen ? Hamburg ?
Dieter Weigert, Berlin Prenzlauer Berg 7. August 2023
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Es ist früher dunkler Wintermorgen, meine mir zugeteilte zeitweilige Mitarbeiterin Edda hat sich den Vormittag für private Angelegenheiten (wie sie meint „Grippe-Prophylaktisch“) frei genommen. So kann ich ungestört in der Geschichte, in den Lebensläufen des Leutnants und Dichters Heinrich von Kleist (aus dem märkischen Frankfurt an der Oder, gestorben bei Berlin) und des Theologen und Generalsuperintendenten Josia Löffler (aus dem thüringischen Saalfeld, gestorben im Herzogtum Gotha) promenieren.
Thema des Tages: Wie kam Josias Löffler 1778 in die Position des Feldpredigers der königl.preuß. Armee am Vorabend des Krieges gegen Österreich?
Ich nehme die Frage nach den Reitkünsten unseres Theologen Josias aus der letzten Folge auf, erfreue mich an Menzels Zeichnungen zur Biographie des großen Friedrich und setze die Suche nach der Antwort im handschriftlichen Lebenslauf des Josias Löffler – Blatt 5 – fort. Die letzten Zeilen: „Hierauf kehrte er mit dem Regiment 1779 nach Berlin zurück. Hier widmete er sich, bey einem sehr leichten und geschäftsfreyen Amte, bey dem er oft bedauerte, daß es ihm nicht mehr bestimmte Arbeiten auflegte (weil es einem jungen Manne, zumal in der Hauptstadt, zu schwer sey, ohne äußerliche Veranlassungen und Nöthigungen, sich selbst auf eine befriedigende Art zu beschäftigen) theils dem Unterricht junger Leute in der alten Litteratur, theils der Aufholung dessen, was er während des Jahres, in welchem er von der Litteratur ganz getrennt war, versäumt hatte . . .“ Nichts über das Reiten, weder im ersten Teil noch in den hier zitierten Nachtrag, aber wir können voraussetzen, dass dieser Unterricht wie das Fechten zur Ausbildung an den damaligen Universitäten gehörte – vielleicht auch gegen gutes Geld beim Privatlehrer!
Dienst- und Luxuszelt des preußischen Königs auf seinen Feldzügen
Neben dem Reiten und Fechten wird auch das Campieren im Zelt – auf spartanisch militärische Art – auf dem Programm zur Vorbereitung des künftigen Feldpredigers gestanden haben. Ganz sicher wird die Marschausrüstung eines lutherischen Feldpredigers der Preußisch-Königlichen Armee bescheidener als die der Majestät gewesen sein – geschleppt, in Train-Wagen oder Schlitten verpackt durch den Diener, den „Burschen“.
Aber zurück zum Thema des Tages ! Wie verlief nun jener Prozeß der „Einberufung“ des Theoretikers und Privatlehrers Josias Löffler zum Berliner Kürassier-Regiment der Gens d’armes?
Vor Weihnachten hatte ich mir vorgenommen, das Bündel der Nachlaß-Papiere des Josias Löffler nochmals nach jenem Tagebuch durchzublättern, auf das sich Vermutungen verschiedene Artikelschreiber der letzten Jahrzehnte bezogen hatten – ein Tagebuch über seinen Einsatz in einem preußischen Kavallerie-Regiment als Feldprediger. Vor allem jene Passagen interessierten mich, die sich auf Schlesien bezogen und auf die Sekte der Herrnhuter. Die Vermutungen jener Autoren waren so weit gegangen, die den Kirchenhistorikern bekannten Orte Gnadenberg und Gnadenfeld zu erwähnen mit dem Hinweis auf mögliche Besuche Löfflers in diesen Orten während des Feldzuges 1778/79.
Ich hatte zwar bisher neben einigen Skizzen zu Militärfragen und privaten Notizen zu Kriegen in Deutschland seit dem seligen Cherusker-Arminius auch ein Tagebuch aus dieser jüngsten Periode aus der Zeit des großen Friedrich im Konvolut gefunden – die Schrift manchmal kaum leserlich – aber es handelte von einer Reise zu Fuß, zu Pferd und in der Kutsche nach Frankfurt an der Oder und nach Krossen jenseits der Oder, da hatte ich aufgehört mit dem Lesen, das war nicht das, was ich suchte. Und chronologisch passte dazu besser ein auf Vorder- und Rückseite eng beschriebenes Blatt, datiert vom 15. August 1778, das ich für eine spätere Untersuchung ans Ende des Tagebuchs einordnete, das in Klammern die provisorische Überschrift „Der Prinz“ trug.
Heute morgen aber, als ich jenes Tagebuch nochmals in die Hand nahm, wird mir klar, welchem Irrtum ich aufgesessen war. Ich schlage das Blatt mit der Beschreibung der Stadt Krossen auf, versuche mich wieder einzulesen in jene Krakel, die ein privates Tagebuch im Unterschied zu einem offiziellen Dokument mit seinem säuberlich ausgemalten Buchstaben der Kanzleikopisten aufweist. Heute auch kann ich nun endlich jenen Verweis auf den schlimmen Stadtbrand von Krossen 1708 dechiffrieren, der mir damals entgangen war. Ich kannte den Zusammenhang zwischen dem Brand, den am Hofe in Berlin verprassten Versicherungsgeldern und dem nach der Aufdeckung des Skandals erfolgten Sturz 1710 von zwei Ministern des Königs und sogar des Premierministers aus einer studentischen Studie über den Grafen von Hacke und seine Verwandtschaft zu Herrn von Creutz, aber das gehört nicht hierher. Auch die Affären der königlichen Mätresse Katharina muss ich leider heute aussparen – aber eine zeitgenössische Schlüter-Zeichnung sind mir doch meine Leser wert:
Creutz, der im Auftrag des Kronprinzen Friedrich Wilhelm 1710 als Geheimsekretär an der Aufdeckung der Korruption und am Sturz der Clique um jene Katharina aktiv beteiligt war, war Absolvent der Viadrina. Vielleicht findet sich in den Arbeiten zur Viadrina ein Beleg über diesen Geheimsekretär und späteren Chef des Generaldirektoriums unter Friedrich Wilhelm I.
Ich trommele vor Freude mit den Stiefelabsätzen auf den Boden – da sind sie, die Zeilen, über die ich damals beim Lesen nicht weitergekommen war, jener Satz, der die Abreise aus Krossen beschreibt in Richtung Süden, in Richtung Schlesien. Das hatte ich damals überlesen. Nun wird mir klar: Löffler war auf dem Wege zum Regiment, zum Kriegseinsatz für seinen König. Seine Order sagte vermutlich nichts über den Weg, auf dem er sich zum Regiment zu begeben hatte. Er hatte Zeit, er konnte sich ausgiebig auf der Reise informieren über die Orte, die am Wege lagen: Frankfurt an der Oder, Krossen an der Warthe, die Grenze der Neumark zu Schlesien.
Ich beginne heute das Tagebuch ganz anders zu lesen. Es ist eine Sammlung von Notizen eines Menschen, dessen Ambitionen im Geistigen, in der Theorie, in der Reflektion, dessen Träume im Pädagogischen lagen und nicht im Militärischen; ihn interessierten die Personen der Pfarrer in den Dörfern und Kleinstädten am Wege, die Kirchen und ihre Bibliotheken, die Buchhandlungen. Jetzt ist mir auch klar, weshalb er solche Mühe hatte, in Frankfurt ein Quartier zu finden – sein Regiment lag nicht mehr in Frankfurt, sondern war schon weitermarschiert. Andere Regimenter des Heeres unter dem Kommando eines königlichen Prinzen hatte der Generalstab (damals Generalquartiermeisterstab genannt) in Frankfurt mehrere Nächte untergebracht und sie hatten alle verfügbaren Quartiere belegt. Löffler war spontan ohne Order in diese Stadt gekommen, die später so bedeutsam für seinen Lebenslauf werden sollte und er war froh, außerhalb der Stadt auf dem flachen Lande, wie er formulierte, bei einem Dorfpfarrer unterzukommen. Mir ist inzwischen auch klar, dass ich das Tagebuch nicht als Chronologie, als Abriss eines Militärhistorikers zu verstehen habe, sondern eines genauen Beobachters geistiger Prozesse, der Gefühle und Stmmungen der Menschen, dem die Chancen, die ihm der königlich-preußische Feldprediger-Posten bot, sehr entgegen kamen zur Vervollkommnung seiner theologischen und historischen Studien . . .
Und wieder einmal muss ich mich bei meinen treuen Lesern dafür entschuldigen, dass ich vom Thema abgewichen bin – denn was ich im „Kriegstagebuch“ nicht finde, sind Hinweise Löfflers darauf, wie er 1778 in diese militärische Position des Feldpredigers berufen wurde. Aus anderen Quellen ergeben sich aber detaillierte Belege: dass ein abgeschlossenes Theologiestudium (einschließlich der Fertigkeiten im Reiten !) an der Friedrichs Universität Halle/Saale überhaupt erst die Voraussetzung für eine Feldpredigerstelle im preußischen Heer bildet, ist mir natürlich bekannt, aber nicht jeder Hallesche Absolvent bekommt eine solche Chance, in einem Elite-Regiment zu dienen. Da mussten mehrere Glückssträhnen sich kreuzen.
Jene Verknüpfung von Zufälligkeiten, die mit dem Namen Joachim Bernhard von Prittwitz, des Herrn von Quilitz im Oderland, verbunden ist, war schon in der letzten Folge Gegenstand meiner Beschreibung. Knüpfen wir also an diese Genesis des Frühjahres 1778 an: Unter den sich im Nachhinein als sehr förderlich herausstellenden Bekanntschaften des jungen Predigers Löffler in der preußischen Festungs- und Residenzstadt Berlin ist die mit dem königlichen Kavalleriegeneral Joachim Bernhard von Prittwitz (1726-1793), dessen Sohn er Privatunterricht in Latein und Geschichte gibt, für das Jahr 1778 die entscheidende. Das ist wieder ein Glücksfall in seiner Biographie, denn im Frühjahr 1778 – Löffler ist erst wenige Monate in Berlin ansässig – ist Prittwitz in einiger Verlegenheit und findet als Ausweg aus seiner Lage nach ausgiebigen Gesprächen mit seinen Freunden im lutherischen Oberkonsistorialrat den jungen Theologen und Hauslehrer Löffler. Was war geschehen?
General von Prittwitz
König Friedrich II. hatte den Entschluss zu einem neuen Krieg gegen Österreich gefasst und wollte – obwohl schon im reifen Alter von 66 Jahren – selbst an der Spitze seiner Armee reiten.
Dass er die Jahre, die er im Sattel verbracht hatte, wohl fühlte, können wir einem Brief entnehmen, den er schon 1759 seinem Freunde d’Argens schrieb: „Meine Maschine fängt an, aus dem Gange zu kommen, mein Körper ist abgenutzt, mein Geist erlischt und mein Kräfte verlassen mich …“
Deungeachtet inspiziert Majestät wie vor jedem Ausritt in den Krieg die Regimenter in Potsdam, am Ufer der Havel hinter dem Stadtschloss. Die visuellen Charakteristika des 10. Kürassier-Regiments, der in Berlin stationierten Gens d’armes, die Josias Löffler sich nun einprägt – sie werden für eine unbestimmte Zeit zu seiner „Heimat“:
Der Ruf des Königs hieß für die Garderegimenter zu Fuß und zu Pferde ebenfalls die Mobilmachung, also auch für Prittwitz und seine in der Stadtmitte Berlins kasernierten Kürassiere – die Gens d’armes. Wenn der König ins Feld ritt, mussten seine Elitetruppen mit ihm marschieren und reiten. Für General von Prittwitz Grund zur Freude, konnte er doch auf Ruhm, neue Orden und Ehre hoffen. Jedoch die Verlegenheit tritt ihm am nächsten Tag in Gestalt seines alten Weggefährten, des lutherischen Feldpredigers Lachmann entgegen – der war Jahrzehnte an der Seite seines Königs durch alle Kriege gezogen, fühlte sich aber nun als Fehlbesetzung – auf ihn warteten nicht Ruhm und Ehre, sondern Mühsal, Beschwernisse und Kriegsleid – in seinem Alter! Im Unterschied zum König kann Lachmann jedoch den Abschied einreichen und auf Verständnis der Majestät hoffen. Friedrich hat ein Einsehen und setzt damit den General von Prittwitz in äußerste Verlegenheit – woher so schnell einen Ersatz für eine solche Vertrauensstellung finden?
In den Archiven der Berliner Kirchenverwaltungen findet sich der relevante Briefwechsel, chronologisch beginnend mit dem 29. März 1778, mit einem Schreiben des Genrals von Prittwitz an den Oberkonsistorialrat Spalding. Ich hatte mir die handschriftlichen Texte schicken lassen: Prittwitz ist in Verlegenheit – er erklärt seine Bedrängnis mit dem Versprechen, dass er dem Berliner Prediger und Lehrer Johann Daniel Chemlin (1739-1821), späterer Oberpfarrer und Superintendent, gegeben hatte, bei einer sich bietenden Vakanz ihm die Stelle des Feldpredigers in seinem Kürassierregiment zu geben. Der General erreicht in vertraulichen Gesprächen mit Löffler und Chemlin, dass bei einer Versetzung Löfflers in das Regiment Gens d’armes der Prediger Chemlin die Nachfolge Löfflers als Pfarrer an der Hausvogtei und Charité antritt. Der Briefwechsel von Prittwitz mit Spalding und von Spalding mit seinen Kollegen im Oberkonsistorium sichert diese Personalverschiebungen auf der Ebene der Berliner Kirchenleitung ab, nachdem Spalding in seinen Schreiben an die Kollegen versichert, dass er bei dem Kandidaten Chemlin „die erforderliche theologische Geschicklichkeit voraussetze“.
General v. Prittwitz an Spalding, Vorderseite
Rückseite
Auch Ulrich geht in seinen publizierten Briefen „Ueber den Religionszustand in den preußischen Staaten seit der Regierung Friedrichs des Grossen“ … auf diese Situation des Jahres 1778 detailliert ein. (Ueber den Religionszustand in den preußischen Staaten seit der Regierung Friedrichs des Grossen. In einer Reihe von Briefen, Fünfter Band, Leipzig 1780, S. 476f. Vgl auch die kurze Erwähnung – ohne die Nennung des Namens von Chemlin – bei Löffler, Kleine Schriften, Erster Band, S.XI sowie die etwas ausführlichere Darstellung im handschriftlichen Manuskript seiner Lebensbeschreibung– mit Nennung Chemlins.)
Mit Majestäts Billigung verändert sich somit das Leben des Josias F. C. Löffler im Alter von 26 Jahren radikal, so unerwartet wie unerwünscht – er „tritt in eine neue Lebensart ein“, wie er es im Nachhinein auf den Begriff bringt. Aus Briefen Löfflers an seine Freunde in Neuruppin kenne ich die weiteren Abläufe: man schreibt den März 1778 – der Berliner Oberkonsistorialrat Spalding besucht den Prediger Löffler an dessen Arbeitsplatz – der Charité. Er inspiziert das kleine Zimmer im dritten Stock des Krankenhauses hinter dem Spandauer Tor – karg eingerichtet, Bücher wohin man blickt, das schmale zusammenklappbare Feldbett eines Militärchirurgen, ein Stehpult mit Schreibzeug und rotem Siegelwachs, überall heruntergebrannte Kerzen, das Zeichen für harte nächtliche Arbeitsstunden. Spalding war der unmittelbare Dienstvorgesetzte Löfflers und er hatte eine Frage, auf die man nicht mit NEIN antworten konnte, wenn man in Preußen Karriere machen wollte: war Löffler bereit, auf eine gewisse Zeit in einem Regiment des Königs als Feldprediger zu dienen. Das war überraschend, noch mehr aber staunte Löffler, als ihm Spalding den Namen des Regiments nannte – die königlichen Gardekürassiere Gensd’armes, die Elite, in Berlin stationiert unter dem Kommando des Generals von Prittwitz. Löffler verstand sofort – das war kein willkürlicher Befehl, sondern eine wohlbegründete und wohldurchdachte Entscheidung, die ihm Spalding ausführlich erläuterte. Und Löffler erkannte auch, dass diese Weisung von ganz oben abgenickt war, dass damit ein NEIN ein Affront gegen die Majestät höchstpersönlich wäre – mit allen denkbaren Konsequenzen im Militärstaat Preußen. Spalding erläuterte: Krieg steht ins Haus, Krieg gegen Österreich! Er wisse es von ganz oben! Das Regiment war seit dem Ende des 17. Jahrhunderts inmitten der Friedrichstadt stationiert – mit Stallungen, Quartieren für die Soldaten und Pferdeknechte.
Die Berliner verwendeten für den Platz nicht den offiziellen Namen „Friedrichstädtischer Markt“, sondern vermutlich wegen des markanten Geruchs der Pferdeställe die Ortsbezeichnung „Gensd’armen-Markt“, fand dort ja auch regelmäßig ein Wochenmarkt statt. Als Löffler seinen Dienst als lutherischer Feldprediger im Regiment antritt, sind Umzugsaktivitäten von Personal und Pferden in vollem Gange, fast abgeschlossen. Wegen Baufälligkeit waren die Einrichtungen in der Friedrichstadt aufgegeben worden und ein neuer Standort am südlichen Spreeufer in der Nähe der Schiffswerften am „Weidendamm“ oder „Schiffbauerdamm“ angewiesen worden. Der Auszug des Regiments in den Bayerischen Erbfolgekrieg startet am 10. April 1778 zu ihren Sammelpunkten in Schlesien von diesen neuen Stallungen – Erdgeschoss für die Pferde, Obergeschoss für Mannschaften und Futter. Die verlassenen und verfallenen Gebäude in der Friedrichstadt werden meistbietend versteigert und angebrochen, wie die Spenersche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 11. Juli 1778 meldet.
In dieser Periode hat das Regiment eine Stärke von etwa 1150 Mann, dazu kommen nochmals etwa 700 Personen „Anhang“. Das ist Löfflers „Gemeinde“, seine neue „Heimat“. Eine Rangliste vom Januar 1779 verzeichnet 39 Personen darunter als Offiziere: 1 Generalmajor als Kommandeur (v. Prittwitz), 5 Majore, 4 Rittmeister, 5 Stabsrittmeister, 11 Leutnants, 13 Kornetts und Fahnenjunker.
Regimentskommandeur Generalmajor v. Prittwitz erhielt mit Kriegsbeginn den Oberbefehl über eine Brigade der I. Armeegruppe, die unmittelbar dem König unterstellt war und zu der neben den Gensd’armes drei Schwadronen Garde-du-corps und das Regiment der Pannewitz-Kürassiere gehörten.
Beim Auszug des Regiments zu den Sammelpunkten in Schlesien, reiten die Offiziere an der Spitze ihrer Einheiten, aber Feldprediger Löffler ist nicht Teil der geschlossenen Formation, er war unabhängig vom königlichen Heer „in Gesellschaft einiger Freunde“ zu einem Treffpunkt mit der Armee vermutlich in Schlesien ab 21. April 1778 unterwegs. Glücklicherweise haben sich handschriftliche Notizen über diese Reise im Nachlass des Frommann-Verlag erhalten.
Für mich als Archivar sind die handschriftlichen Aufzeichnungen Löfflers aus der Zeit zwischen April 1778 und April 1779 nur auf den ersten Blick ein für den eigenen Gebrauch angelegtes Tagebuch, sie erweisen sich nach gründlicher Untersuchung als eine Sammlung von Briefstellen, religions- und kirchengeschichtlichen Betrachtungen zu den Ansiedlungen der „Brüdergemeinden“ in Schlesien, der Reformierten und der Nachfahren der Hussiten, Landschaftsbeschreibungen, darunter auch Notizen über Märsche seines Regiments, zu Gesprächen mit Offizieren, zu dem durch den Krieg verursachten Leid und Elend der Zivilbevölkerung in Böhmen und Schlesien.
Was uns Heutigen besonders imponiert in diesen Notizen Löfflers, ist seine unbedingte Haltung der Toleranz! Er bemüht sich um Verständnis für die Motive, für die besonderen Details der Liturgie der „sektiererischen Gemeinden“ der Herrnhuter, deren Gebäude und Ortsplanungen, die Gestaltung ihrer Friedhöfe und Begräbnisrituale.
Hier aber, im Konvolut der von Josias Löffler selbst ausgewählten Papiere findet sich nur eine, etwas längere Passage, die er wohl getrennt vom allgemeinen Tagebuch aufbewahrt hatte und der er den Arbeitstitel „Der Prinz“ gab. Der Grund für Löfflers fast geheimen Umgang mit jenem Papier liegt vermutlich im Bezug zu der Person, die er heraushebt aus der Gruppe der preußischen Offiziere, denen er in den Monaten des Feldzuges begegnet ist. Das Papier lokalisiert jene Begegnung im Sommer 1778 in einem Lager im Grenzgebiet zu Böhmens zu Schlesien, in der Nähe von Skalitz auf dem Wege von Glatz nach Königsgrätz.
Den Text muss man wortgetreu in sich aufnehmen: „Nacht 14. zum 15. August. Nachdem ich mich gegen Mitternacht von der tapfer weiter zechenden Runde der hohen Offiziere verabschiedet hatte, trabte ich im Schein des Halbmondes entlang des durch bewaffnete Posten mit Fackeln beleuchteten Pfad in Richtung meines Zeltes. Ich traute für einen Moment meinen Augen nicht – vor mir ein noch langsamerer Reiter in Offizierskleidung, ohne Begleiter, vermutlich in Gedanken vertieft, geduckt, zusammengesunken im Sattel hockend. Ich ritt heran – es war ein junger Oberst aus der Begleitung des Prinzen Heinrich, in diese Runde möglicherweis aus Versehen gelandet, er hatte sich nicht an der Unterhaltung der Generale beteiligt, war den ganzen Abend über – soweit ich erkennen konnte – mit der Abfassung von Notizen in einem Büchlein beschäftigt. Er hatte mich gehört, brachte sein Pferd zum Stehen, nahm meine schwarze Montur wahr und grüßte in verhaltenem Ton „Herr Prediger, so spät noch auf Seelenfang? Sind Sie nicht jener despektierliche Prediger des Regiments der Gensd’armes aus Berlin, der sich unaufgefordert ins Geschäft der hohen Generalität einmischt und den rekognoszierenden Autoritäten seine Meinung ungefragt kundtut?“ Die gutmütig-spöttische Wortwahl verriet Sympathie, auf meinen fragenden Blick stellte er sich in gleicher Tonart vor „Ein sehr kluger Schwarzrock, der Abt Jerusalem, hat mir am herzoglichen Hofe von Braunschweig nicht nur Manieren beigebracht, zur Wahl meines Rufnamens Leopold beigetragen, sondern mich und meiner verehrten Schwester Anna Amalia Gottes Wort verständlich und anregend gelehrt. Wie wäre es, Ehrwürden, mit einem mitternächtlichen Plauderstündchen über Gott und die Welt, Krieg und Frieden, Glanz und Elend – hier auf dem sicherlich noch sommerlich-warmen Stein am Wege?“ Er kannte mich also, der „Libertin“, der Freigeist, wie er unter der Hand in den Offizierskreisen genannt wurde, Prinz Leopold von Braunschweig, Kommandeur des Frankfurter Infanterieregiments, jung an Jahren, aber doch schon weitgereist, wie er schon in den ersten Sätzen erkennen ließ: „Man hat mir von Ihnen erzählt, lieber Freund – ich darf Sie doch so nennen? Uns vereint so manches, was unseren ureigensten, dem Berufsstand nöthigen Eigenschaften fremd zu sein scheint, aber uns ist gemeinsam die Neigung zu den schönen Künsten, zu einer fröhlichen Pädagogik. Es ist ein Jammer, dass ich Sie nicht teilhaben lassen konnte an meiner Reise durch Italien. Wir hatten einen deutschen „Cicerone“ als Kunst- und Reiseführer in Italien, den Literaten Lessing!“
Nach einigen pivaten Bemerkungen Löfflers zur Person des Prinzen, den er Jahre später in Frankfurt an der Oder als Gesprächspartner ausgiebig kennenlernt, finden sich nun Erinnerungen an eine Szene, die ihm der Prinz als sehr persönliche Eindrücke von der Grausamkeit jenes als „Kartoffelkrieg“ fälschlicherweise in den Annalen der königlichen Hofberichterstatter kleingeredeten Militäraktionen der Preußen und Österreicher 1778/79 in dieser Nacht mitgeteilt hatte.
Tagebuch-Notiz (Ausschnitt) des Feldpredigers Löffler, Sommer 1778
Feldprediger Josias Löffler versieht dankenswerterweise die Erzählung des Prinzen Leopold mit Daten und korrekten Ortsbezeichnungen, macht uns Archivleuten des Leben leicht:
„5ten julius Dieser Marsch war der beschwerlichste, weil er immer Berg auf Berg ab führte. Wir schlugen unser Lager zwischen den Städten Reinertz und Lewin auf am Fuße des Hummelbergs. Von diesem Berg konnten wir weit in Böhmens Ebenen sehen und besonders lag Nachod vor uns; bis dann der König mit den Corps ins Lager zieht.
6ten Montag Wir glaubten den 6ten Ruhetag bey dem Hummelberg zu haben. Der Morgen war vergangen und wir erheiterten uns bey einer frisch zubereiteten Mahlzeit im Zelte. Die Suppe und Vorkost und Fleisch waren vorgesetzt und wir warteten noch auf einen Rothwein, dann wurden Forellen aufgetragen und wir hatten sie verzehrt, als ein Adjutant die Nachricht brachte, daß wir marschiren sollten. Es war der Nachmittag 3 Uhr als wir aufbrachen und kamen abends um 9 Uhr bey Nachod ins Lager. Zu verwundern ist es daß uns die Österreicher den Einmarsch in Böhmen nicht schwer gemacht haben, weil dieser Weg äußerst beschwerlich ist und von den umliegenden Hügeln gedeckt werden kann.
7ten Dienstag Diesen Morgen um 10 Uhr lief die Nachricht ein, daß die Preußischen Husaren eine kleine Action auf die Österreichischer gehabt. Sie ersten haben 15 Mann und 2 Offiziere gefangen genommen und sie zurückgetrieben.
8ten Mittwoch Des Morgens um 3 Uhr brach der König mit der Avant-garde die aus 45 Bataillonen und 30 Escadronen besteht auf und rückte bis an die Elbe vor. Am Abend des Tages rückte der ganze linke Flügel ins Lager bey Nachod. Ich hielt mich den ganzen Tag in meinem Zelt bis gegen Abend um 7 Uhr wo ich mit einem befreundeten Major durch einen Theil des Lagers und durch Nachod ritt, ohne daß uns etwas Merkwürdiges begegnet war. Am Abend spät gegen 10 Uhr Kam einer meiner Offizier zu mir ins Zelt und erzählte mir unter anderem etwas, was mich einen Theil der Nacht schlaflos machte. „Heute habe ich geweint ! Freund, sagte er zu mir. Ich ritt mit einigen Offizieren über ein verheertes Kornfeld und erblickte eine Frau mit einem Kind auf dem Arm. In ihrem Gesicht war banger Schmerz und als ich sie freundlich grüßte, so zwang sie ihr Gesicht zum Lächeln, und der Zwang, den sie sich anthut und der geheime Schmerz der sie nagte entging mir nicht und ich fragte was ihr fehlte. Sie antwortete weiter nichts als „das ist meins“ – indem sie auf das verheerte Feld zeigte. Diese Worte und der Ton mit dem sie sie aussprach und das Kind auf dem Arm machte mir ihren ferneren Anblick unerträglich. Ich gab meinem Pferde die Sporen ohne etwas zu antworten und entfernte mich. Ich konnte die Thränen nicht zurückhalten, die der Anblick der Noth dieser Frau in mit hervorriefen. Sie können sich leicht vorstellen in welche Betrachtung ich durch diese Erzählung versetzt wurde. Zu einer Zeit, wo die Ernte vor der Thür ist, wo das grünende Feld die herrlichste Belohnung für die saure Mühe des Landhandwerks verspricht, zu einer Zeit wo diese Furcht zu Ende geht und ihm diese Belohnung in wenigen Wochen satt machten soll, die der Handel mit diesen Früchten ihn das ganze Jahr hindurch hat nähren sollen, die vielleicht auch hätten seine Kleinen Schulden bezahlen lassen, das heißt auch ins künftige Jahr übernehmen – alle diese diese Annahmen in wenigen Tagen jetzt zerstört, in einer Schlacht zu langem Mangel verwandelt zu sehen – mit Weib u. Kindern – stellen Sich sich die Catastrophe vor, in die bey dem Gedanken an das Elend so viele versetzt wurden. Und nehmen Sie hinzu, daß diese Leute an allen diesen Unglücksfällen die Unschuldigsten sind, daß sie nicht strafbar sind, als weil sie unter einem Fürsten stehen, den sein Ehrgeiz u. seine Habsucht dazu bringt das Eigenthum seiner getreuen Unterthanen aufopfernd, er sie den schrecklichsten Verderben Preiß giebt.
9ter Dienstag
Mit diesen Gedanken legte ich mich zu Bette. Der helle Mond schien durch die Wände meines Zelts, u. ich konnte lange nicht einschlafen. Als ich des Morgens erwachte, war das Bild der Frau das erste was meine Einbildungskraft mir darstellte, u. als ich aus meinem Zelt trat, u. in der Entfernung verwüstete Felder u. um mich die letzten Spuren eines ehemaligen Feldes, das unser Lager in trockenen Boden, die reine Schande, verwandelt hatte, erblickte, so erneuerten sich diese Gedanken in meinem Sinn, doch wie bald wird mich die ununterbrochene Gewohnheit auch gegen die Eindrücke abgehärtet haben. So wie mich die Aussicht aus meinem Zelt an die Verheerungen des Kriegs erinnert, die man nur seinem Auge u. nicht dem Ohr glaubt . . .“
Soweit die Aufzeichnungen Josias Löfflers zu den Schrecken des Krieges – kein Blut, keine Toten, keine Totenmessen.
Zum Abschluss dieser Folge sei aus Löfflers Tagebuch von 1778/79 eine Passage zitiert, die er dem kirchenpolitischen Thema des Verhaltens gegenüber den katholischen Amtsbrüdern widmete, knapp und inhaltlos: „Am Nachmittag ging ich in die Stadt, um wie versprochen, die katholischen Geistlichen zu besuchen. Ich traf ihrer drey in einem Hause wie es schien sehr beschäftigt an. Ich unterhielt mich mit zweyen, dem Dechant einen Mann von ziemlichen Jahren und einen jüngeren wohlgenährten über die geistliche Hierarchie In Böhmen, über ihr Verhalten gegen die böhmischen Brüder oder Hußiten u.dgl. Alles kurz und ohne viele Weitläufigkeit. Der Freytag und Sonnabend verstrichen in einer gänzlichen Unthätigkeit und ohne daß uns das geringste Merkwürdige begegnet war.“
Klappen wir die Mappe zu, wenden wir uns der Rückkehr des Theologen Josias Löffler in seine Berliner Garnison zu – er war doch immer noch im Dienstverhältnis eines Feldpredigers der Armee !
Dieter Weigert, Berlin Prenzlauer Berg 3. August 2023
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadtarchivars zu Leutnant Heinrich von Kleist und Generalsuperintendent Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Über Nacht ist es Winter geworden in Thüringen. Ich stehe neben dem Schreibtisch und dem mit voller Kraft arbeitenden Heizkörper und sehe durch die Dachluke auf den verschneiten Schlosspark. Der See beginnt zuzufrieren, eine Besonderheit der letzten Jahrzehnte. Die Eltern hatten Mühe, für die jubelnden und drängelnden Kinder in den Kellern die Schlitten und Schlittschuhe zu finden. Matsch und Regen hatten ansonsten diese Jahreszeit geprägt. Nun aber endlich wieder ein echter Winter-Januar mit eisigem Wind, Neuschnee jede Nacht, auch zugefrorener Saale. Ich wende meinen Blick zurück in die warme Dachstube des Saalfelder Schlosses herunter auf meine zwölf sauber sortierten Papierstapel und auf die Schachtel mit den Zetteln, die auf den ersten Blick thematisch oder chronologisch nicht zuzuordnen sind.
Chronologisch stecken wir immer noch in der Königl.-preuß. Residenz Berlin, in den frühen siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Heinrich von Kleist ist noch nicht geboren, als der junge Theologe Josias Friedrich Christian Löffler die königlich preußische Residenz Berlin während eines Besuches zu Ostern 1774 kennenlernt. Er findet er in Berlin sofort Kontakte zu führenden Kirchenpolitikern wie Teller und Spalding, die ihm Tätigkeiten als Privatlehrer in adligen Offiziers- und Patrizierhäusern vermitteln. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums siedelt er Ende 1776 endgültig nach Berlin über – der Residenz der preußischen Könige, dem Sitz der Akademie der Wissenschaften, des Oberkonsistoriums für die protestantisch-lutherischen Kirchgemeinden.
Blick von der Cöllner Seite auf Hundebrücke, Apotheke, Domkirche, Marienkirche (Hintergrund), Johann Georg Rosenberg, 1780, gewidmet Daniel Itzig (1722-1799), Bankier und Oberältester der preußischen Judenschaft
Er ist 24 Jahre jung, als er zu Weihnachten 1776 sein Amt als Prediger an der Hausvoigtey-Kirche antritt, verbunden mit der lutherischen Predigerstelle an der Charité. An das „lutherisch“ muss deshalb erinnert werden, weil sich die königliche Einrichtung der Charité den Luxus von zwei Predigerstellen leisten konnte, neben der für die lutherischen Ärzte und Patienten auch eine für diejenigen reformierten Glaubens. Bei einem vorigen Besuch zu Ostern des Jahres 1774 hatte Josias Löffler durch Vermittlung seiner Hallischen Professoren bedeutende Kirchenpolitiker und Theologen und andere Persönlichkeiten des kulturellen Lebens Berlins kennengelernt, so u.a. die Oberkonsistorialräte Teller und Spalding, die Literaten und Verleger Friedrich Nicolai, Anton Friedrich Büsching und Friedrich Gedike, möglicherweise auch den Verleger Frommann und den Theologen Gotthilf Samuel Steinbart in Züllichau. So ist er schon zu Beginn seiner Tätigkeit im Netz der kulturellen Elite der Hauptstadt und ihrer märkischen Umgebung wohl aufgehoben, man vermittelt ihm zusätzlich zu den Predigerstellen gut dotierte Tätigkeiten als Privatlehrer in den Häusern der Militärs, Politiker, Kaufleute. Für die Mitgliedschaft in dem renommierten Zusammenschluss der Hauptvertreter der Berliner Aufklärung, der Mittwochsgesellschaft (wie Gedike, Nicolai, Biester) ist er aber wohl noch zu neu, noch nicht fest genug verankert im wirtschaftlichen, kulturpolitischen und wissenschaftlichen Einflussgeflecht der preußischen Hauptstadt.
Berlin wird seine Wirkungsstätte, seine kulturelle und persönliche Heimat für sechs Jahre bleiben – unterbrochen nur durch den Einsatz als königlich preußischer Feldprediger 1778/79.
Hinsichtlich der politischen Kontakte kann man wohl nicht fehlgehen, wenn man über die Bekanntschaft mit Gedike auch Beziehungen zu dessen engem Freund Johann Erich Biester, dem Staatssekretär und persönlichen Berater des Ministers Zedlitz und damit zum Vorzimmer des Königs voraussetzen kann. Damit steht Löffler vermutlich schon in dieser ersten Periode seiner akademischen und kirchlichen Laufbahn im Gesichtskreis des Chefs des Departments, des schlesischen Freiherrn Karl Abraham von Zedlitz und Leipe. Löffler ist ein praktischer Charakter, gemeinsam mit Philipp Julius Lieberkühn (1754 – 1788) und Johann Stuve (1752 – 1793), seinen Studienfreunden aus der Hallischen Periode, nimmt er teil an Planungen der Neuorganisation und Reform der Latein-Schule in Neuruppin, zu deren Direktoren seine beiden Freunde 1777 berufen worden waren.
Die Herausgeber der biographischen Notizen von 1817 bemerken, dass Löffler des Neuruppiner Unternehmen seiner Freunde nach dem Abschluss ihres Studiums nicht nur mit Sympathie verfolgt, sondern auch aktiv unterstützt hat: „die Angelegenheiten der Ruppinschen Schule, deren Wiederhersteller und Verbesserer seine Freunde, Lieberkühn und Stuve, geworden waren, forderten ebenfalls einen Theil seiner Mußestunden.“ (Kleine Schriften, Bd. I, S.VIII/IX)
Sie verweisen auf eine dieser Aktivitäten – eine Unterredung in Potsdam mit dem Generalleutnant von Prittwitz, dessen Sohn er Privatunterricht gab, mit der Bitte um Rat und Unterstützung beim König wegen eines Gesuches der Schule bei der preußischen Majestät. (S. VIII ff) Im handschriftlichen Manuskript dazu, eingebettet in seine eigenen kritischen Erinnerungen an jene Berliner Jahre: (Bl. 4 f)
„Mit dem ersten Tage des Jahres 1777 trat er sein Amt als Prediger an. Ungern hatte er seinen Plan sich dem Lehramt in einer Schule zu widmen, aufgegeben oder vielmehr er glaubte die Ausführung desselben nur verschoben zu haben und hatte sich zur Übernehmung dieser Stelle um so mehr entschlossen als damit keine besondere Seelsorge verbunden war. Seine Nebenstunden widmete er theils der Uebersetzung des berühmten Buches des Souverain Du Platonisme devoilé, theils dem in Verbindung mit mehreren jüngeren Gelehrten in Berlin auszuführenden Vorhaben, eine gelehrte Zeitung zu schreiben, zu welcher er Plan und Ankündigung ausarbeitete. Allein die Ausführung unterblieb, . . . Theils die Unterweisung mehrerer jungen Herrn vom Stande in der lateinischen Literatur, theils die Angelegenheiten der Ruppinschen Schule, deren Wiederhersteller und Verbesserer seiner Freunde Lieberkühn und Struve geworden waren forderten ebenfalls einen Theil seiner Mußestunden. Durch diese beyden letzteren Beschäftigungen wurde er dem jetzigen Generalleutnant und Ritter des Schwarzen Adlerordens dem Herrn von Prittwitz bekannt, dessen Sohn er unterrichtete und an den er sich wendete, als sich dieser in Potsdam bey dem König Friedrich II. aufhielt, ihn um Rath und um Unterstützung wegen eines Gesuches, welches die Ruppinsche Schule an den König thun wollte, zu bitten.“
Edda springt auf, öffnet die oberste der Schubäden ihres Tische und präsentiert triumphierend ein Foto :
Das ist eine Zeichnung Menzels, rufe ich überrascht aus, warum kenne ich sie nicht ? – Weil sie kaum publiziert wurde, Chef, und Sie vermutlich Jahrzehnte nicht das Berliner Kupferstichkabinett besucht haben ! Ich dagegen hatte Glück, ein kunsthistorisch beflissener Freund zeigte mir das gute Stück in einer Fensternische des Museumskomplexes am Potsdamer Platz und riet mir zu einem heimlichen Foto! Deshalb ist die Qualität nicht die beste, aber für unser Verständnis der Biographie Löfflers ausreichend. Oder nicht ? – Der damalige Freund wies vor allem auf das Menschliche, Väterliche im Gesicht des Generals hin, was und ja entgegen kommt. Menzel hat höchstpersönlich die persönlichen und militärhistorischen Daten des Herrn rechts an die Blattkante platziert: „Joachim Bernhard von Prittwitz, General d. Cavallerie, Inspecteur der märkischen Cav., Chef d. Gensdarmen“. Der linken Blattkante ist zu entnehmen, dass der General Träger de Schwarzen Adlerordens und des Ordens Pour le mérite war.
Ich beglückwünsche Edda zu diesen bedeutenden Erkenntnisssen. Da wir nun schon bei Herrn von Prittwitz angelangt wären, sollten wir ohne Verzug die Themen und Papire aufgreifen, die mit der unmittelbaren Vorbereitung des Feldzuges 1778/79 gegen Österreich zusammenhängen.
Da wird nun aus dem freundlichen, väterlichen Gesicht der in strahlenden Farben uniformierte Krieger von Prittwitz im Kreis um seinen König.
Lassen wir nun wieder Josias Löffler in seinen Lebenserinnerungen selbst sprechen (Bl. 4-6):
„Als nun in dem folgenden Jahr 1778 der Bayerische Erbfolgekrieg auszubrechen schien und der damalige Prediger der Königlichen Gensd’armen, Herr Lachmann (jetzt Instruktor und Oberpfarrer zu Prenzlau in der Uckermark), welcher bereits einen großen Theil des siebenjährigen Krieges hindurch dieses Corps als Prediger begleitet hatte, den Ermüdungen und der herumziehenden Lebensart eines Feldzuges sich nicht zum zweyten Mal aussetzen wollte, und seine Entlassung verlangte. So ließ ihn der damalige kommandierende General der Gensd’armes diese Stelle antragen. So sehr dieser Antrag seinem Plan sich den Wissenschaften und dem Lehramt zu widmen, entgegen war, indem er ganz von der Literatur abzog, so empfahl er sich ihm doch auch andere Seiten, einmal durch die Menge von neuen Erfahrungen zu machen, die ihm nur so die neue Lebensart darbot und dadurch daß er als Feldprediger noch weiter eine neue Lebensart sich erweisen könnte. Er entschloß sich und ging im April des Jahres 1778 nach Schlesien und begleitete das Regiment hier bis zu dem Frieden, welcher dann geschloßen wurde.“
Tropeter des 10. Kürassier-Regiments, der „Gens d’armes“
Als Edda aus ihrer Militaria-Sammlung diesen Trompeter zu Pferde auswählt und dazu einen berittenen Feldprediger präsentiert, überrascht sie mich doch mit einer epochalen Frage: – Chef, konnte unser Josias überhaupt reiten?
Dieter Weigert, Berlin Prenzlauer Berg 31. Juli 2023
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Edda ist nicht zu bremsen, sie ist aufgeregt und glüht im Gesicht: – Großer Chef, ich habe mir heimlich noch einige Nachbarblätter angesehen und fühle die Fäden! Ich brauche mindestens eine Stunde, alles auszubreiten! Darf ich?
Ich nicke freundlich. Sie doziert genüßlich in Erwartung der schönen Dinge, von denen ich nichts ahne.
– Beim Durchforsten verschiedener Texte, die nach längeren Prüfungen einen Bezug zum Brief der Dame Esther erlauben, stoße ich auf das mehrfache Auftauchen des Wortes „Heilige-Geist-Straße“. Dort wird sie gewohnt haben, in der Mitte Berlins.
Ich studiere die alten Pläne von Berlin und finde die heute verschwundene Parallelstraße zwischen Spandauer Straße und Spree, in einem auf Weisung des Großen Kurfürsten trockengelegten Sumpfgebiet – dann Mitte des 18. Jahrhundert ein Wohngebiet für die betuchten Berliner Bürger, für die Professoren der benachbarten Ritterakademie und des Joachimsthalschen Gymnasiums, ein Wohngebiet mit Buchhandlungen, Geschäften für den gehobenen Bedarf – französischer und englischer Mode, Cafés, Manufakturen, die den Bedarf der Berliner und Cöllner nach Tabak, Strümpfen, Seide, Möbeln, Juwelen, Hüten befriedigten. Die noch existierende Heilig-Geist-Kapelle aus dem Mittelalter und das verschwundene Hospital zum Heiligen Geist gaben der Straße den Namen.
Der Berlinische Wursthof war ein kurzer Straßenzug zwischen der Burgstraße und der Heiligegeiststraße. Nach Neander von Petersheiden Neuen Anschaulichen Tabellen von der gesammten Residenzstadt Berlin (1801) hatte die Straße eine Länge von 35 Ruthen (ca. 132 m) bzw. 175 Schritten.
An der Südseite lagen 6 Grundstücke, an der gegenüberliegenden Seite lagen hinter dem Palais Itzig an der Burgstraße Seitengebäude, Stallungen und ein Spritzenhaus, wohl der Ort des früheren Schlachthauses. Die heutige neu angelegte St. Wolfgang – Str. nur für Fußgänger zwischen Spandauer Straße und der Spree zeigt in etwa den Verlauf der früheren Straße Berlinischer Wursthof, die dem Erweiterungsbau der Börse (nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Ruine abgerissen) weichen musste.
Edda legt Karte Nr. I in die Tischmitte
Auf diesem Ausschnitt vom Stadtplan Schleuen, 1773, erkennen wir die Heilig-Geist-Kapelle, die Spandauer Straße, die Synagoge, Heilig-Geist-Straße und -Gasse, links die Marienkirche und rechts das Königliche Schloß.
Eingefärbt ergibt sich folgendes Bild -Edda legt Karte Nr. II über Karte Nr. I:
Grün ist Heilig-Geist-Straße und -Gasse sowie die Heilig-Geist-Kapelle, Türkis zeigt die Lage der Synagoge und Orange das Königliche Schloss. Alles nah beieinander !
Nun zu der Dreiecks-Verbindung Heiliggeiststraße – Charité – Jägerstraße: Karte III erscheint in der Tischmitte:
Dem Brief entnehme ich folgende Handlungsfäden: Josias’ Freund Johann Stuve, mit dem sich Josias an manchen Abenden im Café traf, schlägt ihm vor, ihn und den gemeinsamen Freund Philipp Lieberkühn an einem Mittwoch zum Salon der Ehefrau des jüdischen Arztes Cohn in die Jägerstraße zu begleiten (gelb auf unserer dritten Karte eingefärbt, rot soll den Standort der Charité zeigen, die Wohnung von Josias, Grün und Türkis wie gehabt das Jüdische und Kommerzielle). Die Einladung war sehr persönlich gehalten, aber Johann meinte, dass man enge Freunde des Eingeladenen nicht an der Tür abweisen könne. Und so geschieht es auch. Es ist das erste Mal seit den Studentenjahren in Halle, dass Josias auf „Tuchfühlung“ mit jungen Frauen kommt – Ehefrauen und fast erwachsenen Töchtern reicher Berliner Juden, nichtjüdischen Schauspielerinnen und Tänzerinnen, bekannten und noch nicht bekannten Schriftstellerinnen, die Freudinnen mancher Herren des Hofes, von Bankiers, Diplomaten, ausländischer Kaufleute, Verlegern aus Berlin und Potsdam. Eine fremde Welt, deren Türen sich ihm nun auftun.
Eingefärbt auch diese Karte – die für unsere Recherchen wichtigsten Kommunikationszentren.
Karte IV auf dem Tisch:
Wie passt aber Esther in dieses Bild? Leider habe ich nur den einen persönlichen, intimen Brief aus jenen Jahren, nur vier Seiten, wenn auch eng und zierlich beschrieben.
Ich vertiefe mich tagelang in Esthers Brief und beginne erste Fäden zu entdecken – nächtliche Spaziergänge, verstohlene Liebesschwüre in der Wohnung einer Freundin von Esther – auch einen Hinweis auf die benachbarte Garnisonkirche, auf den Kanal mit seinen Maulbeerbäumen an beiden Ufern, – die Garnisonschule – und schließlich Mendel Oppenheims Bank in der Burgstraße an der Ecke zur Neuen Friedrichstraße (auf dem Schleuen-Plan an diesem Abschnitt Garnison-Kirchen-Straße benannt, von mir lila eingefärbt):
Da passt gut der liebe Rosenberg zur Illustration ! Seine Stiche, insbesondere die zur Umgebung des Hackeschen Marktes, lassen den Mix der Bauten, der Gassen und Straßen, der Männer und Frauen lebendig werden. Leider konnte ich keinen Stich zum Thema Burgstraße /Nähe Pomerantzenbrücke finden.
Die akribische Suche in den jüdischen Familiengeschichten um 1775 – der Name Esther ist ein eindeutiger Wink in diese Richtung – lässt mich jubeln: ist Esther eine noch unverheiratete Schwägerin des Mendel Oppenheim, eine Schwester seiner Frau Henriette geborene Itzig? Geboren also im Gebäude Burgstraße 25 an der Ecke einer Gasse zum Fluss? – Ich kann also annehmen, dass Esther Itzig ihre verheiratete Schwester Henriette Oppenheim zu den Salons der befreundeten jüdischen Familien begleitet. Ein Mosaiksteinchen nach dem anderen erhält Farbe, Konturen, ich kann einige schon zusammenfügen. Aber noch kenne ich nicht den Mittelpunkt, den Schlußstein des Gewölbes, der alles zusammenhält, dessen Entfernung aber auch alles zum Einsturz bringen kann.
Ich zermartre meine grauen Zellen, um den Knoten zu finden, von dem aus der Strang in meinem Gedächtnis-Geflecht zur Heilige-Geist-Straße abgeht, wo ist mir diese Alt-Berliner Lokalität in den Recherchen der letzten Jahre begegnet? Welche Brief-Adresse? Welcher Aktenbezug? Ich gehe die Namen möglicher Berliner Bezugspersonen durch – Spalding, Teller, Mendelssohn, Büsching, Friedrich Nicolai – halt, der Name könnte der Schlüssel sein !!!
Gezieltes Suchen bringt es nach Stunden an den Tag: bevor der betuchte Schriftsteller, Verleger, Verlagsbuchhändler 1787 das bekannte Haus in der Brüderstraße in der Nähe des Schlosses, also auf der Cöllner Seite, erwarb, hatte die Familie ihren Sitz in der Heiligen-Geist-Straße. Der Vater hatte nach seinem Umzug aus Königsberg nach Berlin sich dort niedergelassen, die Söhne hatten die provinzielle Verlagsbuchhandlung zu einem gutgehenden großstädtischen Geschäft entwickelt. Friedrich Nicolai hatte nach dem Tode des Vaters und des älteren Bruders Verlag und Buchhandlung übernommen.
Mitte der siebziger Jahre, in denen Josias seine ersten Schritte auf dem Berliner Parkett wagt, strickt Friedrich Nicolai an seinen Bindungsgefügen, sucht und findet Mitstreiter im Ringen um die öffentliche Verbreitung der Ideale der Aufklärung – Schriftsteller, Theologen, Pädagogen, bildende Künstler, Beamte. So laufen sie sich gewiss manchmal über den Weg, Nicolai und Löffler, zum Beispiel bei Gesprächen Nicolais mit Büsching, dem Rektor des Gymnasiums zum Grauen Kloster, wenn es um die Herausgabe von Lehrbüchern, theoretischen Werken zu neuen Fragen einer liberalen Pädagogik geht, zu denen Büsching auch gern den jungen Wissenschaftler aus dem Umkreis der Hallischen Professoren Semler und Nösselt hinzuzieht. Büsching hätte den jungen Halle-Absolventen gern an seinem Gymnasium, Josias lehnt 1775 ein gut dotiertes Angebot ab, so früh möchte er sich noch nicht binden.
So ist mir aus der Biographie Nicolais das kaum veröffentlichte Detail bekannt, dass er um das Jahr 1774 mit Moses Mendelssohn den Plan des Langen und breiten diskutierte, die fünf Bände Moses in der Mendelssohnschen neuen Übersetzung für einen späteren Druck vorzubereiten und auf der Suche nach einem erfahrenen Wissenschaftler war, der diese Herausgabe betreuen konnte. Mendelssohn und Nicolai kamen überein, später auch das gesamte Alte Testament aus dem Hebräischen in neuer Übersetzung herauszugeben. Sie waren sich der Tragweite dieses Vorhabens voll bewusst – die Orthodoxie würde Sturm laufen gegen den unverhohlenen Angriff auf Luther – der habe doch für alle Ewigkeit auf der Wartburg eine deutsche Übersetzung der Bibel geliefert, auch unter Verwendung des hebräischen Urtextes.
Da Mendelssohn meinte, für diese neue Version der Moses-Geschichte in deutscher Sprache besonders die Angehörigen der gesamten „jüdisch Teutschen Nation“ interessieren zu können, sei Nicolai sich des buchhändlerischen Gewinnes bei entsprechend hoher Auflage sicher. Den verkaufsfördernden Titel hatte Mendelssohn schon vor der ersten Zeile geliefert: „Die fünf Bücher Mose, zum Gebrauch der jüdischdeutschen Nation nach der Übersetzung des Herrn Moses Mendelssohn“.
Nun aber waren Verleger und Autor am Verzweifeln – die ihnen bekannten Herren Kapazitäten waren mit anderen Projekten für Jahre gebunden, mit ihren akademischen Laufbahn-Zimmerer-Arbeiten vollauf beschäftigt oder sahen wenig Möglichkeiten, mit einer solch schweißtreibenden Beschäftigung Ruhm und Reichtum zu ernten. Nicoli kam nach intensiven Gesprächen mit den Autoritäten Teller, Spalding, Sack mit dem überraschenden Vorschlag zu Mendelssohn, den jungen, von den Prominenten einhellig gelobten Josias Löffler die Druckvorbereitung zu übertragen einschließlich der Erarbeitung eines Kommentars, sozusagen als Gesellenstück für den Einstieg in die normalerweise abgeschlossene Berliner Theologenzunft. Nicolai führte die Verhandlungen – da es sich um ein Projekt für mindestens fünf Jahre handelte, sah Josias keinen Grund, sich der lukrativen Aufgabe zu entziehen – und auf der anderen Seite erspähte er die einmalige Chance, in seinen jungen Jahren mit dem bekannten Verleger und Schriftsteller Friedrich Nicolai ins Geschäft zu kommen. Nicalai seinerseits erkannte hier eine Chance, dem wohlbekannten und gefüchteten Konkurrenten Frommann in Züllichau ein junges erfolgversprevhendes Talent abzujagen.
Was Mendelssohn, Nicolai und Löffler nicht voraussahen, war das Ausmaß des Proteststurmes gegen die endlich 1779 erscheinende Publikation sowohl aus Kreisen der lutherischen Orthodoxie als auch von Seiten jüdischer Rabbiner vor allem aus dem einflussreichen norddeutschen Raum. Die vereinten autoritären Bannstrahlen ließen das Projekt finanziell in den Abgrund stürzen, auch wenn die Herausgeber von Anbeginn ohne Gewinn kalkuliert hatten, weil die den aufklärerischen, pädagogischen Nutzen höher veranschlagten als den Profit. Aber die ins Astronomische gestiegenen Druckkosten von 3 500 Reichstalern veranlassten Nicolai, die Unternehmung nach dem Erscheinen des ersten Bandes abzubrechen. Moses Mendelssohn kommentierte später den Ausgang dieses verlegerisch riskanten Programms lapidar: „Meine Ansicht ist bisher gewesen: wenn meine Übersetzung von allen Israeliten ohne Widerrede angenommen werden sollte, so wäre sie überflüssig. Je mehr sich die sogenannten Weisen der Zeit widersetzen, bist du nötiger ist sie. Ich habe sie anfangs nur für den gemeinen Mann gemacht, finde aber, dass sie für Rabbiner viel notwendiger ist.“
Nun erklärt sich manches im Brief von „Esther“: die Erwähnung von Friedrich Nicolai und der Heilige-Geist-Straße, die weltanschaulichen Passagen über das Verhältnis von Judentum, dem Alten Testament und dem Christentum, die Klagen über die scharf gezogenen und unveränderlich starren Grenzen in der „guten Gesellschaft“ Berlins für eine dauerhafte familiäre Bindung zwischen Juden und Christen.
Was Esther in ihrem Brief nicht erwähnt, vermutlich als bekannt voraussetzen konnte – auch dem Nichtjuden Josias: der Philosoph Moses Mendelssohn arbeitete tagsüber als Buchhalter sozusagen „um die Ecke“ im Kontor der Seidenfabrik Isaak Bernhards und vier Jahre lang als Hauslehrer der Kinder des reichen Fabrikanten; später hatte Bernhard den Buchhalter Mendelssohn sogar zum Teilhaber der Firma gemacht, da war Moses schon im ständigen Kontakt mit Lessing und Nicolai. Nun entschlüsselt sich auch das Geheimnis der Liebesbeziehung und ihres tragischen Endes zwischen Esther und Josias: Josias hat sich zu entscheiden – Liebe oder Laufbahn, Weggehen aus Berlin in ein Land, wo eine solche Liebe möglich ist oder Verzicht und Anpassung. Es beginnt schon mit der einfachen Frage: Warum werde ich, Esther, Jüdin aus gutem Hause, nicht zu den Empfängen in den Salons der christlichen Herrschaften eingeladen? Warum kann ich den neunmalklugen Friedrich Nicolai nur im Salon meiner Schwester, aber nicht bei einer Gesellschaft in den Privaträumen seines Hauses in der Heilige-Geist-Straße treffen?
Wie leider befürchtet, kann ich keinen Antwortbrief von Josias finden, was ich umso mehr bedauere, da das Thema Sündenfall und Erlösung wie auch Liebe und Sünde für den jungen Prediger und Hauslehrer aus der theologischen Schule von Semler und Nösselt damals eine interessante Herausforderung in der Debatte mit der klugen jüdischen Intellektuellen darstellen sollte
Edda unterbricht aus gutem Grund ihren Vortrag: es ist Zeit für eine längere Pause, der Körper fordert sein Recht. Aber auch das Aufnahmevolumen des Kopfes scheint erreicht – eine natürliche Blockade sendet Signale!
Ich entscheide mich für eine weniger anstrengende Form, in der Edda ihre Ergebnisse vorstellen kann – den Dialog. Ich frage, sie anwortet! „Zuvörderst“ – um mit Josias zu sprechen – solle sie doch darstellen, was sie an Neuem über jene Übersetzung aus dem Französischen gefunden habe, die wir vor Tagen ungeduldig mit wenigen Worten abgetan hatten. Eddas Gesicht strahlte: Die Zeilen, in denen „Esther“ von den „sinnlichen, unvergesslichen Wochen in Züllichau“ spricht, offenbaren sich nun nach dem geduldigen Studium der Texte als Botschaft einer sehr frühen Zusammenarbeit Löfflers mit Nicolai und dem Verleger Fromman in Züllichau, später Jena: Der junge Wissenschaftler Josias sitzt in seinen freien Stunden an einer Aufgabe, zu der ihm Semler geraten hatte – die Übersetzung ins Deutsche der provokativen anti-orthodoxen Publikation des französischen Theologen Matthieu Souverain „Platonisme devoilé“. Nicolai zeigte kein Interesse an der Herausgabe, er verweist den jungen, bis dato unbekanten Autoren an den Kollegen und Konkurrenten Frommann im neumärkischen Züllichau, der dann 1782 die Übersetzung (wegen der Zensur ohne Namensnennung des Verfassers) unter dem mit Löffler gemeinsam creierten Titel „Versuch über den Platonismus der Kirchenväter Oder Untersuchung über den Einfluß der platonischen Philosophie auf die Dreyeinigkeitslehre in den ersten Jahrhunderten“ veröffentlichte.
Carl Friedrich Ernst Frommann (1765-1837)
Auf der Titelseite ist der Bezug zu Souverains Buch nicht zu erkennen, erst auf S. XXXI der Einleitung nimmt der Verfasser Bezug auf die aktuelle wissenschaftliche Debatte zu diesem Thema, erwähnt auf S. XXXII die Arbeit des Engländers Samuel Clark „The scripture doctrine of the trinity“, London 1712, herausgegeben 1774 in Frankfurt/Main und Leipzig mit einer Vorrede des Hallenser Theologen Semler (deutsch; „Die Schriftlehre von der Dreyeinigkeit“ und die Publikation Souverains, die unter dem vollständigen französischen Titel „Le Platonisme devoilé, ou Essai touchant le Verbe Platonicien“ im Jahre 1700 in Köln erschienen war. Edda kann ihre Freude über die aus ihrer Sicht herausragenden Ergebnisse ihrer mehrtätigen Recherchen nicht verbergen: die eigentliche Anregung zu jenem Engagement des Studenten und späteren Absolventen der Universität Halle an der Saale Josias Löffler in Richtung „Platonismus“ kommt von seinem väterlichen Freund und Lehrer Semler !
Jahrzehnte später hat sich Josias Löffler zur Autorenschaft bekannt – auch zu den radikalen theologischen Positionen, die er als Übersetzer in Fußnoten, Anmerkungen, in der Zusammenfassung (Anhang) vermutlich auch in der Vorrede vertreten hatte.
Edda übergibt mir mit Genugtuung kurzgefasste Thesen zu den Ergebnissen ihrer Recherchen, lässt sich zurückfallen und scheint meine weiteren Ausführungen zu genießen:
Ich möchte an dieser Stelle vorausschicken, dass ich mich nach dem Abschluss der Recherchen zum Löfflerschen Konvolut trotz meines sehr begrenzten theologischen und kirchengeschichtlichen Horizonts an die Lektüre dieser Arbeit Löfflers aus seiner Berliner Periode gemacht habe und mich nun heute frage, was ich am 23jährigen Josias Löffler mehr bewundern soll – die exzellente Beherrschung des Französischen oder die fundamentalen Kenntnisse der kirchengeschichtlichen Details und der philosophischen Theorien in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten.
Doch zurück zu „Esther“, Nicolai und Züllichau. Im Brief klingt verstohlen an, dass „Esther“ sich von den Eltern eine mehrwöchige sommerliche Besuchsreise zur Familie Eiger nach Züllichau auserbeten hatte, vermutlich abgesprochen mit Josias für die Periode, in der er vertrauliche Gespräche mit seinem Verleger über den Souverain führte. Die liberalen Eltern vertrauten ihrer Tochter, sie kannten die Familie der Freundin und erbaten sich nur ab und zu einen Brief.
Der aufgeklärten Esther war seit ihrer Kindheit diese offene, liberale Haltung in ihrer Familie eine Selbstverständlichkeit, sie empfand auch das Bemühen der Eltern, den Söhnen und Töchtern gleichermaßen eine gute Bildung zukommen zu lassen, als natürlich. Aber je älter sie wurde und sich stärker der Geschichte, den geistigen Quellen des Judentums, des Christentums und auch des Islam widmete, desto nachdenklicher wurde sie, desto mehr bewunderte sie den Mut der Großeltern und Eltern, sich der wechselvollen und von Gewalt gezeichneten Geschichte des Verhältnisses von Herrschenden und Juden im Kurfürstentum Bandenburg zu stellen, einen neuen Anfang zu wagen und dem Wort des Landesherrn zu vertrauen. Esther entwickelte eine intellektuelle Neugier auf antike Sprachen, genährt auch durch private Hauslehrer, meist gelehrte polnische Juden, las schon als Kind unter deren geduldiger Anleitung die Werke antiker Autoren, ihres Lieblingslateiners Cicero, durfte an Tischgesprächen mit gelehrten Gästen, Juden und Christen, teilnehmen.
Eltern und Lehrer ermutigten das Mädchen, von Orthodoxen aller Schattierungen gezogene Grenzlinien zu überschreiten, künstlich aufgebaute Tabus zu erkennen und infrage zu stellen. Einer ihrer jüdischen Lehrer aus Bernau hatte den Mut, ihr trotz gegenteiliger Empfehlung der Eltern die tragische Geschichte der Verleumdung und grauenvollen Hinrichtung des damaligen Münzmeisters und fürstlichen Vertrauten Lippold im Jahre 1571 in Berlin in allen Einzelheiten zu erzählen. Esther konnte wochenlang nicht schlafen – hier in ihrer Stadt war das geschehen! Nur wenige Generationen waren vergangen, seit die Nachbarn, Kollegen, auch Freunde, sich über Nacht in Feinde, Mörder, Gewalttäter oder auch nur beifallspendende, die Quäler anfeuernde Zuschauer der Blutorgien verwandelt hatten. Esther war sich sicher, dass im Unterbewusstsein der Eltern und Großeltern jene furchtbaren Tage und die folgenden Wochen der Vertreibung aus dem Kurfürstentum Brandenburg immer präsent sind, obwohl ihre Vorfahren selbst nicht Opfer dieser Unmenschlichkeit waren. Erschreckend musste sie erkennen, dass die damaligen Landesherrn Brandenburgs, gepriesen als Kunstmäzene, als Förderer der aus Italien kommenden humanistischen Strömung der Renaissance-Maler und Bildhauer sich gleichermaßen in einer derartigen Weise menschenverachtend gegenüber den Juden und den sogenannten Hexen und Ketzern verhielten, wie man es seit Jahrhunderten in der Mark Brandenburg nicht erlebt hatte.
Esther fragte sich und ihren Freund Josias, was ein solch aufgeklärter Mensch wie Lessing, den sie aus Diskussionen am Mittagstisch ihrer Familie und Freunde kannte, privat empfand, wenn er bei seinen Vorstudien für die Theaterstücke mit brennend aktuellen Themen seine ästhetischen Erfahrungen von der Italienreise mit dem braunschweigischen Prinzen Leopold der Realität Brandenburg-Preußens gegenüberstellte. Sie hatte bei einer dieser Begegnungen ihren großen Bruder Benjamin gebeten, da sie trotz der aufgeklärten Atmosphäre an der elterlichen Kaffeetafel als Mädchen an den großen Lessing, den Verfasser der berühmten Studie über die antike Laokoon-Skulptur nicht direkt das Wort richten konnte, an ihrer Stelle zu fragen, was er vom künstlerischen Wert, vom bildhauerischen Gewicht des Renaissance-Grabmal des kurfürstlichen Rates Gregor Bagius in der Nikolaikirche halte, vor allem angesichts des sehr befremdlichen Spruchs auf dem Band am Rande: »LUST GEBIERT DIE SUNDE – SUND GEBIERT DEN TOD«. Sie war brennend an der Antwort Lessings interessiert – wie groß aber war ihre Enttäuschung, als sich herausstellte, dass Lessing dieses Grabmal nicht kannte oder selbst in diesem vertrauten Kreis es nicht wagte, seine ehrliche philosophische Meinung zu äußern und die Unkenntnis vorschob.
In den Gesprächen mit ihrem Bruder konnte Esther ihr Bild von der Rolle der jüdischen Bankiers und Unternehmer und ihrer Familien in Berlin durch viele bisher unbekannte Details bereichern: Großen Anteil unter den jüdischen Unternehmungen hatten die Bankiers, Goldschmiede und Diamantenschleifer, die Händler mit den gefragten Genußmitteln Kaffee, Tee und Tabak sowie die Buchdrucker. Mit der Wirtschaftsförderung der preußischen Könige errangen die jüdischen Unternehmer größere Befugnisse und weitreichendere Betätigungsfelder. Bekannte Namen sind die der Bankiers Isaak Daniel ltzig und Veitel Heine Ephraim, der Seidenfabrikanten David Friedländer, Isaak Bernhard und Meyer Benjamin Levi und des Leinenfabrikanten Benjamin Veitel Ephraim. Esther spürte, wie sich bei den Spaziergängen, die Esther ihrem Bruder vorschlug, ihr Horizont erweiterte, wie sich auch Stolz auf die Leistungen ihre „Brüder und Schwestern“ aufbaute:
Das Kontor der Seidenfabrik Isaak Bernhards war übrigens der Arbeitsplatz des Philosophen Moses Mendelssohn; später hatte Bernhard den Buchhalter Mendelssohn sogar zum Teilhaber der Firma gemacht.
Das jüdische Zentrum hinter dem Spandauer Tor, um die alte Synagoge in der Heidereutergasse und in der Spandauer Straße, begrüßte sicherlich die Erweiterung der Geschäftkkontakte und der kulturellen Ausstrahlung über die Grenzen des alten Berlin hinaus nach dem Abtragen der Festungsanlagen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Manche der reichen Juden erwarben Grundstücke, ließen sich Häuser an den neuen Straßen bauen und nutzten die Gelegenheit zu neuen Niederlassungen am Hackeschen Markt und in der weiteren Spandauer Vorstadt.
Aus der Entstehungsgeschichte der selbständigen jüdischen Hochschulbildung und der modernen Forschungstätigkeiten geht hervor, daß die Wohnungen gebildeter und reicher Juden in der Nähe des Hackeschen Marktes zu Keimzellen von Schuleinrichtungen, Forschungsinstituten und vor allem der späteren „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ wurden.
Die territoriale Ausdehnung der jüdischen Schuleinrichtungen und anderer Institutionen der Gemeinde vom Ursprungsgebiet der Spandauer Straße und der Heidereutergasse durch die Rosenstraße und die Straße An der Spandauer Brücke hin zur Oranienburger Straße und zur Großen Hamburger Straße, wo sich schon seit Anbeginn der Friedhof der jüdischen Gemeinde befand, vollzog sich logisch am stärksten und sichtbarsten, als nach dem Abtragen der Festung freier Raum in Richtung Norden und Nordwesten vorhanden war.
(Ein Hinweis am Rande, den ich Edda einige Tage später zukommen ließ: Die Vorstellung, Berlins Salonieren aus der jüdischen Oberschicht wären in den Häusern ihrer christlichen Besucher ebenso willkommen gewesen wie umgekehrt stimmt mit der Realität nicht überein. Beispielsweise wurden Henriette Herz und Rahel Levin nicht ein einziges Mal ins Tegeler Schloss der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt eingeladen, obgleich diese ungezählte Male in den Genuss der inspirierenden Gastfreundschaft beider Frauen kamen. Außerdem gab es Zeitgenossen, welche lautstark ihre Stimmen im antisemitischen Kampf gegen die gesellschaftlichen Aktivitäten der aufstrebenden jüdischen Minderheit und auch gegen die »alles zerstörende, von Juden entfachte Vernunft« erhoben. In seiner Eröffnungsrede vor Mitgliedern der 1811 gegründeten ›Christlich deutschen [Gegen]Tischgesellschaft< sagte Clemens Brentano mit Blick auf die ausdrückliche Verbannung von Juden aus ihren Reihen, jeder könne ››diese von den ägyptischen Plagen übriggebliebenen Fliegen in seiner Kammer mit alten Kleidern« oder ››auf der Börse mit Pfandbriefen und überall mit Ekel und Humanität und Aufklärung, Hasenpelzen und Weißfischen genugsam einfangen«. )
Edda lehnt sich zurück: – mich packt die Müdigkeit, morgen ist auch noch ein Tag, deshalb nur noch dieser kurze Brief von Josias an Semler vom Sommer 1778, zu meiner Erleichterung weder in Griechisch noch in Latein, sondern im zeitgenössischen Saalfelder Deutsch:
Geliebter und gelahrter Meister und Freund, die jüngsten Kenntnisse aus der Residenz werden Eure Ehren im saalischen Halle nicht überraschen – es stinkt hier nicht nur nach Pferdeäppeln auf dem Friedrichsstädtischen Markt, sondern nach dem von Tag zu Tag stärker werdenden Geruch des Pulvers eingepackt in die Cartuschen zum Abschießen der Canons – man kann man dem nicht entfleuchen. Ob es Krieg giebt ? Das Gemunkel nimmt zu, aus dem Schloß kommt keine Negation – so daß meine Pudelnase auch noch den künftigen abgestandenen Geruch der Leichen und der todten Viecher von den Feldern herüber wahrnimmt. Muß ich mich in der Charité insonderheit auf viel Blut vorbereiten, auch als Prediger ?
Dieter Weigert, Berlin Prenzlauer Berg 29. Juli 2023
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Vor kurzem hatte ich Sie zu einem Spaziergang auf dem Alten Garnisonfriedhof an der Linienstraße in Berlin-Mitte eingeladen und ausführlich dargestellt, weshalb das Grabmonument für den im September 1914 für seinen Kaiser den „Heldentod“ gefallenen Leutnant Curt von Kruge mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Werkstatt des Bildhauers Fritz Klimsch (1870 – 1960) stammt. Zur Erinnerung hier nochmals die Abbildung des schwazen Marmorblocks in seinem gegenwärtigen Zustand:
Es gibt eine umfangreiche Literatur zur Biographie und zum Gesamtwerk dieses deutschlandweit bekannten Künstlers, Kataloge zu bedeutenden Einzel- und Kollektiv-Ausstellungen seiner Skulpturen.
Aufsehenerregend die erste größere Publikation aus dem Jahr 1924 aus der Feder des Kunsthistorikers und Berliner Museumsleiters Wilhelm von Bode:
Zwischen dem Erscheinen dieser ersten umfassenden Würdigung und der jüngsten Gesamtdarstellung anlässlich der Ausstellung von Köln im Jahr 1991 liegen über 60 Jahre, die Deutschland tief in seinen Wurzeln veränderten und die im Werk des Bildhauers ihre Spuren hinterließen.
An dieser Stelle soll der Konservatismus in den Arbeiten Klimschs dargestellt werden, vor allem sein Umgang mit den Bedingungen der 12 Jahre des Hitler-Regimes – in einer späteren Untersuchung soll gezeigt werden, wie Biographen und Kunsthistoriker die offensichtliche, vollständige und bewusste Unterwerfung Klimsch unter die Anforderungen der Jahre 1933 – 1945 der bundesdeutschen Öffentlichkeit „verkauften“.
Präludium I: Duisberg und Leverkusen
Carl Duisberg (1861-1935), der bekannte Chef der späteren zum IG-Farben-Konzerns gehörenden Werke Bayer-Leverkusen war schon sehr früh ein Bewunderer der Skulpturen von Fritz Klimsch.
Räkelndes Mächen, 1911, Ausstellung der Berliner Secession, von Carl Duisberg erworben
Der im September 1933 vom Konzern Bayer Leverkusen herausgegebene Prachtband „Kunst in Leverkusen“ stellt über 25 Plastiken, Platzgestaltungen, Brunnen aus dem Atelier Klimschs im Auftrage von Duisberg – zwischen 1912 und 1935 – vor.
Carl Duisberg als einer der Initiatoren der Gründung der IG Farben vermittelt seinem Lieblingskünstler Fritz Klimsch auch nach dem Umzug nach Frankfurt am Main weitere Aufträge – so unter anderem die Wasserspiele „Am Wasser“ in den Anlagen des Verwaltungsgebäudes der Farbwerke Hoechst (IG-Farben 1929).
Die konservative und nationalistische Grundhaltung des Industriellen Carl Duisberg war die Grundlage für die meisten Auftragsarbeiten von Fritz Klimsch in Leverkusen.
Vorgestellt seien hier zwei Themen: die Ehrungen für die militaristischen „Tugenden“des kaiserlichen Heeres und die Porträtbüsten (1916) für die „Heerführer“ des Kaisers:
Zu erwähnen sind (ohne Kontext zu Carl Duisberg) die Porträtbüste des Generals Graf von Schlieffen (1908) und das Grabmonument für General Kluck (1934/35).
Graf von Schlieffen
Präludium II Familie Röchling und die Saar
Die Familie des Saar-Großindustriellen Herrmann Röchling gehörte schon vor dem Ersten Weltkrieg und seit Anfang der Zwanziger Jahre zur Gruppe der extrem nationalistischen Wirtschaftskreise Deutschlands. Schon in dieser Periode kommt es zu Kontakten mit dem Bildhauer Fritz Klimsch. Bemerkenswert ist in diesem Kontext der Auftrag einer komplexen Denkmalgestaltung für den Röchling-Konzern in Völklingen an der Saar schon vor dem Ersten Weltkrieg:
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte die Ausführung des Großprojektes, wie Klimschs Sohn Uli in der umfangreichen Publikation von 1938 „Fritz Klimsch. Die Welt des Bildhauers“ dokumentiert (Abbildung S. 19, Text S. 95).
Ohne weitere Erläuterungen werden durch Wilhelm von Bode in der o.a. Publikation von 1924 drei Arbeiten aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg vorgestellt (Nr. 64-66), die einen Bezug zur Familie Röchling vermuten lassen:
Nr. 66, CHARIS, 1921-23
Auszug aus dem Inhaltverzeichnis der Publikation Wilhelm von Bodes:
Wolfgang Röchling, 1922
Ilse-Röchlin-Heye, 1922
Die wahrscheinlichen Kontakte des Bildhauers Fritz Klimsch zu Angehörigen der Familie des Industriellen Herrmann Röchling im Raum Freiburg/Breisgau nach 1918, die zu den hier gezeigten Skulpturen geführt haben, müssen noch im Einzelnen untersucht werden, auch über die Biographie der Dichterin Ilse Röchling-Heye und ihre Beziehung zu Fritz Klimsch ist bisher kaum etwas bekannt. (Für Hinweise in dieser Richtung bin ich sehr dankbar)
Fritz Klimsch und sein Sohn Uli – an vorderster Front bis 1945
Der Tod von Carl Duisberg im Jahre 1935 hinterließ für den über 60-jährigen Fritz Klimsch eine spürbare Auftragslücke. Der Machtantritt der Hitler-Clique brachte schon nach kurzer Schaffenspause die Erholung- Goebbels selbst wurde privat und als Dienstherr im Propagandaministerium der neue Mäzen, auch beim Erwerb schon früher geschaffener Werke – Goebbels hatte sich im internen Wettstreit mit Göring um diese einträgliche Position durchgesetzt.
Einige Beispiele aus der umfangreichen Liste der Werke Klimschs (zum Teil stammen die Original-Bildunterschriften von Uli Klimsch aus der NS-Zeit):
Ein Beispiel für die bundesrepublikanische „Umschreibung“ der Tatsache, dass es sich um eine von Goebbels bestellte Skulptur im Gebäude des Propaganda-Ministeriums handelt -aus einem Ausstellungskatalog von 1980 (Hannover) :
An diesem Ort sei der Hinweis erlaubt, dass in einer kunsthistorischen wissenschaftlichen Arbeit (Heike Hümme, Künstlerischer Opportunismus in der Malerei und Plastik des Dritten Reiches, Dissertation 2004, Technische Universität Carolo-Wilhelomina zu Braunschweig) ein ausführlicher Nachweis der bewußten und aktiven Unterwerfung Fritz Klimschs unter die stilistischen und ästhetischen Anforderungen des NS-Regimes an die Aktgestaltung (weiblich und männlich) geführt wird. Deshalb werde ich aus Platzgründen auf dieses Thema hier nicht eingehen und empfehle Interessenten das Studium dieser Arbeit.
Dem entscheidenden Einfluß des Ministers Goebbels ist es zuzuschreiben, dass Klimsch nach 1935 – nach einer Phase des gegenseitigen „Abtastens“ – mit größeren Ausstellungen geehrt, mit öffentlichen Aufträgen überhäuft wurde, deren Krönung die Gestaltung des Mozartbrunnens in der „ins Reich heimgeholten“ Stadt Salzburg werden sollte. (Literatur dazu: Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 45, Bd. 7, Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus, S. 480)
Ich verzichte an dieser Stelle auf die Wiedergabe der Porträtbüsten der Hitler, Frick und Co. – sie sind publiziert beim Sohn Uli Klimsch (1938):
Es würde die Geduld des Lesers überfordern, alle Aktivitäten Klimschs und alle Ehrungen, Aufträge (privat und öffentlich) in der NS-Periode darzustellen – dafür stehen die „Reizworte“ u.a. Berghof Obersalzberg bei Berchtesgaden („Kleine Reichskanzlei“), „Führerbau“ München, „Alte Reichskanzlei“ Berlin, Pullach, München, Secession Wien, Halle/Saale, Prenzlau, Quedlinburg.
Nicht unerwähnt aber sollte die „höchste“ der Ehrungen durch die Hitler-Goebbels-Clique bleiben:
Hitler persönlich nannte ihn auf der Sonderliste der „Gottbegnadeten“ unter den 12 wichtigsten bildenden Künstlern jener Periode. Deshalb sei eine detaillierte Wiedergabe der relevanten Namen hier erlaubt:
Abschnitt I: Gottbegnadeten-Liste
Abschnitt I des Dokuments über die für das nationalsozialistische Regime besonders bedeutenden und daher vom Kriegseinsatz freigestellten Künstler trägt die Bezeichnung Gottbegnadeten-Liste und gliedert sich in die Unterabschnitte A. Sonderliste mit 25 Namen und B. Alle Übrigen mit 353 Namen. Der Liste vorangestellt ist ein Inhaltsverzeichnis.
Unterabschnitt A. SonderlistE
Das mit I. Gottbegnadeten–Liste. A. Sonderliste. überschriebene erste Blatt von Abschnitt I enthält folgende Personen:
Mit der Aggression Nazi-Deutschlands 1939 gegen Polen und dem damit ausgelösten Zweiten Weltkrieg erfahren die regimetreuen Aktivitäten des „Staatskünstlers“ Klimsch eine weitere Steigerung. Die Fotos seiner Skulpturen finden sich – selbstverständlich mit seiner Billigung – auf den Seiten der Propagandadrucke für den Frontsoldaten:
im gleichen Heft:
im gleichen Heft:
Werner Rittich (1906-1978, in der Nachkriegszeit Redakteur beim „Hamburger Abendblatt“ !) , einer der kulturpolitischen Chefpropagandisten des NS-Regimes, widmete im Kriegsjahr 1940 in der von ihm mitgeleiteten Propagandaschrift der NSDAP „Die Kunst im Deutschen Reich“ acht großformatige Seiten incl. neun Abbildungen in bester Druckqualität auf bestem Papier dem Künstler Fritz Klimsch zum 70. Geburtstag.
Besser und wahheitsgetreuer als Werner Rittich im Jahre 1940 kann man die „Verstrickung“ des Bildhauers Fritz Klimsch im NS-Regime nicht charakterisieren. Deshalb hier für Fachhistoriker und Pädagogen, deren Anliegen die thematische Auseinandersetzung mit jenem verbrecherischen System ist, der detaillierte Nachweis der Quelle:
Filbingers Großes Bundesverdienstkreuz
Der Rest ist bekannt: demokratische Politiker entscheiden sich 1946 für die Ausweisung des NS-Täters Klimsch aus Salzburg und Österreich. Zurückgekehrt in das unter Besatzungsregime stehende Süddeutschland bemüht er sich um Rehabilitation, wird abgewiesen, doch gute Freunde helfen !
Aus Österreich ausgewiesen, arbeitete er nach einer kurzen Phase des Rückzugs ins Private im Land Baden-Württemberg weiter, wurde als ehemaliges Mitglied der NSDAP und „NS-Belasteter“ von der 1955 neugegründeten Akademie ausgeschlossen, was den CDU-Politiker und ehemaligen NS-Marinerichter, SA- und NSDAP-Mitglied und späteren Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Hans Filbinger nicht daran hinderte, ihn 1960 zur Auszeichnung mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland durch den Bundespräsidenten vorzuschlagen. Die Arroganz des Goebbels-Vertrauten Fitz Klimsch ging soweit, dass er im Jahre 1955 die Ehrung mit dem „einfachen“ Bundesverdienstkreuz zurückwies, es schien nicht angemessen genug für seine „Lebensleistung“!
ERGO: Man trägt ihm das Bundesverdienstkreuz an – er fühlt sich mißverstanden. Wenn schon die Ehrung aus konservativer Gesinnung, dann aber das GROSSE ! So geschiehtt es – der Freundeskreis um Alt-Nazi Filbinger setzt die Huldigung mit dem „Großen Bundesverdienstkreuz“ durch.
Soweit die wirklichen Dinge des deutschen Konservatismus und die Verstrickungen des Fritz Klimsch.
Wie man damit umging und noch umgeht, ist der nächsten Folge zu entnehmen.
Dr. Dieter Weigert Berlin Prenzlauer Berg 27. Juli 2023
Der LINK zur ersten Folge: („Heldentod und trauernde Frau – Fritz Klimsch und die Seinen“)
Einige Tage lasse ich Edda zur Entspannung, dann nehme ich den Textentwurf zur Hand, den ich zur Interpretation der „Berlin-Dokumente“ – vor mir so bezeichnete Gruppe der Briefe, der losen Blätter, der kolorierten Kupferstiche, der amtlichen Schreiben, Notizen ohne Datierung, Verfasser – und beginne zum Entsetzen der lieben Edda zu dozieren: Über zwei Stunden argumentiert Spalding, dann ist der Widerstand gebrochen. Da fragt Löffler nach den Einzelheiten, um welche Stelle ginge es denn? Oberkonsistorialrat Spalding zögert, aber muss Farbe bekennen: ja mein lieber Freund, es ist keine der großen Kirchen in Berlin, es ist etwas Unscheinbares, das aber die Tore für Sie öffnet! Es ist eine Gefängniskirche, die Kirche der Hausvoigtey. Löffler zuckt zusammen – eine Gefängniskirche? Haben wir denn so etwas in Berlin?
Aber natürlich! Ich glaube, sie kennen die Strukturen des lutherischen Oberkonsistoriums noch nicht so genau, dass Sie auf der Stelle zusagen können. Wir haben zwei getrennte Gefängnissysteme in der Residenz Berlin – eines für den königlichen Hof, seine Angehörigen und obersten Chargen im engen Sinne – nur die oberen paar Dutzend sowie die dazugehörigen Domestiquen und dann haben wir ein Gefängnis fürs gemeine Volk. Das erste heißt Hausvoigtey, das zweite heißt Stadtvoigtey.
Er geht zum Regal neben der Tür, öffnet einer der großen Schachtel und legt einige colorirte Stiche auf den Tisch.
-Hier mein junger Freund, das hat mir Nicolai geschenkt, frisch aus der Presse !
Die Hausvoigtey hat im Unterschied zur Stadtvoigtey einen eigenen Prediger. Es handelt sich ja doch immerhin um den königlich-preußischen Hof. Wenn da so ein Prinz oder sein Stallmeister mal über die Stränge schlägt und eingelocht werden muss, dann braucht er Seelsorge auf allerhöchster Ebene. Daran sehen sie schon, dass das kaum eine große Arbeit macht, denn wann schlägt ein Prinz mal über die Stränge und wann erfrecht sich die Wache, ihn ins Gefängnis zu stecken? Ich habe in den letzten Jahren noch keinen solchen Fall vernommen, aber es muss auf dem Papier einen Prediger geben und der muss gut lutherisch sein. Das unansehnliche Gebäude der Hausvoigtey – also des Hausvoigts, des Gerichts und des Gefängnisses – stand bis vor kurzem zwischen dem Schloss und der Domkirche, nach dem Abriß des Doms wurde ein neues Gebäude auf dem Friedrichswerder zwischen der Nieder- und Oberwallstraße errichtet.
In den ältesten Zeiten wohnt der Hofrichter sogar auf dem königlichen Schlosse. Bei dem Bau des neuen Schlosses Anfang dieses Jahrhunderts wurde die Hausvoigtei auf den Werder in die Unterwasserstraße neben der Münze verlegt. Bei Erweiterung der Münze ward sie hierher versetzt, wo bis dahin die Stallungen des Jägerhofes standen – über denselben wohnten sogar einige Jagdbediente. Vorn ist in einem zweigeschossigen Gebäude, die Gerichtsstube, die Wohnung des Hofrichters und ein Saal zur Kirche. Hinten sind auf zwei Höfen Gefängnisse und deshalb steht auf dem ersten Hofe eine ständige militärische Wache.
Ich empfehle beim nächsten Rundgang durch die Stadt eine Besichtigung zumindest von außen. Und was ich noch dazu sagen möchte – zu dieser Prediger-Stelle gehört auch die Seelsorge an der Charité – Sehen Sie die anderen Blätter:
Jetzt hellt sich das Gesicht von Josias Löffler wieder auf: „das klingt ja interessant, aber soweit ich weiß, gibt es dort schon einen reformierten Prediger“ – „Ja, das stimmt, Sie werden dort eine eigene Wohnung haben im Charité-Gebäude. Die Nachbarwohnung hat vor kurzem erst ein reformierter Prediger bezogen, auch ein junger Mann, vielleicht haben sie die Gelegenheit mal mit ihm zu sprechen, aber ihre Hauptarbeit ist das Gefängnis zu betreuen, auch wenn da niemand drin sitzt.
Ihre Kammer liegt auf dem gleichen Flügel wie die des reformierten Kollegen – ich hoffe, Sie vertragen sich!
An Uniformen wird kein Mangel sein:
Also ich sehe ich habe Ihnen nicht zu viel versprochen, es ist massenhaft Gelegenheit und Zeit für ernsthafte Studien, für Publikationen, für wissenschaftliche Gespräche und für dergleichen Wanderungen wie heute durch den Tiergarten mit mir“.
„Wann soll es denn losgehen mit der Gefängnis-Seelsorge?“ Löfflers Stimme hat ihre normale Tonart wiedergefunden – „Zu Weihnachten, wenn die Formalitäten erledigt sind. Sie können sich ja schon mal die beiden Kammern in der Charité ansehen, ich gebe Ihnen morgen ein Schreiben mit. Die Besichtigung des Zellengefängnisses eilt nicht, da wird zurzeit nicht gestorben und nicht gerichtet – soweit ich weiß auch nicht gefoltert!“ Spalding sah man die Erleichterung an, die ihm die Zusage Löfflers verursacht hatte.
Von nun an lud Spalding den künftigen Kollegen zu den weiteren Gesprächen in seine Propstei-Dienstwohnung in der Nikolai-Kirchgasse ein, die vor dem Umzug Spaldings von Barth nach Berlin auf Kosten des lutherischen Oberkonsistoriums aufs Beste hergerichtet und möbliert worden war. Josias Löffler bewundert im Stillen die reichhaltige Ausstattung der zwei Etagen im altehrwürdigen Gebäude am geräumigen Rasenplatz neben der Kirche, versteht die persönliche Einladung als Attribut des bevorstehenden Karrieresprungs und als Vertrauensbeweis des Oberkonsistorialrats und seiner königlichen Vorgesetzten. Er weiß, dass es nun kein Zurück gibt.
Josias sieht die Vertrauensgeste auch als Aufforderung zu einem engeren Verhältnis; er versteht sich nun als Meisterschüler, als „Zögling ersten Grades“ des großen Spalding – und wagt sofort, eine diskrete Frage zu stellen, die sich ihm schon beim Eintreten in das Zimmer aufgedrängt hatte – wie er sich die Vorliebe für Maria Magdalena erklären soll, die gleich dreimal hier im Dienstzimmer des evangelischen Probstes und Oberkonsistorialrats künstlerisch präsent ist.
Der brave Lutheraner Spalding findet nichts besonders Aufregendes an der Frage, hat auf der Stelle – ohne nachschlagen zu müssen – jene Oster-Predigt aus dem Jahre 1538 parat, in der „der große Wittenberger“ die „Sünderin“ und „Büßende“ des katholischen Heiligenkalenders kommentarlos beim Namen nannte. „Der dreiteilige Altar und der einsame Altarflügel stammen übrigens aus Ihrer Heimat, aus dem Thüringischen, Arnstadt und Erfurt, lieber Josias, wie vermutlich auch die Tafel in der Ecke neben dem Fenster.“ Josias konnte seine Überraschung kaum verbergen. Er kannte zwar das Neue Testament in der Fassung Martin Luthers, hatte sich dank der Bemühungen der Hallenser „Väter“ wie Semler und Nösselt auch mit den Differenzen zwischen den Übersetzungen Luthers und den aktualisierten Predigttexten der evangelischen Kirchen im mitteldeutschen Raum und in Brandenburg-Preußen beschäftigt, ist aber nun auf eine solche unverhoffte Begegnung mit der engen Vertrauten des Erlösers nicht vorbereitet. „Sehen Sie sich die Gemälde näher an, lieber Josias, ich freue mich schon auf die textkritische Debatte mit Ihnen – es muß ja nicht gleich heute sein“ – schmunzelte Spalding. Josias näherte sich vorsichtig dem dreiflügeligen Altarbild aus Arnstadt – links vor ihm die Szene mit zehn herbeieilenden Jüngern, in der Mitte die eigentliche Auferstehung: das steinerne leere Grab, flankiert von Petrus und Paulus, dominierend mit Banner der Erlöser, niedergeschmettert am Boden zwei Wächter und rechts die vier Frauen des Neuen Testaments mit ihren Attributen – in der ersten Reihe, gleichrangig mit der Jungfrau Maria, Maria Magdalena mit dem Salbengefäß.
„Mein Lieblingsstück ist jene einsame, leidende Frau am Fuß des Kreuzes“ – Spalding nahm den jungen Kollegen am Arm und führte ihn nach hinten, in eine halbdunkle Ecke des Zimmers, vor eine Holztafel „sie ist dem Erlöser am nächsten, näher noch als Mutter Maria!“ – „Eigentlich ein ketzerischer Gedanke ?“ wagt Josias zu flüstern.
„Sie kommen der Sache näher, junger Freund; man munkelt, daß jene drei Kunstwerke – das letztere sogar aus der Cranachwerkstatt, den fanatischen Bilderstürmern der Reformationszeit von mutigen Männern (oder Frauen) aus den Händen gerissen wurden, ansonsten hätten sie das traurige Schicksal so vieler Gemälde, Statuen, die in Kirchen und Klöstern geteilt, die zerschlagen oder verbrannt worden waren. Über die wundersamen Wege der Rettung dieser drei Stücke und des Erwerbs durch einen meiner Vorgänger hier in der Propstei gibt es nur mündliche Berichte, nichts Schriftliches.“ – Josias konnte sich nicht von der Figur der Maria Magdalena in der dunkler Zimmerecke lösen – „Bin ich einem Irrtum verfallen, Herr Oberconsistorialrath, oder unterscheidet sich nicht doch sehr wesentlich die Gestaltung der Gesichtszüge der beiden Figuren der Maria Magdalena – jener im Auferstehungsaltar und jener der Kreuzigungsszene – kunstgeschichtlich gesprochen?“ „Josias, man erkennt die Sprache des Absolventen der Hallischen Universität, des weiten Blicks des Theologiestudiums, das nicht an den Texten klebt, sondern alle kulturellen Entwicklungen einschließt! Natürlich sind zwischen dem dreiflügeligen Altar und der Holztafel aus der Wittenberger Werkstatt der Cranachs etwa einhundert Jahre Unterschied in der künstlerischen Wahrnehmung und der Gestaltung. Aber sehen Sie sich auch das Haupthaar der Maria Magdalena an, lang wallend über die Schultern, über den Rücken bis zu den Lenden jene Frau schmückend, die zu Füßen des Gekreuzigten kniet und den Holzbalken des Kreuzes im Schmerz umfaßt, lebendig, natürlich, den Betrachter ergreifend ! Währenddessen das Haupthaar der Frau auf der rechten Altartafel aus Arnstadt, vermutlich Mitte des 15. Jahrhunderts, züchtig unter einer Haube fast verschwindet und die weiße Haube durch den goldenen Heiligenschein erdrückt wird! Die Gesichtszüge sind steif, unnatürlich, starr wie auch die Hände.“
Spalding nimmt eine Bemerkung Löfflers, aus der er eine gewisse Verunsicherung über den möglichen Verlust der wissenschaftlichen Zukunft herausliest, zum Anlass, auf seinen eigenen Lebenslauf hinzuweisen: „Sehen sie mein lieber Freund, mein junger Kollege im spe, mir wurde an der Wiege nicht gesungen, dass ich Probst einer großen Kirche in Berlin sein werde, Mitglied im Oberkonsistorium, angesehener Buchautor, theologischer Berater des Königs, Bewohner einer hochherrschaftlichen Residenz und zu entscheiden habe über die Zukunft meiner jungen Kollegen, Kandidaten wie Sie es sind für künftige Positionen in unserer gemeinsamen Kirche. Wie sie wissen, komme ich aus Pommern, damals noch Schwedisch. Mein Vater war ein sehr engagierter Pastor in der schwedischen lutherischen Kirche, er schickte mich auf das Gymnasium in Stralsund mit der Vorstellung, ebenfalls ein guter Pfarrer zu werden. Ich erfüllte seine Anforderungen – ich hatte im Unterschied zu Ihnen das Glück, dass mein Vater mich beraten konnte und dass ich mich an meinem Vater festhalten konnte in Situationen wo die Schule, das Studium an der Universität nicht so lief wie ich mir das vorstellte. Sie sind jedoch als Waise an eine gute Schule in Halle gekommen, hatten das Glück mit den Professoren Semler und Nösselt zusammen zu sein, deren Bibliotheken, deren Häuser nutzen zu können. Ich musste mir vieles selbst arbeiten, aber hatte immer den Traum, Pastor in einem in einer kleinen Stadt Pommerns nahe bei den Menschen zu sein, Gottes Wort im Miteinander zu lehren, zu vermitteln. Die Kanzel war für mich ein Tisch, an dem auf der anderen Seite der Gläubige sitzt, die Kanzel war nie etwas, was ich als Belehrungstisch von oben herab ansah.
Am liebsten saß ich unter den Menschen in einer Gruppe, versuchte ihre Fragen zu verstehen, ihre Zweifel, das hat mich befriedigt und auch das Studium in Rostock und Greifswald, das Studium der Philosophie der Theologie der alten Sprachen hat mich nicht von den Menschen weggebracht, sondern noch mehr an sie herangeführt.
Auch ich war privater Hauslehrer und habe als Hauslehrer die kostbare Freizeit genutzt, mich theoretisch weiterzubilden und den Traum der Doktor-Promotion zu realisieren. Ich habe es niemals versäumt oder abgelehnt, Tätigkeiten anzunehmen, die scheinbar einen Umweg bedeuteten zur Erreichung meines Traums, den Menschen das Wort Gottes direkt mündlich nahe zu bringen.
Ich habe selbst eine Situation wie die des Sekretärs eines schwedischen Gesandten in Berlin immer gesehen als Möglichkeit mein Wissen zu erweitern, meine praktischen Lebenskenntnisse zu vertiefen. Ich war glücklich über solche Tätigkeiten und habe nebenbei geschrieben, auch schon publiziert. Mein erstes Buch, die „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ konnte ich natürlich auch nur anonym veröffentlichen lassen – die preußische Zensur hätte es in der Luft zerrissen, weil es nicht von Gott Heil handelte, sondern von der Vervollkommnung Menschen. Das Individuum erreicht sein Glück über die Sinnlichkeit, über das Vergnügen des Geistes, über Tugend und auch Religion, aber nicht durch Offenbarung, sondern durch tugendhaftes Leben, so wie ich es bei Leibniz und Christian Wolff gelesen hatte.
Ich hatte das Glück, einen Menschen als Freund zu finden wie unser Väterchen Gleim in Halberstadt, der meine ersten Schritte als Pastor in der Kleinstadt Lassan In der Nähe von Stralsund begleitete. Er hat mich motiviert, er hat mir Mut zugesprochen, hat mich ermuntert. Wir haben meine Fehler lange Nächte diskutiert, die ich gemacht habe in meinem jugendlichen Überschwang. Das kleinstädtische, das Dörflich-Gemeinschaftliche dieser pommerschen Umwelt, nicht die Nähe des Hofes, sondern der Umgang mit ganz normalen Menschen hat mich zu dem Menschen gemacht der ich heute bin – Gott in den Menschen und in ihrer täglichen praktischen Umwelt suchend und nicht in theoretischen Debatten.“
Josias hatte mit 24 Jahren durch sein Ja zum Angebot von Spalding die Tür zu einer neuen Etappe in seinem Leben aufgestoßen – auf eigenen Füßen stehen, wichtige Entscheidungen treffen und in allen kommenden Situationen zu ihnen stehen, das heißt einen hohen Grad an Selbstdisziplin entwickeln, noch höher als an der Schule und beim Studium.
Ich nahm eine der Urkunden zur Hand, die ich zwar schon unter den abgeschlossenen abgelegt hatte, suchte darin nach Hinweisen auf sehr Persönliches, Individuelles des Menschen Josias in jenem ersten Jahr in Berlin. Es war ein amtliches Schreiben Spaldings vom 2. November 1776 über ein Gespräch mit Löffler in Berlin, unten links die zustimmenden Zeilen von drei Kollegen. Der Text war einigermaßen lesbar:
„Eben itzo hat sich der Candidatus Theologiae, Hr. Löffler, der schon verschiedene Jahre hier in Berlin eine Informationsstelle verwaltet hat, wegen der Predigerstelle an der Hausvogtey bey mir gemeldet und wird auch bey meinen Hochgelahrten Herren Collegen zu Ihnen an dem heutigen Tage nicht beschwerlich zu werden, morgen sein Gesuch persönlich anbringen.
Da er wegen seiner vorzüglichen Geschicklichkeit sowohl als Bescheidenheit unter unseren besten Candidaten gehöret, und wir überdem schon in Verlegenheit sind ein anderes taugliches Subject zu finden, so halte ich ihn an meinem Theile für sehr ansehungswürdig. Er wird aber vorher noch eine Probepredigt zu halten haben, welche allenfalls am bevorstehenden Freytage geschehen kann.“ Von den zustimmenden Zeilen der Kollegen, vermutlich Mitglieder des Oberkonsistoriums, sind die des dritten Herrn besonders beachtenswert, da er sich keinen besseren Candidaten als Löffler vorstellen kann – Herr Nummer zwei verspricht seinem Chef Spalding den Besuch der Probepredigt, um sich ein Bild des Candidaten machen zu können.
Beim heutigen nochmaligen Studium dieses Schreibens erkenne ich auch den Zusammenhang mit jenes Königlichen Schreibens vom 28. November 1776 an Spalding:
„Von Gottes Gnaden Friederichs König von Preußen … p.p.p.
Unseren gnädigen Gruß zuvor Würdiger Hochgelahrter Rath, Lieber Getreuer!
Demnach der zum Gefangen Prediger bey der Hauß Voigtey berufene Candidat Loeffler dato darauf confirmirt wurde, also befehlen wir Euch hiermit allergnädigst, denselben gewöhnlichen Maaßen zu introduciren und seine Zuhörer zur gebührenden Pflicht und Achtung gegen ihn anzuweisen.“
Keine formale Hürde, keine Prüfung blieb Josias Löffler erspart – am Beginn der Laufbahn eines Pfarrers stand im protestantisch-lutherischen Preußen die Predigt-Erlaubnis, ausgestellt vom Ober-Konsistorium, nachdem der Kandidat eine Prüfung abgelegt und eine öffentliche Probepredigt unter den Augen der Mitglieder dieses Gremiums gehalten hatte. Spalding hatte in weiser Voraussicht und im Rahmen seiner Personal-Politik jene Prüfung und das erste öffentliche Auftreten Löfflers schon für den Sommer 1776 eingeplant, so dass die Prüfungs-Urkunde das Datum vom 5. September trägt, also lange bevor Spalding die ersten Gespräche mit Löffler führen wird.
Man geht nicht fehl, wenn man dahinter nicht die leitende Hand des Ministers von Zedlitz in Absprache mit dem König vermutet. Sie überlassen die wichtigen Personalentscheidungen nicht dem Zufall, nicht tagespolitischen Erwägungen, sondern treffen solche Entscheidungen in strategischer Sicht. Kirchenpolitik ist für die Majestät eben auch Politik, nicht Geplänkel – Jeder mag nach seiner Facon seelig werden – aber ihm abgesteckten Rahmen der königlichen Strategie.
Eine Abschrift jener Prüfungs-Urkunde habe ich mir inzwischen besorgt – ein einmaliges Dokument: „Predigterlaubnis Licentia Concionandi, 5. September 1776, Ober-Consistorium Berlin …
Nachdem der Studiosus Theologiae Josias Friedrich Christian Löffler aus Saalfeld gebürtig, zu Erlangung der Erlaubnis zu predigen, von denen dazu bestallten Examinatoren wie gewöhnlich geprüft worden und dabei sich nichts hervorgetan, weshalb ihm die gesuchte Erlaubnis zu predigen versagt werden könte, so wird darüber und daß derselbe licentiam concionandi erhalten, gegenwärtiges testimonium unter des Ober-Consistorii Insiegel hierdurch ertheilt, auch derselbe zugleich angewiesen, bey dem Inspektori zu dessen Diceces der Ort seines Aufenthalts gehört, sich zu melden und hiernächst, wann er diese Inspektion verändern sollte, sich mit dem Zeugnisse seines bisherigen Inspectoris, bey demjenigen wieder zu melden, unter dessen Inspektion er alsdann sich begibt. Berlin, königlich preußisches evangelisch-Lutherisches Ober-Consistorium Hagen
Es ist kurz vor Feierabend, ich mache Odnung auf meinem Tisch. Zwischen zwei Urkunden liegt ein Brief, von „Esther“ an „Josias“, ohne Datum, ohne Familiennamen, mit zerbrochenem, daher nicht mehr entzifferbarem Siegel, zwei engbeschriebene Blätter, Vorder- und Rückseite genutzt, der Inhalt für damalige Verhältnisse sehr intim und verblüffend wissenschaftlich und weltanschaulich! Was soll ich damit anfangen? Wie soll ich ihn einordnen, darf ich ihn der Öffentlichkeit preisgeben? Ich versuche, den Brief mit einigen anderen Einzelpapieren in Verbindung zu bringen, vergleiche Namen, Daten, Bezug zu historischen Ereignissen. Erfolglos.
Edda sieht auf den ersten Blick, dass mit mir etwas nicht stimmt. Fraulicher Instinkt. Wortlos reiche ich ihr den Brief hinüber. Sie wendet und dreht und sucht nach Blatt zwei. Sie bittet um Vertagung, möchte aber an der Sache dranbleiben. Drei Tage später hat es „gefunkt“: das Bauchgefühl triumphiere wieder einmal über den nüchternen Verstand, sie sei einer Liebensgeschichte auf der Spur! Einer Liebesgeschichte unseres heiligen Josias! Ob sie vortragen dürfe.
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Es ist Anfang November – später Herbst – geworden, wir müssen schon in unserem Dachkämmerchen die Heizung voll aufdrehen. Edda war es gelungen, mir die Zusage abzuringen – trotz starker Brandschutzbedenken –, einige echte Kerzen aufzustellen, so dass eine freundlichere Arbeitsatmosphäre entstanden war.
Aus den unterschiedlichsten Belegstellen der Dokumente des Konvoluts, an den Rand mancher Papiere und Briefe mit fremder Hand gekritzelten Bemerkungen, offiziell angeforderter Anlagen zu Aktenstücken, im Nachhinein geschriebener Erinnerungen aus der Feder von Josias Löffler selbst konnte ich mir in den Wochen in Zusammenarbeit mit Edda ein Bild machen von jener Situation, in die der junge Absolvent der Universität Halle an der Saale hineingeworfen wurde bei seinen ersten Begegnungen mit der königlich-preußischen Residenz Berlin Mitte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts.
Friedrich II.
Die Hallischen Überväter Semler und Nösselt hatten es geschafft, den ungestümen Saalfelder Jungen für den Ernst des studentischen Lebens hinzubiegen, so dass Josias mit 22 Jahren, zu Johannis 1774, in unserem heutigen Kalenderverständnis im Juni, die Universität beenden konnte. Vorher, zu Ostern, war er auf Anraten Semlers mit einigen Adressen, die er ihm in die Manteltasche gesteckt hatte, nach Berlin gereist. Schon die erste Adresse war ein Erfolg: im Haus von Oberkonsistorialrat Teller gab es nicht nur eine Übernachtung und gutes Frühstück, sondern auch das nicht auszuschlagende Angebot einer Hauslehrerstelle bei einem reichen Kaufmann, beginnend im September.
Die Bekanntschaft mit der preußischen Residenz war für den provinziellen Thüringer in den ersten Wochen ein kulturelles Erdbeben – das Betuliche, Behagliche des Saalfelder Lebens; das Abgehobene, in der Gottesgelahrtheit Schwebende der Universität Halle war über Nacht dem lauten Treiben der ausgedehnten Berliner Magistralen gewichen. Josias brauchte einige Tage, die Weitläufigkeit der Plätze und Märkte der Friedrichstadt zu verdauen, das Gigantische des königlichen Schlosses am Lustgarten nicht mehr als Bedrohung zu empfinden, die junge Lindenallee in Richtung Charlottenburg anzunehmen. Dennoch – es war die Stadt des großen Friedrich, die ihn vom ersten Tage, ja von der ersten Stunde an in den Bann zog!
Zeichner: Daniel Chodowiecki
Schnell hatte Josias das Netzeknüpfen begriffen: Semler kannte Teller, Teller war eng befreundet mit Propst und Oberkonsistorialrat Spalding, Spalding hatte über Minister von Zedlitz und dessen Staatssekretär Biester Zugang zur Majestät, letztlich entschied der König persönlich – die besten Hallenser Absolventen waren begehrt in Berlin, als Privatlehrer, als Prediger, als Juristen, als Ärzte, auch als Feldprediger im Heer.
Josias erkannte, dass insbesondere der Oberkonsistorialrat Johann Joachim Spalding ihn beobachtete. Man traf sich bei den Predigten in den altehrwürdigen Hallen von St. Nikolai und St. Marien, in den Bibliotheken, bei den gutbetuchten Eltern der Privatschüler, die vor allem in den antiken Sprachen und der Kirchengeschichte durch die jungen Hallenser Absolventen eine Erweiterung des Schulstoffes erfuhren.
Noch in Halle hatten seine beiden Mentoren Semler und Nösselt dem Absolventen Löffler wärmstens den Ratschlag ins Reisegepäck gesteckt, sich in Berlin an den Oberkonsistorialräten Wilhelm Abraham Teller und Johann Joachim Spalding zu orientieren, wenn ihm an einem Fortkommen in der Residenz gelegen sei. Josias entnahm den ausführlichen Erzählungen, dass e seine sehr enge, freundschaftliche, ja fast intime Bekanntschaft der Hallischen Professoren mit den führenden Berliner Kirchenleuten bis in die höchsten ministeriellen Kreise gab – bis in die Vorzimmer des Königs.
So hatte ihm in einem vertraulichen Gespräch Nösselt lachend und in aller Ausführlichkeit und Breite erzählt, wie er als junger Student im Jahre 1754 gemeinsam mit dem jetzigen Minister von Zedlitz in einer auf Spezialorder des Königs in höchster Eile kompilierten Vorlesung des bedächtigen und trockenen Philosophieprofessors Meier gesessen habe und sich beim Anhören des offensichtlich nur angelesenen und nicht verarbeiteten Sammelsuriums der erkenntnistheoretischen Ansichten von John Locke verstohlen vertrauliche Blicke der Missbilligung mit Zedlitz ausgetauscht habe. Noch Tage später hätten Zedlitz und er ihr Unbehagen und ihre scharfe Kritik an einer solchen Prozedur privat ausgetauscht und darüber hinaus mannigfaltige Berührungspunkte in ihren weltanschaulichen Positionen gefunden.
Nösselt hatte bewusst darauf verzichtet, seinem Lieblingsstudenten und Privat-Assistenten Löffler moralisierend eine „Lehre fürs Leben“ mitzugeben – den Weg zum jetzigen Minister von Zedlitz in Berlin müsste Löffler schon selbst finden. Lächelnd hatte er aber noch ergänzt, dass insgesamt nur vier Studenten die auf königliche Order zustande gekommene Vorlesung von Meier besucht hatten und Professor Meier dieses Thema niemals wieder berührt habe.
Johann Erich Biester
In den Ostertagen des Jahres 1774 – wir wissen es aus einem nachgelassenen Brief Johann Erich Biesters an seine Lübecker Freundin Luise Haake vom 27. Juli 1776 aus Berlin, der durch einen der nicht seltenen Zufälle in unserem Archiv gelandet war – war es auch zu einem Gespräch Löfflers mit dem frisch promovierten Dr. jur. Biester im Gasthaus Zum Schwarzen Adler in der Berliner Poststraße gekommen, vermittelt durch den Vater eines Löffler anvertrauten Privatschülers. Ich suche den Brief nochmals heraus und bitte Edda, ihn vorzulesen, um mich konzentriert mit nunmehr geschultem Blick für das Berliner „Geflecht“ der jungen Akademiker Löffler und Biester der historischen Situation widmen zu können:
„Luise, mein geliebtes Täubchen, die elende Warterey hat ein Ende!!! Noch ist es nicht offiziell, aber du bist die erste, die vom angehenden Geheimsekretär des Ministers die geheime Nachricht von seiner geheimen Bestallung im geheimen Büro erhält – bitte aber geheim zu betrachten bis auf Weiteres!!! Offiziell wird es Staats Secretair heißen, aber der alte Fuchs von Zedlitz, der mich mit dem geschulten Blick des Kenners persönlich aus der Gruppe der Männer mit großen Ohren, geschlossenen Mäulern und unersättlicher Wissensbegierde erwählte, machte mich zum Anwärter für Höheres, läßt mich aber vorerst nur Probestückchen meines Talents abliefern, die hoffentlich der Majestät zusagen werden.
In Berlin weiß es bisher nur mein alter Freund Josias Löffler, mit dem ich am Ostersonntag 1774 auf einer Bank am Spreeufer gegenüber dem königlichen Schloß Zukunftspläne schmiedete. Er war aus Halle herübergekommen, um sich nach einer Stelle als Privatlehrer umzusehen, war auch glücklich gelandet, so daß wir gemeinsam den Tintenkleksern der Residenz an beiden Ufern der Spree tüchtig einheizen können. Das Schloß fand er übrigens gar nicht so beeindruckend – es sei Gigantomanie, aufgeblasen, wirke kalt und tot. Er, Josias Löffler, habe nach kurzer Wartezeit in den privaten Schulräumen bei Bankiers und Handelsleuten eine königliche Predigerstelle erhalten, ich aber, wie du weißt, hatte weniger Glück, reiste im Mecklenburgischen herum, unterrichtete um des Broterwerbs willen störrische Adelssprosse, antichambrierte wieder in Berlin. Zwei schlimme Jahre, aber doch gefüllt mit Erfahrungen und endlich der Bekanntschaft des lieben Nicolai, dessen Bibliothek und Befreundetsein mit einflußreichen Hofbeamten nun Gottseidank Früchte trägt …“
In der Geschichte versunken, bitte ich Edda um etwas Geduld, bevor wir uns an Biester und Zedlitz heranmachen. Ich würde sie, die inzwischen eng Vertraute meiner Recherchen, gern in jene Gedanken einführen, die mir nach dem Durchblättern anderer Briefe Löfflers an Bekannte in Halle gekommen waren und die doch ein authentisches Bild der „Anfängerjahre“ des jungen Theologen Josias in der königlichen Residenz vermitteln:
An einem noch warmen, trockenen Oktoberabend 1776 bittet der Probst der Berliner Marienkirche Spalding – weißhaarig, mir einem goldbelegten Stock in der Linken, den rechten Arm auf gute schottische Art hinter den Rücken gelegt – den jungen Löffler zu einem Spaziergang in den Tiergarten. Er lässt sich von Josias über die Fortschritte bei dessen Studium der Kirchenväter berichten, zu dem er ihm ernsthaft vor zwei Jahren für die freien Abendstunden nach dem doch nicht allzu anstrengenden Unterricht mit den Privat-Zöglingen geraten hatte, verfällt dabei wie in Gedanken versunken ins Latein, freut sich im Stillen über die glänzende Parade des Zöglings, schlägt sich an die Stirn: „Ach mein Lieber, nun bin ich gar ins Antikische abgerutscht, bitte verzeihen Sie die Altersschwachheit! – Aber da wir nun schon mal vom Pfade abgekommen sind, auf die Wege des Herrn gelangt sind – Was halten sie denn, junger Freund, von einer Predigerstelle in Berlin? Es wird Zeit dafür, ansonsten ersaufen Sie im Sumpf des alltäglichen Trotts in den Familien der Wohlhabenden und kleinkarierten Hofbeamten !
Da wird zu Weihnachten eine Stelle frei, für die ich Sie wärmstens beim Minister empfehlen möchte – vorausgesetzt sie machen mir keine Schande und eine Schande wäre schon nach reiflicher Überlegung eine Ablehnung. Im Übrigen – der Minister erwartet von mir derartige Gefälligkeiten. Vergeben sie mir die Offenheit. Aber so ist das Leben, so ist das Leben im Oberkonsistorium; solche Sachen werden ja nicht lange hin und hergeschoben, solche Sachen werden in kürzester Zeit entschieden! Sie, Josias Löffler, gelahrter Absolvent bei Semler und Nösselt in Halle, stehen bei mir ganz oben auf der Liste.“ Er nimmt Löffler vertraulich am Arm: „ Lassen sie uns in einer Woche am selben Ort wieder darüber sprechen, da kann ich Ihnen mehr sagen. Vorher verlangt es die Geheimniskrämerei in diesem Konsistorium, dass ich Ihnen nichts genaues sagen möchte. Aber es ist in Berlin, es ist eine schöne interessante Tätigkeit als Prediger, nicht an einer Schule und nicht privat, sondern öffentlich und sehr nah am Hofe – das kann ich hier und heute schon sagen. Mehr noch nicht – schlagen Sie in den nächsten Tagen mal bei Christian Wolff nach, Sie wissen schon – Vollkommenheit und ähnliche Sujets!“
Als sie sich getrennt hatten, ist Josias Löffler hin und her gerissen. Das war nicht sein Lebensplan, die trockene Theologie, das Predigen in den Kirchen, die Seelsorge. Lehrer wollte er werden, Kinder und Jugendliche erziehen, ihnen Bildung für das ganze Leben vermitteln. Aber er wusste, wenn er Spaldings Angebot ausschlug, war seines Bleibens in Berlin nicht mehr sicher. Ohne feste Stellung, ohne Zuspruch und Föderung durch Spalding und seinen Kreis landete er in der Mittelmäßigkeit – und er könnte vor allem – was er ihm für die Laufbahn noch fehlte – nicht publizieren. Er hat gerade ein neues französisches Buch auf seinem Tisch über die Kritik an der Orthodoxie, über das Verhältnis der Kirchenväter zur griechischen Philosophie, zu Platon, das reizte ihn ungeheuer. Vielleicht findet er einen Verleger, Berlin hat unendliche Mengen an Verlagen. Über seine Freunde könnte er vielleicht an den bekannten Friedrich Nicolai herankommen.
Ihm sind die Worte Nösselts und der anderen der väterlichen Freunde in Halle im Ohr und leuchtend vor Augen: Spalding ist unsere Speerspitze in Berlin und unser Schirm! Seine Stellung verdankt er seinem Fleiß, seiner Weltsicht und seinem literarischen Vermögen! Wenn du etwas erreichen willst, übe dich unter seiner Anleitung im Ausdruck, schriftlich wie mündlich, beeindrucke die gelehrte Welt schon in deiner Jugend durch Veröffentlichungen, über die man spricht so wie es Spalding durch seine „Bestimmung des Menschen“ schaffte.
Ihm wurde während der Studienjahre ebenfalls schon früh klar, wie dicht und fest die Verbindungen der führenden theologischen Vordenker der Aufklärung, der so genannten Neologen, in Berlin, Halle, Magdeburg geknüpft sind. Obwohl er nicht hinter alle Kulissen schauen konnte, erkannte er, dass sie nicht als einsame Gründerfiguren, Universitätsprofessoren oder Schulhäupter auftraten, sondern als Persönlichkeiten einer immer mehr um sich greifenden Bewegung, die die Stärkung individueller religiöser Mündigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte – unter dem Schutz mächtiger Fürsten, ab 1740 sogar unter dem Schutzschirm des preußischen Königs Friedrich II. Alle Erwägungen überzeugen jetzt den jungen Josias Löffler, dass er sich durch Zögern oder gar Ablehnung des Angebots der führenden preußischen Kirchenoberen seine Zukunft verbauen würde. Er lässt sich die Einzelheiten des Angebots erklären und erklärt offiziell seine Bereitschaft, mit sofortiger Wirkung in den Dienst des Oberkonsistoriums in Berlin treten. Im Stillen glaubt er nur an eine zeitlich begrenzte Tätigkeit, die ihn in die Nähe des Hofes bringt. Er könne weiterhin seine privaten Unterrichtsstunden bei den Reichen und Mächtigen ableisten, er könne privat historischen Studien betreiben und größere Veröffentlichungen vorbereiten.
Zu Hause angekommen in seiner kleinen Dachstube machte er sich sofort an die Übersetzungsarbeit dieses Franzosen und es ging ihm zügig von der Hand.
Morgen würde er versuchen an Nicolai heranzukommen, der hatte ihn schon mal angesprochen wegen einer Arbeit von Moses Mendelssohn, für die er einen Bearbeiter suchte. Vielleicht reizt den Nicolai diese Übersetzung. Und den Wolff und nebenbei den Leibniz hatte er nicht vernachlässigt – da war Einiges, das er seit den ersten Hallischen Tagen mit sich unerledigt herumschleppte.
Publikation Löfflers bei Frommann in Züllichau (Neumark)
Die Woche verging im Fluge. Auch das Wetter spielte mit, die Linden verloren im Abendwind ihre Blätter, gelb und braun mit leichtem rötlichen Schimmer wirbelten sie um ihre Füße.
Ohne gefragt zu werden entwickelt Josias Löffler beim nächsten Spaziergang Spalding gegenüber seine Bedenken; er glaubt das sei die beste Taktik. Er weiß, dass Spalding keine Jasager und Duckmäuser liebt; Spalding liebt Leute mit Verstand und mit eigenem Kopf und wenn ein junger Mann ihm auf ein so glänzendes Angebot mit Bedenken kam, dann reizt ihn das auch zum Widerstand. Der Herr Oberkonsistorialrat sollte erkennen, dass der Widerstand Löfflers nicht gespielt ist und er müsse schon das gesamte Repertoire der erfolgversprechenden Überzeugungsinstrumente auspacken: die Hoffnung auf eine glänzende Zukunft, eine interessante Tätigkeit und auf viele Kontakte und Bekanntschaften vielleicht auch Reisen, vielleicht auch eine Professur an der Universität – vielleicht Halle, vielleicht Frankfurt – denn was ist ein Universitätsprofessor anders als die höchste Form des Lehrens, des Bildens, des Unterrichts.
Mitten in meine kunstvoll gestrickten Darlegungen platzt ein fremdes Geräusch – Edda war zusammengezuckt und rot geworden, ihr Täschlein war vom Tisch gefallen, Zeichen der Langeweile oder Müdigkeit? Also Pause, keine Überforderung !
Dr. Dieter Weigert 25. Juli 2023
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Folge 4: An des buckligen Königs Universität und unterm Dach der Halloren
König Friedrich I., Gemälde von Samuel Gericke 1701
Der Kurprinz Friedrich:
„War er wirklich bucklig, der erste preußische König?“ Edda hat vor sich einen miserablen Schwarz-Weiß-Druck des bekannten Gemäldes von Hofmaler Samuel Theodor Gericke aus den Jahren unmittelbar nach der Krönung in Königsberg. „Lies‘ doch mal bei Vehse nach!“ – Ich hätte mir auf die Zunge beißen mögen, wie konnte ich der lieben Edda aus dem Vorzimmer des Landrates so unverblümt ihre historischen Bildungslücken vorhalten. Ich nahm den Ersten Band des alten Kumpels Eduard Vehse aus dem Regal hinter mir, schlug die Seite über die Nachkommen des Großen Kurfürsten auf und bat Edda, die entsprechenden Zeilen laut zu lesen: „Kurfürst Friedrich III., der spätere König Friedrich I., war 1757 zu Königsberg geboren. Er war von Person schwächlich, und man glaubte nicht, daß er ein hohes Alter erreichen werde; auch litt er sein ganzes Leben lang an Engbrüstigkeit. Seine Amme hatte ihn als Kind rücklings vom Arme fallen lassen, davon war er verwachsen; er trug, um seinen krummen Rücken zu verbergen, eine sehr große Perücke.“ Edda betrachtet die Kopie – schüttelt den Kopf. Ich greife nochmals hinter mich, bekomme den richtigen Band aus der meiner privaten Reihe „Berlin-Archiv“ zu fassen und legen einen guten Farbdruck des Gericke-Gemäldes auf den Tisch – der König auf dem Thron im Jahr 1701 ! Und da ist auch das andere Gemälde – von eben diesem Gericke, das den Friedrich, den Buckligen, als Kurprinzen zeigt, also vor 1688. „Nun kann ich den schiefen Rücken fast fühlen, welch‘ ein chickes brünettes Gelöck und wie der weiße Pelz die Schultern gerade zieht!“, Edda hatte ein mitleidiges Gesicht. „Aber was ist mit der Hallenser Universität? Deshalb fesselt der krumme Friedrich uns noch!“ – Ich blättere einige Seiten weiter bei Vehse: „Darf ich es diesmal selbst, in jener poetischen Sprache des leidenschaftlichen Historikers vorlesen? – Edda nickt – „Mit vier Schöpfungen hat Friedrich, wenn auch gleichsam nur instinktiv vorbildend, die nachfolgende Größe des preußischen Hauses gegründet … die Königswürde, die Akademie der Wissenschaften, die Universität Halle und der prächtige Schloßbau zu Berlin.“ – „Du erkennst liebe Edda, fünfzig Prozent der Leistungen – nach Vehse – haben die Prüfungen der 300 Jahre Geschichte bestanden und strahlen noch heute an unserem Himmel.“ – „Mehr Worte hat er nicht, dein Idol Vehse, zur Hallenser Universität, die doch unseren Josias Löffler so prächtig geprägt hat?“
Am nächsten Morgen das kaum versteckte triumphale Lächeln Eddas – „es gab doch einmal in der fast unendlichen Geschichte der Fürsten unserer nördlichen Breiten einen Fast-König mit dem Beinamen „der Bucklige“, einen außerehelichen Sohn Karls des Großen mit Namen Pippin, der aber schon vor der möglichen Krönung als fränkischer König verstorben war! Pépin le Bossu nannten ihn die französischen Karolinger.“ Neidlos küsste ich Edda auf die kluge Stirn, ihr kühler Blick zwang uns aber zur nüchternen Arbeit …
Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgangen sein – aus der Reise an die Oder ist leider noch nichts geworden. Halle an der Saale hat den Vorzug.
Aber Frankfurt brennt in mir. Die Beschäftigung mit den Pastoren an der Marienkirche und dem Schicksal des Nonnenwinkels lässt mich nicht los. Seit mehr als zwei Jahrhunderten verbindet nun der mystische Nonnenwinkel am westlichen Ufer der Oder, sein steinernes Zentrum, die Marienkirche, die Namen dreier lutherischer Pastoren Frankfurts mit dem Schicksal des Dichters Heinrich von Kleist – Josias Löffler, Christoph Plothe und Carl Samuel Protzen.
Kleist und Löffler wirken über die Grenzen der Oderregion hinaus – Plothe und Protzen jedoch verlassen ihre angestammte Heimat nicht, so verwundert es mich nicht, dass bis auf eine Ausnahme aus den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts beide Frankfurter Pastoren der Marienkirche in den professoralen biographischen Kleist-Abhandlungen nicht erwähnt werden. Die Ausnahme – der in Potsdam und Brandenburg bekannte Klaus Günzel nennt 1984 in seinem Kleist-Lebensbild (Verlag der Nation, Berlin) Carl Samuel Protzen als Feldprediger, der Kleist in der Frankfurter Garnisonkirche taufte.
Die doppelbändige Gesamtausgabe von dtv aus dem Jahre 2001 „Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe“ verweist im Personenregister auf C. S. Protzen und die damit verbundene Quelle (Teil II, S. 471) – den Brief Kleists an Schwester Ulrike vom 25. Februar 1795: „Und nun noch ein paar Worte: ein Auftrag, mich der gnädigen Tante, der Fr. und Frl. v. Gloger, dem Protzenschen Haus, der Bonne, Martinin, Gustchen, mit deren Brief ich für diesmal nicht ganz zufrieden bin, und allen meinen Geschwistern zu empfehlen …“ Soweit ich erkennen kann, hat sich bisher keiner der Kleistforscher ernsthaft mit dieser Briefsequenz beschäftigt. Der 17-jährige Kleist läßt die Familie Protzen grüßen – also gab es doch enge persönliche Bezüge zum Pastor, der inzwischen Nachfolger des nach Gotha gewechselten Josias Löffler im Amt des Oberpfarrers an St. Marien geworden ist. Obwohl Protzen nach der Rückkehr aus dem Feldzug 1778/79 den Dienst im königl.-preuß. Infanterie-Regiment Nr.24 quittiert hatte und 1781 das Angebot in Züllichau als Pfarrer der Zivilgemeinde der Kreuzkirche und Inspektor mit der Zusage der Ernennung zum „Wirklichen Neumärkischen Consistorialrath“ angenommen hatte, war anscheinend der persönliche Umgang des Pfarrers mit seinem Taufkind und dessen Familie erhalten geblieben zu sein. Die ist umso wahrscheinlicher, als ein Blick auf die Landkarte und die damalige kulturelle Situation der preußischen Neumark östlich der Oder zeigt, wie eng die Verflechtungen der bedeutenden Städte Frankfurt und Züllichau waren. Züllichau, nahe der Grenze zu Schlesien und Polen gelegen, hatte sich in Erwartung eines Krieges um Schlesien zu einer starken Garnisonstadt entwickelt, war ein intellektuelles Zentrum mit Verlagen, Druckereien, einem berühmten Waisenhaus, Pädagogikum und Gymnasium.
Ich sollte mir den Spieker noch einmal vornehmen – zur Biographie des Pastors Protzen und zu der ausführliche Biographie des Pastors Plothe.
Ich schrecke auf, Edda fragt nach dem Brief Kleists vom Frühjahr 1793 an die Tante, in dem er über seinen Besuch bei Löffler in Gotha berichtet und Kleists Grüße an Protzen 1795 – da gäbe es noch Arbeit für die Forscher! Ich freue mich im Stillen, kann es aber nicht so zeigen – Edda hat nicht nur angebissen, sie steckt schon tief in der chose drin! Sie meint, es seien „Protzen-Bezüge“ zu finden in Kleists Anekdote „Mutwille des Himmels“, die er für die Berliner Abendblätter, 10. Oktober 1810 verfasst habe.
Die Pastoren, fast gleichaltrig, lässt sie wie beiläufig fallen, seien der Aufklärertradition der mittel- und ostdeutschen Theologen und Philosophen an den Universitäten, Akademien und Fürstenhöfen verbunden, was gewiß nicht ohne Wirkung auf den Frankfurter Poeten geblieben sei.
Ich werfe die Decke über das hellauf lodernde Feuer: So fruchtbar und emotional stimulierend die Debatten mit Edda sind, wir müssen diese Themen verschieben !
Denn: Ich spüre es fast schmerzhaft, körperlich und geistig, wie nötig der Anschluss der weiteren Studien der Papiere aus der Hallenser Zeit zum Verständnis der theologischen und philosophischen Entwicklung des jungen Josias geworden ist.
Mein obligatorischer Blick aus dem Fenster: Der Sommer verabschiedet sich allmählich vom Schlosspark und See, die Kinder dürfen nur noch die Füße ins Wasser tauchen, kein Vollbad mehr nehmen. Für die größeren Mädchen und Jungen steht das neue Schuljahr mit interessanten Büchern und manchen neuen Lehrerinnen vor der Tür.
Doch zurück in die Lebensgeschichte unseres Josias, zurück in das 18. Jahrhundert, zu den Halloren. Der junge Löffler, im allgemeinen Geschichts- und Erdkundewissen und mit einer Menge Neugierde für sein Alter überdurchschnittlich ausgerüstet durch Oma Margarete, erweist sich in der Salzstadt Halle als bemerkenswert guter Latein-Schüler.
Der Junge ist sich im Jahre des Herrn 1769 der Tragweite der ihm durch die beiden akademischen Lehrer Semler und Nösselt angetragenen Entscheidung für ein Studium an der preußischen „Fridericiana“ durchaus bewußt – die „Friedrichs-Universität“ Halle an der Saale war eine der beiden „Räthe-Schmieden“ des Königreiches Preußen, gegründet unmittelbar nach dem Anschluss Halles an das Kurfürstentum Brandenburg Ende des 17. Jahrhunderts durch Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, den Namensgeber, der sich im Jahre 1701 mit Billigung des Habsburger Kaisers zum preußischen König krönt.
Aus heutiger Sicht gehörte die Universität Halle zu den bedeutendsten mitteldeutschen Universitäten, hatte herausragende Politiker, Verwaltungsbeamte, Theologen und Künstler hervorgebracht wie den Komponisten Georg Friedrich Händel, die Ärztin Dorothea Christiane Erxleben, die Dichter Clemens Brentano und Freiherr von Eichendorff, den Prediger und „Patriarchen der lutherischen Kirche in Nordamerika“ Henry Melchior Muhlenberg, den Theologen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Pottendorf, den Anatomen Johann Friedrich Meckel den Jüngeren, die preußischen Minister Karl Abraham von Zedlitz und Carl August von Struensee.
Die Theologen und Bildungspolitiker und väterlichen Freunde Semler und Nösselt verstehen es, dem heranwachsenden Schüler und Studenten Löffler aus dem thüringischen, kleinstädtischen Saalfeld verständlich zu machen, dass diese ihre Hochschule im Wirtschaftszentrum und militärischen Standort Halle an der Saale neben den Lehraufträgen und Forschungsthemen ein politisches Schwergewicht im Ringen des Königreiches Preußen um europäische Geltung besitzt.
Sie soll den beiden benachbarten traditionellen sächsischen Institutionen, der kurfürstlichen Universität von Wittenberg im Norden und der bürgerlich-patrizischen Universität Leipzig im Osten den Rang ablaufen!
Junge Leute mit schneller Auffassungsgabe sind gefragt: eine Generation des Aufbruchs, mit klarem Blick für die Herrschaftsstrukturen und ihrem künftigen Platz in der Ordnung des Staates, für die Zusammenhänge von lutherischer Theologie und den Umwälzungen in Gesellschaft, Familie und den Bildungseinrichtungen seit dem Ende des Mittelalters, mit einem neuen, antidogmatischen Geschichtsdenken, mit dem Bedürfnis nach moderner pädagogischer Praxis und der persönlichen Bereitschaft, alles für den König, für dessen Staatsraison, für die erstrebte Größe Preußens zu geben. Ich glaube, dass Josias sich dieser Herausforderung bewusst ist, dass er schon in sehr jungen Jahren die kostbaren Privat-Bibliotheken seiner Lehrer nach Lebensmaximen durchwühlt, sich nach anspruchsvollen Lehraufträgen drängt, nach historischen Persönlichkeiten sucht, an denen er sich reiben kann, bei deren kritischer Auseinandersetzung er geistig wachsen kann. Die jüdischen Propheten, die Kirchenväter, der heilige Bonifacius mitsamt seinen päpstlichen und klerikalen Zeitgenossen, die Fürsten der Franken der vorkarolinischen Periode werden den Studenten, den Theologen und Pädagogen Josias Löffler lebenslang begleiten und herausfordern, in Halle, in Berlin, in Frankfurt an der Oder und am Ende des Weges wieder in Thüringen, in Gotha.
Aber – wie bei so vielen Persönlichkeiten dieser Zeit der großen Umwälzungen anzutreffen – Josias Löfflers Loyalität, seine politische und geistige Leidenschaft ist an eine bestimmte, historisch konkrete Person gebunden, an die des jeweiligen Herrschers, des Fürsten, dem er Treue schwört und dessen Willen er sich unterwirft. Es ist der preußische König Friedrich II., dem er sich seit seiner Studentenzeit bis 1786, dem Todesjahr des großen Strategen von Potsdam, mit Haut und Haar verschreibt. Und es ist der Aufklärer Herzog Ernst im Schloss auf dem Friedenstein von Gotha, dessen Ruf er 1788 bereitwillig folgt und dessen Programm er mitträgt. Neben diesen beiden Herrscherfiguren ist es ein dritter deutscher Fürst, dem er in seiner Frankfurter Zeit persönlich verbunden ist, jener Braunschweiger Prinz Leopold, gleichaltrig mit Josias, der Bruder der Weimarer Herzogin Anna Amalia, zu dessen Vertrauten Lessing gehört, der seine kulturelle und geistig-theologische Bildung und Erziehung in den Kinder- und Jugendjahren durch den bekannten Abt Jerusalem erhielt. Gehe ich fehl – störe ich Edda in ihren Studien – wenn ich den Prinzen und den Theologen, in ihrer charakterlichen Ausprägung und ihren Zielen, zu „Stürmern und Drängern“ erhebe?
Der Prinz, ranghöchster Militär der preußischen Garnison Frankfurt an der Oder ist nicht nur Haus-Nachbar des Generalsuperintendenten Löffler, des obersten Verantwortlichen für das Kirchen- und Bildungswesen der Stadt Frankfurt, den er gern und oft zu seinen geselligen Abenden im Salon des Kommandantenhauses im „Nonnenwinkel“ einlädt. Er ist mit ihm auch eng verbunden im Ringen um die Durchsetzung seines Lieblingsprojektes, einer Regiments-Schule für die Kinder seiner Soldaten.
Edda, die sich durch die wiederholten Störungen zum wilden Gestikulieren heausgefordet fühlt, ruft mich zur Ordnung:
Wäre ich schon wieder von der geraden Linie des Biographischen bei Josias abgewichen ? Warum dränge sich immer wieder das Anliegen der großen Romanciers der Neuzeit in meine streng begrenze Historiographie hinein, in dem ein junger Mann aus der Provinz sich aufmacht, sein Glück in der Metropole zu machen, in Paris, London, St.Petersburg ?
Edda meint, ich verkenne doch die Besonderheit der deutschen geistigen und politischen Situation im Vergleich zu den anderen europäischen Nationen – es gäbe doch keine Metropole! Es gäbe München, Frankfurt am Main, Hamburg, Braunschweig und Hannover, später kommend Berlin und Potsdam – aber es gäbe keinen deutschen kulturellen strahlenden Mittelpunkt, zu dem sich Dichter, Professoren, Musiker hingezogen fühlten! Und kein deutscher Dichter könne sich deshalb diesem Thema widmen, wie ich es in meiner Saalfelder Naivität erträumte!
Der junge Josias Löffler also erhofft sich sein Glück in Halle an der Saale, nicht in Göttingen, München oder Köln. Sein Übergang von der Lateinschule zur Universität verläuft 1768/69 ohne Reibungsverluste, nachdem er den Winter bei der Mutter und den Geschwistern in der Heimatstadt verbracht hatte. Schon am Ende des zweiten Semesters ließ ihn Professor Nösselt in seinem Haus wohnen mit dem Vorzug der Benutzung der privaten Bibliothek und Teilnahme an bedeutenden wissenschaftlichen Konferenzen – wie er auch in den engeren studentischen Mitarbeiterkreis von Professor Semler als Mitglied und später Senior des „theologischen Seminariums“ aufgenommen wurde – Voraussetzungen einer erfolgversprechenden wissenschaftlichen Laufbahn. Damit ist Josias Löffler schon als Student in die Auseinandersetzungen um theoretische und politische Weichenstellungen an den preußischen Universitäten unter der Regentschaft König Friedrichs II. einbezogen.
Was begeisterte Josias an seinen akademischen Vorbildern? Konnte der 18-jährige Student die neuen theoretischen und methodischen Ansätze erkennen, durch die sich Semler und Nösselt aus der Masse der Kollegen an den deutschen Universitäten heraushoben? Vermutlich nicht in allen Einzelheiten der Dogmatik, der Interpretation des Neuen Testaments, der Homiletik, der Auseinandersetzung mit den Schriften der französischen, holländischen und englischen Theologen, aber doch in jener Grundfrage, die man auch in den frühen Schriften Löfflers wiederfindet: wie halten wir es mit der Geschichte? Können wir die christlichen Glaubensgrundsätze der Bibel und der Kirchenväter dem strengen Urteil der Geschichtswissenschaft unterwerfen? In jenen Jahren gehört ohne Zweifel das aufsehenerregende Buch des französischen Theologen Matthieu Souverain „Platonismus devoilé“ in seiner französischen Urfassung zu seiner bevorzugten Lektüre, reift der Gedanke an eine Übersetzung ins Deutsche in ihm, wohl auch der Plan, für diese Übersetzung einen Verleger zu finden. Auf der Suche nach einem Verleger spielt der Züllichauer Pädagoge und Theologe Steinbart schon in jenen Jahren eine entscheidende Rolle. Die Verbindungen Steinbarts zur Universität und zum Waisenhaus von Halle führen zu der engeren Zusammenarbeit schon des jungen Löffler mit dem Züllichauer Verleger Frommann.
Leider habe ich die Quelle jener Bemerkung des jungen Josias nicht mehr zur Verfügung, in der sich unser vielversprechender Theologe über die Liebe der Hallenser Wissenschaftler zu den Ideen der französischen Aufklärung, zu der frischen Luft, die über den Rhein ins verstaubte orthodoxe Deutschland herüberwehte, zu den bewundernswerten Beiträgen der Frauen in Frankreich in den Wogen der neuen Literatur und Philosophie des neuen Europa sich ausbreitet.
Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass Semmler und auch Nösselt von den intellektuellen Fähigkeiten ihres Schützlings schon beim Umzug von Saalfeld nach Halle überzeugt waren, so dass sie ihn sofort in der Lateinschule beziehungsweise dem Pädagogikum anmeldeten. Man kann gewiss davon ausgehen, dass insbesondere Nösselt in dem Jungen ein Ebenbild seiner Person und seiner eigenen Charakterzüge (intellektuelle Neugier, Liebe zur Geschichte, zu antiken und modernen Sprachen, kritische Einstellung zum angebotenen Lehrstoff) erkannte und alles zur Förderung dieses Talents tat.
Auch wenn wir bisher nur wenige schriftliche Belege aus diesen ersten Hallenser Schuljahren von Josias Löffler besitzen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er in engem Kontakt zu diesen beiden Professoren und deren Familien stand:
1762, am Ende des Siebenjährigen Krieges stirbt der Vater. Semler holt den vielversprechenden Jungen nach Halle, um der Mutter die Kosten für die Schule in Saalfeld zu ersparen. Dieses Geld kommt dem ältesten Sohn der Familie zugute, wie es Sitte ist in jenen Jahren. Fünf Wochen später, mit 11 Jahren, 1763, wird Josias in das Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen aufgenommen.
Unter den Papieren finde ich ein Blatt mit Löfflers Handschrift, das in wenigen Zeilen Hinweise auf die Lateinschule und den Übergang zur Universität in Halle enthält. Das Blatt war versehentlich in die Tagebuchnotizen während des Feldzugs von 1778/79 geraten:
… schließlich war ich von dieser Versuchung erlöst – der Professor Semler, dessen Eltern in der Nachbarschaft unseres ehemaligen Hauses am Markt von Saalfeld wohnten, ein guter Freund meines verstorbenen Vaters, war von der Universität Halle heruntergekommen, um mich einer Prüfung zu unterziehen, von deren Ausgang es abhing, ob ich als Freischüler in die berühmte Franckesche Stiftung aufgenommen werden durfte. Professor Semler fand mich gut geeignet, die Lehrer an der Saalfelder Schule hatten mich gut präpariert, mein Griechisch und Latein fand Semler passabel und auch die Anfänge des Hebräischen gefielen ihm ausnehmend gut. Ich bezog zu Michaelis die Hallesche Schule, ich war elf Jahre, war glücklich und bedauerte keineswegs den Verlust des reizenden Mädchenleibes im nunmehr verlassenen Kinderbett. An der Franckeschen Schule herrschte ein strenger Wind, nur Jungs, harte, fast militärische Disziplin – eben Preußen! Ende September, Anfang Oktober war es schon empfindlich kühl in jenem Jahr, der Herbst vertrieb nun mit Macht die süßen Gefühle, die der warme Körper meiner blonden Cousine hinterlassen hatte.“
Hier endet abrupt die Beschreibung des Josias Löffler – er hat den Rest vermutlich verbrannt, zu gewagt der Text für einen lutherischen Feldprediger.
Der Unterricht machte ihm am Beginn zu schaffen, alles war anders als in Saalfeld. Ihm fehlte die Mutter und Oma Margarete, ihm fehlte die Zuneigung der Lehrer in der Schule, ihm fehlten die Thüringer Berge. Den ersten Lehrer, den Hochwürdigen Herrn Doktor Gotthilf August Francke, konnte er nicht ausstehen, der war der Sohn des berühmten Stiftungsgründers August Hermann Franke, und ließ die Schüler die Ehrwürdigkeit und Unnahbarkeit des Vaters in jedem Augenblick spüren.
Es war nicht nur kühl, es war bitterlich kalt in der Halleschen Anstalt! Doch dann erkrankte der ehrwürdige Herr Doktor, mehrere jüngere Aushilfs-Lehrer – noch Studenten der Universität – nahmen sich Josias und seiner Mitschüler an, der trockene historische Stoff lebte in ihren Geschichten auf, das Latein, das Griechische gewann Farbigkeit, die Landkarten des Heiligen Landes ließen ihnen die Burgen der Kreuzritter und der Muselmanen, die Heldengestalten des Richard Löwenherz, des Kaisers Barbarossa und des großen arabischen Sultans Saladin auferstehen.
Die Autorität der jungen Lehrer hatte durch diese angenehme Art und Weise des Unterrichts nicht etwa gelitten – im Gegenteil, die Bewunderung für die Hilfslehrer hatte ihre Wissbegierde gestärkt, die Schüler wurden munterer, neugieriger, konnten kaum den Beginn der Stunden erwarten. Kurz vor Weihnachten genaß der Doktor von seiner Influenza, zu ihrer Verblüffung aber kam er am Morgen mit einem der Hilfslehrer in die Klasse, setzte sich in die letzte Reihe und beobachtete den Unterricht, ohne ein Wort zusagen. Man erholte sich schnell von der Überraschung, der Unterricht verlief wie gewohnt – die Hilfslehrer blieben dann bis Ostern.
Glücklicherweise hat sich ein weiterer Brief Löfflers erhalten, der auch Aufschluss gibt über jene Jahre in Halle – ein Brief, den er aus Gotha an seine noch in Frankfurt geblieben Ehefrau Dorothea im Jahre 1789 schrieb, mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten:
„Wer war es aus den Reihen der Lehrer an der Universität, der auf mich aufmerksam wurde? Ich spürte die besonderen Aufgaben, die mir bei dem Eindringen in die Religionsgeschichte, in das Studium der verzwickten Geheimnisse der hebräischen Sprache gestellt wurden, die mich zwangen, gründlicher als an der Schule die Originaltexte zu lesen, die hebräischen, griechischen und lateinischen Fassungen der Bibeltexte und Briefe miteinander zu vergleichen, die offensichtlichen Widersprüche in den Erklärungen der Kirchenväter zu erkennen. Es war besonders die wissenschaftliche Herausforderung, die in Hebräisch überlieferten Texte ohne die Zwischenstufe des Griechischen ins Deutsche zu übersetzen, die mir Jahre später die Zuversicht gab, mich in Zusammenarbeit mit dem Verleger Friedrich Nicolai an dem Projekt des großen Moses Mendelssohn zu beteiligen, die fünf Bücher Moses in einer neuen Fassung ins Deutsche zu übertragen.
Semler und auch Nösselt waren mir von allen die Vertrautesten, die mich geistig nicht ruhen ließen, die mir alles abverlangten, was ich zu leisten imstande war. Sie glaubten an mich, an meine Berufung. Ich hatte unbegrenzten Zugang zu ihren Häusern, zu ihren Bibliotheken. Ihre Geduld war unerschöpflich, selbst in brenzligen Situationen, die das rauhe, aber auch oft romantische Dorfleben so mit sich bringen, die nächtlichen Spaziergänge, die Tänze auf der Tenne und manchmal auch etwa mehr Bier als der junge Körper vertrug. Semler hatte mich einmal im Diesseits eingefangen wie ich glaubte für die Ewigkeit, hinter den Grenzen aller theologischen oder philosophischen jenseitigen Offenbarungen, mich, der ich einmal sogar die Universität verlassen wollte. Er nahm mich am nächsten Morgen nach dem Seminar beiseite, wanderte mit mir zum Giebichenstein. Sein scharfer Blick hatte meine Seelenlage durchdrungen, die Nöte des jungen Einzelgängers erkannt. Er drohte nicht, er lockte nicht, er erzählte seine ureigenste Version der biblischen Geschichte von Josef, dem Hebräer in Ägypten, so wie ich sie noch nie gelesen, noch nie gehört hatte. Unsere Blicke folgten der ruhig fließenden Saale, den Weiten der Hügelkette, den Feldern und Wäldern am anderen Ufer, ohne Worte nahm mich Semler bei den Händen, führte mich zur Bank unter einer Birke. Während er von Joseph erzählte, kritzelte er mit einem Zweig Zeichen in den Sand zu unseren Füßen, Kreise, Ellipsen, allerlei zufällig sich berührende und wieder auseinanderstrebende gekrümmte Linien. Ich war verwirrt – ich konnte weder aufmerksam auf die Erzählung achten noch gleichermaßen die Spitze des Zweiges im Sand verfolgen. Schließlich gab Semler das Spiel auf – er hatte sein Ziel erreicht, er hatte mich in eine Sackgasse geführt, aus der ich mit eigener Kraft nicht mehr herauskommen würde.
Auf dem Rückweg kamen wir an einer Tischlerwerkstatt vorbei; da Semler den Meister gut kannte, ließ er unserem jungen Freund einen Blick in das geheimnisvolle Innere der beiden Arbeitsräume werfen. In der ersten, größeren Kammer lagerten die Rohhölzer in ihren unterschiedlichen Farben, ihren Gerüchen. Die großen, frisch aus dem Wald geschnittenen Bretter und Bohlen lagerten gestapelt auf Querhölzern, damit sich die Luft dazwischen bewegen kann. Deshalb waren auch die großen Fenster tagsüber geöffnet und deshalb herrschte hier auch eine angenehme Kühle, auch im Sommer. … Im zweiten Saal standen die Arbeitsbänke der Gesellen und Lehrlinge – insgesamt acht Menschen waren beschäftigt. Die Mitte des Raumes nahm der heiße Ofen ein, er diente dem Warmhalten des Leimes, dem Vorwärmen des zum Zusammenkleben vorgesehenen Holzes und natürlich auch der Schaffung einer wohligen Atmosphäre für die Arbeiter in den kalten Wintertagen …
Du fragtest im letzten Brief nach den Halloren, liebste Dörte. Während meiner etlichen Erzählungen über die Hallischen Jugendjahre war es mir nie in den Sinn gekommen, diese Eigentümlichkeit der Hallischen Gegend zu beschreiben – sie war für mich nach dem langen Aufenthalt dort so selbstverständlich wie der Holzhandel für den Oberlauf der Saale, meiner Heimat. In Berlin legen die braven Bürger, die Professoren, die Hofbeamten ihre Einnahmen und ihr Erspartes im Handel mit Tuchen, Porzellan, Büchern, Waffen, Schmuck an, in Halle an der Saale seit Urväter Zeiten in Salz! Die Familien der Professoren, das konnte ich in den Häusern von Semler und Nösselt selbst hautnah täglich spüren, lebten von den Einkünften aus den Salinen, den Salzköthen, an denen sie Beteiligungen hatten. So waren auch sie Entrepreneurs und konnten es sich leisten, manchem Bedürftigen ein Zimmer unter ihrem Dach anzubieten – zu einem geringeren Zinssatz als der nicht mir der Universität verbundene Bürger der Stadt. Du weißt, auch ich als Halbwaise habe davon profitiert.“
Es war Zeit, für den heutigen Nachmittag die Papiere beiseitezulegen. Edda versuchte noch einige Fragen, ich konnte sie nur auf die nächsten Tage vertrösten. Noch in der Tür gab sie mir auf den Weg: Und wie war er denn als Absolvent, hatte er Prüfungsangst? Wie haben sie sich auf die Examen vorbereitet, damals. Und wie schaffte er es, eine der begehrten Stellen in der Residenz Berlin zu ergattern?
Dr. Dieter Weigert 24. Juli 2023 Berlin Prenzlauer Berg
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)