Folge 15 Martin Römisch Zwei
Die trockene Bücherweisheit der Kleistologen behauptet – gegründet auf zehn Prozent sicheres Wissen, 90 Prozent Halbwahrheiten, Spekulationen, Hypothesen und tiefe Blicke in die Glaskugel – daß es in Frankfurt an der Oder einen gewissen C. E. Martini gegeben habe, dessen nachweisbare Existenz sich auf einige wenige Druckzeilen zusammenfassen ließe: Martini, Christian Ernst (1762 bis 1833), Theologe, später Rektor der Frankfurter Bürgerschule, Kleists Hauslehrer, mit der Familie bis zu seinem Tode befreundet. 47ı, 804. – Brief Nr. 3.
ERGO: Nach Immanuel Kant war dessen Daseinszweck nur Empfänger eines Briefes zu sein, mit dessen Inhalt sich nun Dutzende Lehrstuhlinhaber und Tausende Studenten in aller Welt online und offline zu beschäftigen haben !
Ich aber, Stadtarchivar von Saalfeld im Thüringischen, Arbeitsplatz unterm Schloßdach, plage mich gemeinsam mit temporär ausgeliehener Kollegin Edda an der Durchsicht eines vor Monaten freigelegten Konvoluts historischer Papiere aus dem – wie wir vermuten – privat-geheimen – Nachlaß des Theologen und Kirchenpolitikers Josias Löffler, des „großen Sohnes unserer Stadt“ (Originalzitat Landrat).

Als Nicht-Kantianer bemühen wir uns um „WISSENSCHAFTLICHE SUBJEKTIVITÄT“ (Originalzitat. ICH) bei der Einordnung der jeweiligen historischen Person, ergo ihn oder sie zu nehmen als handelnden Menschen mit sehr individuellen Charakterzügen, Wertvorstellungen, Lebenszielen, Liebschaften, nicht jedoch nur als Fußnote im Lebens-Ablauf einer germanistischen Größe wie Kleist, Schiller, Goethe etc. pp.
Edda und ich nehmen es gelassen, wenn uns die Kleistologen an ihren Stammtischen oder online-Zirkeln für „nicht-standes-gemäß“, für „nichtsatisfaktionsfähig“ erklären (meine Herren: IHRE EHRE ist nicht MEINE EHRE !). Erst recht lachen wir angesichts Ihrer Einteilung der Menschen in die Gruppe der Rechtschaffenen (d.h. denen das Recht zugesteht, eine druckbare Biographie – Leben und Werk- des Heinrich von Kleist auf grund ihrer akademischen Würden der Welt zu Füßen zu legen) und – von ihnen abgehoben – die Gruppe der Rechtlosen, (denen man zwar die Chance einräumt, jene Publikationen lesen zu dürfen, denen aber das Recht der Mitsprache versagt bleiben muß).
NACHDEM DAS NUN MAL GESAGT WERDEN MUSSTE; GEHT ES ZUR SACHE:
Funde erster Ordnung im Konvolut: Brief jenes historischen Subjektes Christian Ernst Martini an Löffler vom November 1815 sowie drei Papiere politischen Inhalts, ohne Adressat, aber datiert zwischen 1814 und 1816. Edda könne sich ja mal dran setzen, den Brief einordnen, die Papiere analysieren auch den Martini als Person bei der Gelegenheit einordnen.
Nach drei Tagen sehe ich – Es ist soweit, sie kann ihren Bericht abliefern! Eddas Original- „Narrativ“: – Ich beginne mit dem persönlichen Brief Martinis an Josias Löffler. Der Brief ist die Anwort Martinis auf ein – vermutlich sehr ausführliches – Schreiben Löfflers an Martini in Frankfurt vom Oktober 1815. Zum Verständnis meiner „Expertise“ der Original-Brieftext jenes Martini, wobei ich darauf hinweise, daß Martini, der nur wenig jünger ist als Löffler, das vertrauliche DU in der Anrede verwendet, ein Zeichen der engen Verbundenheit! und hier auch die Kopie einer Seite der Handschrift Martinis :

„Lieber verehrter Freund, hochgeschätzter Professor und excellenter herzoglicher Superintendent !
Vom Strand des Oderflußes die herzlichsten Grüße von einem Deiner treuesten Schüler! Tiefste Dankbarkeit für das Schreiben vom letzten Monat, das mich aus der Apathie herausriß, einer tiefen Bedrückung hervorgerufen durch die bösen militairischen und politischen Ereignisse dieses Jahres in Europa. Ich danke Dir für das schöne Mahnmahl daß Du meinem Sohne gesetzt hast. – So wurde der große Tyrann gestürzt. Aber die kleinen Tyrannen die in Deutschland herrschen, werden nicht gestürzt werden. Ein bloßer Nahme ist Teutschlands Einheit. Umsonst ist mein Wilhelm gefallen. –
Die sämtlichen Könige Teutschlands müßten … was sie damit Napoleons Generalen
Ueberall müßten republikanische Verfassungen eingesetzt werden. Entgegen aller Schreibereyen der bezahlten Lakaien in den Residenzen der alten Welt von Rußland bis England sahen wir doch in Bonaparte und seinem frischen System einen Aufbruch, eine Beybehaltung der meisten Innovationen der Jacobiner, wenn auch verschleiert durch den Dunst einer Kaiserkrone. Das soll nun alles vorbey sein ? Die tanzenden Herren von Wien trampeln auf unseren Körpern. Es ist zum Verzagen! Ich gehe viel in die Natur – hier die Skizze eines Freundes !

Auch die Unterrichtung der Schüler läßt keinen Ausweg erkennen – Preußen will Soldaten, keine hellen Köpfe ! Wofür haben die Studenten ihr junges Leben in die Schlachten geworfen ? Wofür ist mein Wilhelm in Hessen gefallen? Auch Schüler von mir sind unter den Todten von Leipzig und Torgau ! Entsetzlich !!! Es bleibt nur das Private – und die Erinnerung an Dich, den immer lächelnden Professor der Heilslehren des Neuen Testaments. Weißt Du noch, wie Du mich einmal „Martin Römisch Zwei“ genannt hast? Römisch Eins war natürlich der Bruder Martin von Wittenberg. Ich fühlte mich geehrt und tath mein bestes deinen Anforderungen gerecht zu werden. Heute kann ich dein Wissen meinen Schülern weitergeben, dinen geschichtlichen Blick auch auf die Helige Schrift, vor allem auf das NT, auf jene große Frau des Altertums, die wir Maria Magdalena, unsere französischen Schwestern und Brüder Madeleine nennen. Ist es Dir schon einmal wie mir in Berlin beim Besuche eines guten Freundes begegnet, daß ein französischer Offizier, den mein Freund eingeladen hatte, aus seiner Kartentasche das Bild jener Madeleine zauberte? Er trug (oder vielleicht lebt er noch und trägt es heute noch mit sich herum) nicht das Bild der Muttergottes, sondern das Konterfey der Heiligen Madeleine am Herzen. So sind die Franzosen !

Ich muß gestehen Chef, mir kamen die Tränen. Ich glaube, wir können an dieser Stelle unsere nüchterne, aber von Sympathie und Hochachtung getragene Einschätzung dieses Briefes unterbrechen. Vielleicht morgen mehr davon.
Die drei beiliegenden nicht-privaten Papiere sind in einer sachlichen, nüchternen Sprache verfaßt, standardisiert, unterschrieben von einem „CASIMIR“ und datiert – zwischen 1807 und 1810. Auffällig ist die vielfache Verwendung französischer Worte für wirtschaftliche und militärische Begriffe. Ich bin vielleicht keine Expertin für Geheimdiens-Berichte, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, daß unser Bruder Martini Analysen auf der Grundlage von Gesprächen und Beobachtungen in der Garnisonstadt Frankfurt angefertigt hat. Der Dienst, der ihm dafür ein gutes Honorar gezahlt haben könnte, wäre eventuelle der des französischen Kaisers gewesen.
Hier eine Seite aus einem der drei Berichte:

Dieser Bericht vom 27. März 1810 umfaßt 6 Blätter, beidseitig beschrieben, also wäre viel zu entnehmen durch den Empfänger. Heiße Ware sozusagen, ich vergeude unsere kostbare Zeit nicht mit Transkription, die Schrift ist super lesbar. Aber, bester Chef – wie kommt die Abschrift des Berichtes – und darum kann es sich ja nur handeln – in den Besitz unseres Josias ? Wenn Casimir-Martini für die Franzosen gearbeitet hat, bei seiner Sympathe für die Revolution und ihren Vollender Napoleon (aus seiner Sicht) durchaus vorstellbar, wieweit ging dann die Vertraulichkeit mit seinem Freund, den königlichen Professor und Generalsuperintendenten ? Das ist für mich eine offene Frage. Sympathien ja, aber aktives politisches Handeln? Ganz absurd wäre die Vorstellung, auch Josias hätte für die Franzosen gearbeitet – dann hätte er aber solche Berichte nicht in seinem Privatbesitz! Belassen wir es für heute dabei, vielleicht findet sich das eine oder andere Papierchen, was uns weiter helfen könnte.
Für manche war der Name Martini nur die Bezeichnung eines Punktes im Netz der Beziehungen des Dramatikers und Erzählers Kleist – ein Orientierungspunkt des Briefeschreibers, des Mannes, der erklärt weshalb er aus der Armee ausscheidet – dieser Martini in Frankfurt an der Oder führt kein Eigenleben, dieser Martini ist in den Augen der „Kleistologen“ nur Briefempfänger, er ist nicht aktiv, er hat keinen Einfluß auf das Werk des Dichters ! Wunderliche „Wissenschaftler “ !!!
Zu deren Erinnerung: Am 5. Febraur 1788 überreicht eine Gruppe von Sudenten, darunter Alexander und Wilhelm von Humboldt, Martini und Wegener ihrem geliebten Professor Löffler, „Gewidmet von Seinen Zuhoerern und Verehrern“, eine gebundene Mappe mit künstlerisch gestalteten Vignetten und den Unterschriften zum Abschied von der Universität Frankfurt an der Oder. Eine nochmalige Zeremonie in derselben Form findet am „18. des Herbstmonats 1788“ vor der Abreise Proifessor Löfflers nach Gotha statt, diemal auch u.a. mit den Unterschriften von Martini und Wegener, aber ohne die der Gebrüder Humboldt, die in der Sommerpause 1788 die Universität verlassen hatten.
Dr. Dieter Weigert 22. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg
Die nächsten Folgen der Erinnerungen des Saalfelder Stadtarchivarr erscheinen in unregelmäßigen Abständen.
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