Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 13

Zurück aus den Tiroler Bergen, den Spurwechsel aus den Langlauf-Loipen zwischen Innsbruck und dem Stubaital in die ausgefahrenen Bahnen meiner Dachkemenate mühsam gemeistert, wage ich kaum einen Blick auf das schmutzige Grau des Schlossparks unter meinem Dachfenster – kahl die Linden und Pappeln, die kreisrunde Blumenrabatte in der Mitte des Rasens noch zugedeckt mit Laub und Tannenzweigen. Aber das Eis auf dem See wird von Tag zu Tag dünner, das große Tauwetter kündigt sich an, kleine Pfützen zeigen sich schon tagsüber auf den Sandwegen. Winterschal und warme Mütze sind aber noch gefragt.

Ich bin allein. Edda feiert noch einige Tage Überstunden ab. Wie schaffe ich es ohne sie, die bleigraue Stimmung vor dem Fenster in eine schöpferische Atmosphäre in meinem warmen Stübchen zu verwandeln? Wo war ich vor der Abreise in die Berge hängen geblieben ?

Der Gotha-Besuch des nunmehr erwachsenen, dem Gamaschendienst der preußischen Armee entronnenen und schon als Schriftsteller bekannten Heinrich von Kleist ist abgehakt – aber dem geneigten Leser vorerst noch nicht zubereitet ! Wir stecken ja noch im Privaten des Professors Löffler fest.

Da liegt also jenes schwergewichtige Stück, bis gestern noch wohl verschnürt, heute nun geöffnet und aufgeteilt – das mit „privée“ beschriftete schon durchgesehen und in die von Edda verwaltete Abteilung einsortiert. Nun aber an die noch nicht geöffnete „Vauban“-Verschnürung. Warum die befremdliche Aufschrift „Stendal“ ? Was hatte Löffler zu verschleiern?
Obenauf im Stapel der Dokumente liegt ein ziemlich dicker Brief – ein Epistel der Ehefrau, Dorothea, geborene Silberschlag, an Josias. Scheint Familiäres, aber vielleicht erfolgversprechend, vielleicht eine Ergänzung zu den intimen Briefen, die wir gestern vor uns hatten, denn eine Kopie wird es wohl in anderen Archiven nicht geben! Damit also setze ich die Lektüre fort.
Der Posten sendet unterschiedliche Gerüche aus – strenge, aber auch damenhaft-anziehende. Ich klappe das Dachfenster weit auf, frische Maienluft strömt herein. Acht Uhr morgens sind nur wenige Menschen im Park, die Saale fließt träge, kaum Geräusche kommen herauf aus der Stadt. Irgendwie vermisse ich die übliche Motivation, nur nicht routinemäßig dort weitermachen, wo ich gestern erschöpft aufhörte.
Was in solchen Situationen hilft – den Posten nach Überraschungen durchforsten, einfach in die Mitte greifen, wie beim Rühren in der Lostrommel den Zufall spielen lassen. Ich verlasse mich auf meinen Geruchssinn, schließe die Augen, taste mit der linken Hand am unteren Rand des Stapels nach etwas Verlockendem – die ältesten Papiere strömen verführerische Düfte aus – da ist sie schon, die betörende Anziehungskraft eines alten Buchrückens, spürbar die Fäden der handwerklichen Bindung, die sich lösenden Krümel des vertrockneten Knochenleimes, den ich in der Tischlerwerkstatt im heißen flüssigen Zustand so sehr liebte. Ich öffne die Augen, ziehe mit aller Vorsicht das Buch heraus: ziemlich dick, über 600 Seiten, wie ich auf den ersten Blick sehe, der Ledereinband gut erhalten.

In der Mitte ein goldenes Wappen auf dem hellbraunen Untergrund. Das Wappen war mir in den letzten Monaten noch nicht untergekommen. Hoffentlich lohnt sich das Aufschlagen, vermutlich wieder eine theologische Streitschrift mit Dutzenden Anhängen. Das goldene Wappen mit Krone ist mir nicht bekannt, lässt auch keine Rückschlüsse auf den Verfasser zu, hat auch nichts Religiöses – keinen Himmelsschlüssel, keinen Kardinalshut, keinen Heiland am Kreuz und auch keine Maria. Das Äußere lässt vermuten, dass es nicht allzu oft benutzt worden war.

Ich mache Platz auf dem Tisch und öffne vorsichtig den Prachtband.

Nun trifft mich nicht gleich der Schlag, aber ich bin doch sprachlos: befremdet lese ich den Titel – „ANWEISUNG ZUR KRIEGES-BAU-KUNST worinnen die Beschaffenheit und Anlegung, wie auch der ANGRIFF und die VERTHEIDIGUNG der Festungen, Schantzen und Linien vermittelst 22 hierzu dienlicher Kupfer-Tafeln nach Theorie und Praxis abgehandelt wird“. Alles hatte ich erwartet, nur kein militärisches Handbuch. Auf dem Titelblatt keine Erwähnung eines Verfassers, aber die nächste Überraschung – „Zu finden im Buchladen der Real-Schule“. Ein Schulbuch also? Festungsbau für preußische Realschüler im Jahre 1757. Ich suche nach einem Autoren oder einem Herausgeber. Im umfangreichen „Vorbericht“ nur Namen von Offizieren, die sich wohlwollend über das Werk äußern und es auch für die Weiterbildung der jungen Offiziere und Fähnriche empfehlen. Auch am Ende nichts über einen Mann der Feder, aber den Hinweis „Berlin, gedruckt bey George Ludewig Winter“.

Ich will das Buch weg legen – da ist es wieder, das jedem Archivar bekanntes Rascheln, aus dem Buch löst sich eine Einlage und segelt zu Boden. Es ist ein verschlossener Umschlag, das Siegel gebrochen, der Umschlag aber wieder verklebt und zusätzlich mit einem Bindfaden verschnürt, an dem ein kleines Paket hängt, das ich vorerst beiseite lege. Auf der Vorderseite des Umschlags die sauber lesbare Aufschrift „Meiner lieben Tochter Dorothea, OCR J.E.S. – 9ter October 1786 – strict persönlich !“. Nun zahlt sich die monatelange gründliche Beschäftigung mit Namen und Biographien im Umfeld des Josias Löffler aus – ich verstehe sofort:  der Berliner lutherische Oberkonsistorialrat Johann Esaias Silberschlag schreibt seiner Tochter Dorothea, seit dem 9. November 1784 Ehefrau des Predigers und Professors Josias Löffler in Frankfurt an der Oder.

Der Inhalt muss sehr intim sein, nichts für fremde Augen, strict nur zwischen Vater und Tochter, wohl auch nicht gedacht für Mutter und Geschwister Dorotheas.

Plötzlich ist die professionelle Neugier wieder da – wie weggeblasen ist die Blockade, die mich beim Anblick der vergilbten Blätter heute Morgen befallen hatte. Vielleicht gibt das väterliche Schreiben Aufschluss über die Herkunft jenes für einen Theologen anscheinend sachfremden Wälzers oder zumindest einen Hinweis auf den oder die Autoren. Behutsam entnehme ich dem Umschlag die Blätter – zahlreicher als ich vermutet habe, beiderseitig eng beschrieben, gut lesbar, nummeriert und mit blauen Fäden geheftet. Kein Testament, keine notarielle Verfügung, kein Vertrag, nichts Finanzielles.

Schon die ersten Zeilen lassen mich jedoch an die Decke springen – nur im übertragenen Sinne: „Meine liebste Doro, du bist der eintzige Mensch, dem ich diesen Bericht, diese confessiones, anvertraue, nicht einmal mein König, der in jenen Jahren mein persönlicher Auftraggeber war, kennt diesen Text. Bitte verwahre das Schriftstück sorgsam, gerät es in die falschen Hände, hätte das schlimme Folgen für uns alle. Aber mein Gewissen vor Gott zwingt mich, diese weltliche Beichte aufzuschreiben:

Lange Jahre vor deinem Erscheinen auf dieser Welt, ich war ein junger Mann von 22 Jahren, im zweiten Jahr meines Studiums der Theologie, Philosophie und der Naturkunde im Kloster Bergen bei Magdeburg, ließ mich an einem September-Sonntag der von uns allen vielgeliebte Abt Steinmetz nach dem Gottesdienst am Mittag allein zu sich kommen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an diesen Augenblick, als ich mich in seinem Arbeitszimmer einem Mann in dunkler, bescheidener Kleidung gegenüber sah, der soeben einem ebenso bescheidenen Zweispänner entstiegen war und in sehr vertraulicher Art mir als der Marquis de Arnhem vorgestellt wurde – im Sonderauftrag Seiner Majestät, und dem ich – wie der Abt mit amtlicher Stimme mir mitteilte – von dieser Stunde an unterstellt war.

Der Abt verließ den Raum, ich war allein mit diesem geheimnisvollen Marquis. Er sprach vollendetes Französisch, setzte dessen Kenntnis bei mir voraus und erklärte ohne Umschweife, dass ich zum Packen meiner Habseligkeiten zwanzig Minuten habe, dann würde mich die Kutsche am Hintereingang des studentischen Wohngebäudes abholen. Weitere Dispositionen würde ich im Wagen durch ihn empfangen.

Ich war verwirrt, befolgte aber gut-preußisch diesem Befehl und erfuhr hinter den verhangenen Fenstern der Kutsche die Details der königlichen Planungen, die Majestät mir zugedacht hatte. Ich hatte keine Mühe, das Französisch meines neuen Herrn zu verstehen, verzog auch keine Miene bei den Eröffnungen, die der „Marquis im Sonderauftrag“ machte, denn ich hielt das Ganze für eine Verwechslung. Meine Person konnte wohl nicht gemeint sein mit jenen abenteuerlichen Missionen, die dem Jüngling in der Kutsche durch Seine Majestät zugedacht waren: Venedig, Turin, Paris und Umgebung … Ich glaubte immer noch zu träumen, als wir am Abend vor einem Pavillon in einem dunklen herrschaftlichen Park aus der Kutsche stiegen, in einen kleinen, gut eingerichteten Raum geführt wurden, wo ein ausgiebiges Souper uns erwartete. Livrierte Diener wiesen uns Plätze an, servierten Getränke und schienen Ausschau nach dem Hausherrn zu halten. Von außen kommende Geräusche verrieten es – er war im Anmarsch, der König – aber ohne Trommelwirbel, ohne Posaunen, ohne den schweren majestätischen Schritt und ohne Rufe der Offiziere. Der Diener öffnete die Flügeltür, ein junger Mann erschien leichten tänzerischen Gangs, schlank, in militärischer Kleidung, ohne Hut aber mit Perücke – nicht der dicke, schwere König, sondern der Kronprinz Friedrich!
Mit einer Handbewegung schickte er die ihn begleitenden Offiziere samt der Dienerschaft aus dem Raum, verschloss eigenhändig die Flügeltür und postierte den Marquis von innen dagegen. Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln – auch hier wieder in französischer Sprache – zog er ein Papier aus dem Ärmelumschlag, ließ es mich nach kurzem Überfliegen unterschreiben und offenbarte das Geheimnisvolle dieser Begegnung. „Er weiß, was er unterzeichnet hat“, wandte er sich an mich, ebenso in Französisch, „eine eidliche Versicherung, nichts von dieser Begegnung, den darauf folgenden Aufträgen für die Krone Preußens Dritten gegenüber bei Androhung des Verlustes des Lebens kund zu tun, Bericht zu erstatten nur der Majestät oder den von der Majestät schriftlich Beauftragten. Der Eid bindet bis zum letzten Atemzuge.“ 
Er wurde persönlicher: „Monsieur Louis de Périgaux, Romancier, so wird nun Sein nom de Plume oder nom der guerre unter Bedingungen der Discrétion sein, nur ein aus drei Personen bestehender kleiner Kreis verschwiegener Offiziere am preußischen Hofe kennt Seine wahre Identität – ich, der Chef des cabinét secret und der hier anwesende Marquis.  Wir haben uns Seine Herkunft, Seine excellenten Fähigkeiten, Seine Vorstellungen von der beruflichen Zukunft, Seine Liebe zur Geographie, zur Poesie und zu den fremden Sprachen, Seine Wünsche und Träume angesehen und sind überzeugt, dass trotz seiner Jugend Er der richtige Mann für uns ist. Erfülle Er das in Ihn gesetzte Vertrauen, dann wird Seine Zukunft auch hier in der königlichen Residenz strahlen. Monsieur le Marquis wird Ihm beim Souper meine Vorstellungen Seiner Tätigkeit der nächsten Jahre erläutern.
Nur so viel vorab – Sehe er seine künftigen Taten als bedeutsamen Beitrag zur Erreichung meines Lebensziels als Monarch – Vermeidung von Krieg durch Herstellung und Erhaltung einer ausgewogenen politischen und wirtschaftlichen Balance zwischen den europäischen Großmächten. Halte er mich nicht für einen jugendlichen Phantasten – wer ohne Vision, ohne Träume vor seine Untertanen tritt, sollte seine Krone ablegen!
Adieu et bonne chance, Monsieur de Périgaux!“ Friedrich verschwand lautlos, ließ mich in einem Zustand der Ratlosigkeit, der Verwirrtheit, aber auch der Neugier auf die kommenden Aufgaben zurück.

Liebste Doro, ich werde dich nicht mit finanziellen Details, mit den Communications-Vereinbarungen, mit den anfänglichen Unsicherheiten und auch nächtlichen Ängsten vor Unglücken oder Aufdecken der Geheimnisse und harten Strafen langweilen – es war ein Jahr, das ich mit allen Sinnen genossen habe, das mir ein Verständnis der Welt gegeben hat, der unterschiedlichen Lebensweisen, der Vielfalt der Herrschaftsformen und religiösen Vorstellungen und auch der Lebensweisen in den Familien und in dem ich die vorausschauende Weisheit des jungen Friedrich anerkennen und schätzen lernte.

Die eigenhändig geschriebene Instruction des Kronprinzen, mir vor der Abreise aus Rheinsberg, so hieß der Ort des Treffens, vom Marquis ausgehändigt mit dem Befehl, sie nach dem Einprägen des Textes zu verbrennen, lautete lapidar: „Monsieur de P. begibt sich per regulärer Post auf kürzestem Wege nach der Stadt Emmerich am Rhein. Eine Kontactperson meldet sich unter Verwendung der Parole „Balance“, übergiebt Ihm mehrere Pässe, Geld in unterschiedlichen Währungen und begleitet ihn auf der Bootsreise nach Holland zum Hafen von Rotterdam, von dort segelt er ohne Begleitung zum französischen Hafen von Nantes. Er bleibt dort zum Eingewöhnen einige Wochen, bevor er sich auf dem Landweg nach Paris begibt und im Viertel um die Kirche Saint-Sulpice Quartier nimmt. Nach mehrmonatiger Aufklärung des dortigen Priesterseminars reist er in Richtung Italien, erfüllt Aufgaben in Turin und verfügt sich zwei Monate später nach Venedig. Im Palazzo Dandolo wird Er als Marquis de Bellevue und der Parole „equilibre“ absteigen, wo Er nähere Instructionen erhält. Rückerwartet wird er in 1 Jahr in Rheinsberg beim Baron de la Motte Fouqué.“

Ich lege das Papier zur Seite, trete zum Fenster, habe Mühe meine Erregung zu beherrschen: es gab ihn also doch, den legendären Geheimdienst des Großen Friedrich, den er schon als Kronprinz aufgebaut hatte und dessen Existenz kein preußisches Archiv bisher bestätigen konnte! Nachweis von Schwarzen Kassen, Kurieren, chiffrierten Berichten – Fehlanzeige seit zwei Jahrhunderten !!!! Oder ist jemand dabei, mir etwas unterzuschieben? Warum sollte er?

Abgekühlten Kopfes entscheide ich für das Weiterlesen, aber für vorläufiges Schweigen. Die Sache ist heiß, meine Berufserfahrung wird mir jedoch helfen, dass ich mir nicht die Finger verbrenne.

Der Rest der kronprinzlichen Instruction: „Der Wert dieser Reise ist die Bekanntschaft mit nützlichen Personen in den fürstlichen Residenzen, das Verstehen des Handwerks der Diplomatie und der Machtausübung, Hinweise auf Personen, deren künftige Gewinnung für unsere sache möglich und nützlich erscheint.

Er vermeide jegliche offene Partheynahme in den inneren Kämpfen des Aufenthaltslandes, Er nehme keine Haltung ein für einen der Seiten bei Kriegshandlungen, Er zeige öffentlich nur Interesse für sein Privatgeschäft, für Spiel und Frauen und seine Recherchen als Romancier, Er studiere aber heimlich fleißig die Wirtschaftsberichte der Zeitungen und die Statistiken der Kriegsfinanzen, ohne daß Er sich durch Schriftliches verdächtig macht.

Sollte Er unglücklicherweise dem Verdacht ausgesetzt werden Spion zu sein, leugne Er consequent jegliche Beziehung zum preußischen Hof. Der Auftraggeber der Reise wird Mittel und Wege finden, Ihn unter Verwendung der Parole „Rheinsberg“ den nötigen Schutz zukommen zu lassen.“

Vater Silberschlag scheint nach fast fünfzig Jahren jedes Wort in seinem Gedächtnis eingebrannt zu haben, wie er überhaupt zu beneiden ist wegen der Art, wie er die Einzelheiten aus jener Jugendperiode hervorkramen kann:

„Viele Erinnerungen aus jenen ersten Jahren des Dienstes für unseren König, liebste Doro, sind leider verblaßt, durch andere Erlebnisse in den Hintergrund gedrängt, überlagert von späteren Ereignissen – aber niemals werde ich die Begebnisse jener Nacht im Oktober des Jahres 1738  in all ihren Einzelheiten vergessen.

Mit der Post hatte ich das Städtchen Emmerich erreicht, war von einem elegant gekleideten Mann empfangen worden, der sich als preußischer Zoll-Secretarius aus Cleve vorstellte und mich zu einem Gebäude in einem Park außerhalb des Ortes führte, einer Mischung von bescheidenem Landschloß und Gutshaus, in dem uns eine Dienerin verschiedene Sorten schmackhaften holländischen Käse, westfälischen Schinken, französischen Weißwein, Trauben aus der Pfalz und andere Leckereien servierte.
Ob ich den Namen der Gräfin Wartenberg schon einmal gehört habe, examinierte mich mein Begleiter und eröffnete damit den offiziellen Teil der Begegnung. Errötend und beschämt bekannte ich meine Unkenntnis, wollte sie burschikos durch eine lockere Bemerkung überspielen, als er mich zurechtwies und mir anhand von Details aus dem Leben jenes Mädchens Katharina aus Emmerich, späterer Gräfin von Wartenberg, Maitresse König Friedrich I., Gemahlin des preußischen Premierministers.

Ihr hatte dieses Landschlößchen vor über 25 Jahren gehört – eine mehrstündige Lektion in Geschichte, Philosophie und dynastischer Herrschaftskunde verpaßte mir der Secretarius, bis ich trunken vom guten Wein, vollgepumpt mit lockeren und frivolen Anekdoten aus der brandenburgisch-preußischen Residenz ins Himmelbett der Gräfin sank.

Am Morgen erwies sich die Dienerin auch bei der Zubereitung des nahrhaften Frühstück als Meisterin ihres Faches, der Secretarius stellte mir einen ostfriesischen Riesen namens Robert vor – graubärtig, wettergegerbtes Gesicht und kräftige Arme und Hände -, der ab sofort für das Boot und unser gemeinsames Schicksal verantwortlich sei. Er schlug einen Spaziergang vor, damit ich bei Tageslicht mir ein Bild von der Risiken, aber auch von der Schönheit einer Bootsfahrt auf dem niedern Rheinfluß machen könne, in der Ferne waren am anderen Ufer die holländischen Felder und Kuhweiden erkennbar, „wo der gute Käse wächst“!

Es war Neumond, also absolute Dunkelheit, als wir gegen Mitternacht unterhalb der Kirche ablegten, die preußische Zollstation passierten und langsam, geräuschlos etwa 300 Fuß uns von der Strömung treiben ließen.

Bootführer Robert hatte uns während des Tagesspaziergangs am Ufer außerhalb des Ortes die wichtigsten Verhaltensregeln beigebracht und strahlte nun Zuversicht aus, wenn auch der zunehmende Gegenwind aus Nordwest mich Landratte beunruhigte. Der Rhein wies an dieser Stelle, so hatte ich es der mitgeführten Karte entnommen, eine Breite von über zwölfhundert Fuß auf, im Schutz des hügeligen rechten Ufers konnten wir das Boot auf Kurs halten. Es schaukelte schon mächtig, die ersten Spritzer schlugen über die Bordwand, kleine Pfützen entstanden auf dem Boden, so daß mich Sorge um mein Reisegepäck beschlich, das ich unter der Bank am Heck verstaut hatte. Pässe und Geld waren zwar am Leib untergebracht, aber um die Bücher, Schreibzeug, Karten, Wäsche, die neuen Stiefel, Umhänge, Hüte wäre es doch schade, wenn sie der Rheinstrom verschlingen sollte. Ein Schatten tauchte am Ufer auf – „die Mühle von Höchelten, das letzte Gebäude auf preußischem Boden“ flüsterte uns der Bootsführer zu, „wir lassen uns noch eine Strecke treiben, etwa eine Stunde, bis der Strom enger wird und wir die Überfahrt zum anderen Ufer gefahrlos wagen können“.

Der Gegenwind wurde stärker, Regen setzte ein, peitschte uns in die Gesichter. Nach einer halben Stunde plötzlich fremde Geräusche vor uns in der Dunkelheit – Rufe auf Holländisch, Knirschen von aneinanderreibenden Bootswänden, Klirren von aufeinanderschlagendem Stahl wie Degen oder Speeren. Der Secretarius zog eine Pistole aus der Jacke, wurde aber vom Bootsführer zurückgehalten … „Der holländische Zoll im Kampf mit Schmugglern – wir ziehen uns ans Ufer zurück und warten ab“. Unser Ostfriese nahm‘s gelassen.

Plötzlich Stille, die holländischen Boote entfernten sich, nach einigen hundert Fuß steuerten wir auf die Strommitte zu, die Geschwindigkeit des treibenden Bootes nahm zu, aber unser Ostfriese beherrschte sein Handwerk und wir landeten glücklich am linken Rheinufer. Regen und Sturm ließen nach, der Secretarius zauberte aus einem einsamen, versteckten Bauernhaus zwei Pferde, die uns nach herzlicher Verabschiedung vom Ostfriesen nach Nijmwegen brachten.

Deiner Phantasie, liebe Doro, überlasse ich nun die Erlebnisse auf der Schiffsreise in mehreren Etappen aus Holland nach Nantes, angefüllt mit anstrengenden Lektionen und der Vermittlung praktischer Anweisungen durch den Secretarius, der sich als perfekter Kenner der französischen Lebensweise herausstellte. Wir trennten uns in Nantes, nicht bevor er mich mit Zufriedenheit über den weiteren Landweg nach Paris, den Plan der französischen Hauptstadt und die Kirchen und Friedhöfe, Theater, Schulen und Restaurants des Gebietes zwischen der Kathedrale Notre Dame und der Kirche Saint-Sulpice examiniert hatte. Der Secretarius riet mir zu einem Diener, das verlange der Status und die persönliche Sicherheit, den sollte ich mir aber erst zulegen, nachdem wir beide uns getrennt hatten.

Ich war nun auf mich allein gestellt, durfte keine Fehler begehen, mußte bescheiden auftreten, ohne knausrig zu erscheinen – ein kleiner elsässischer Marquis mit fast echtem Passport und sehr schlechten Deutsch-Kenntnissen, mit einem etwas ältlichen Diener aus Lothringen namens Guillaume – deine Phantasie ist mal wieder gefragt, liebstes Töchterlein

Nun also Paris – Die imposante, aber sehr enge Porte de Buci nahm mich auf. Der Pass ließ bei den Hütern der Stadtgrenzen keine Zweifel aufkommen, die gepflegten drei Rappen, die nur im Gänsemarsch zwischen den beiden Rundtürmen passieren konnten, und der Diener mit dem reichlichen Gepäck zeugten davon, daß ein junger Herr von Stand der Hauptstadt die Ehre eines längeren Aufenthalts erweist.

Eine Herberge im benachbarten Stadtteil Saint-Germain-des-Prés war nicht schwer zu finden, ein geräumiges, praktisch eingerichtetes Zimmer, Rue Garancière, in der ersten Etage für mich mit Blick auf die Kirche Saint-Sulpice, in der benachbarten Kammer war Guillaume untergebracht. Guillaume, den Diener, schickte ich sofort aus, auf dem Markt vor der Kirche die Pferde zu verkaufen, in der Stadt waren sie nicht von Nutzen und wer weiß, wann wir weiterreisen  würden. Der Hausbesitzer war ein betuchter Perückenmacher, dessen Kundschaft ihn mit dem neuesten Hofklatsch belieferte.

Die oder der Verfasser der Instruction wußten, daß dieser Stadtteil von Paris das Viertel der Freigeister mit akademischer Ausbildung und Hoffnung auf ein Amt in der Kirche oder bei Hofe war.  Tagelang umkreiste ich  Saint-Sulpice, ließ mir keine Messe, keine Taufe oder Hochzeitsfeier entgehen, um die besondere Atmosphäre dieser Gemeinde und ihrer Schulen mit allen Sinnen in meine Seele aufzunehmen. Besonders die Hochzeitskapelle, die sacristie des mariages, hatte es mir angetan – über dem kleinen Altartisch aus weißem Marmor nahm die gesamte Fläche ein über fünf Meter hohes, drei Meter breites Gemälde ein, das die Verkündigung der Jungfrau Maria darstellte („La salutation angélique“ sagte die Metallplakette auf dem Rahmen).

Nur von einem Platz in der letzten Bankreihe der Kapelle, unmittelbar neben der eisernen Gittertür, war ich in der Lage, die gesamte Schönheit des Ölbildes auf mich einwirken zu lassen: im Vordergrund rechts mit ausgestreckten, einladenden offenen Armen die auf einem abgestuften Podest knieende Jungfrau Maria – verklärtes Gesicht, halb geschlossene, nach unten gerichtete Augen, züchtig in blau und weiß gekleidete Figur, langes gelocktes blondes Haar. Dutzende weibliche Engel schweben aus den Wolken auf sie zu, auch ihre Körperformen voll in rot und gelb verhüllt, aber doch sinnlich und erregend – kein männliches Wesen präsentiert uns der Künstler, keinen Gottvater, keinen Herrn der Schöpfung, die Riesenfläche ein farbenfreudiger Hymnus an die Weiblichkeit! Ich entwickle ein Verständnis für die französische Art, sich von der gestrengen Gotik und auch von den formalen Regeln der Renaissance-Geometrie zu lösen: die Anbetung der Frau erfordert einen neuen Bildmittelpunkt – den Schooß der Jungfrau, den Maria durch die Öffnung ihrer Arme dem Bildbetrachter anbietet und auf den die betenden Hände der weiblichen Engelsfiguren aus allen Himmelsrichtungen zielen. Die innere Spannung des Gemäldes, das sinnliche Feuer, das mich zu verbrennen scheint, das mich immer wieder anzieht, so daß ich mehrere Tage lang die Kapelle aufsuche und mich hineinschleiche, auch wenn keine Trauung stattfindet – die Entschleierung des fraulichen Körpers, ist es das, was die Kunstwelt Barock nennt?

Am dritten Tage entdecke ich am Ende der Trauungszeremonie in der Bank vor mir einen jungen Mann, den ich hier schon gesehen hatte und der vermutlich auch durch das Altarbild gefesselt war. Schwarz gekleidet, vermutlich nur wenig Jahre älter als ich, die Attribute eines Abbés offen zeigend, ohne Bezug zu den zeremoniellen Abläufen in der Kapelle, blickte er unverwandt auf das Bild, ab und an zeichnete er esquisses in ein mitgebrachtes Heft – ließ aber auch seinen Blick dann und wann zu den Gewölben über uns und zu den schmalen hohen Fenstern mit ihren Glasmalereien schweifen – und entdeckte am Ende auch mich, nickte mir freundlich zu, denn er hatte mich als einen seelenverwandten „Dauerbesucher“ und Kunstliebhaber erkannt. Neugierig folgte ich ihm beim Verlassen der Kirche, wir stellten uns einander vor und er – der Ältere –  lud mich zum Essen in das nahegelegene „Anne de Bavière“ ein – du wirst es nicht glauben, so entstand schon in den ersten Tagen meines Paris-Aufenthalts eine für mich wertvolle Freundschaft, von deren Erinnerung ich heute noch participire. Mein neu gewonnerer Abbé-Freund riet mir zu einer nochmailgen Besichtigung von St. Sulpce, da könne er mir ein anderes Gemälde präsentieren – stärker vielleicht im Eindruck als das erste:

Er hatte recht – die Impression war stark.

Das Bild war nicht betitelt, aber meinAbbé meinte, es wurde von der Kirch-Gemeinde „Die Erscheinung des Erlösers vor der Heligen Maria Magdalena“ genannt und von den Frauen besonders verehrt, mit Blumenkränzen verehrt und nach den Messen mit Gesängen bedacht. Der „extra-ordinaire“ Wert des Gemäldes sei auch daran zu erkennen, daß Eingeweihte wie er durch einen geheimen Zugang über eine nur ihnen bekannte steinerne Treppe von der Nebenstraße zu der Kapelle gelangten, in der das Bild hängt – über das Geheimnisvolle in der Person der „Madeleine“ sollte man sich doch austauschen !

Mein neuer Vertrauter war von Adel: mit vollem Namen François Joachim de Pierre de Bernis, hatte die Jesuitenausbildung und das Priesterseminar von Saint-Sulpice vor Kurzem erfolgreich mit der Berufung zum Abbé abgeschlossen. Geboren im Todesjahr des Königs Louis le Grand – 1715 – war er nun schon 23 Jahre alt und harrte der Dinge – den Ruf in ein höheres Amt der Kirche. Da er sich aber mit den Autoritäten bei Hofe durch kritische Schriften und frivole Poesie verkracht hatte, ließ der Ruf auf sich warten. Sein Vorbild sei der ebenfalls durch die Bildungseinrichtungen von Saint-Sulpice geprägte Bischof Fenelon, was mich nicht überraschte, da ich mir in den Gesprächen mit dem Zoll-Secretarius die Lebensläufe der berühmten Absolventen des Priesterseminars und Collège Louis-le-Grand eingeprägt hatte.

Ohne die Verwunderung über diesen Zufall sichtbar werden zu lassen, lauschte ich den Liebeserklärungen des Abbé an jenen Mann der Kirche und der Poesie François Fénelon, dessen Dialoge über die Beredsamkeit, dessen Roman über Telemachos, des Sohnes des Odysseus und dessen bemerkenswerte Essais über das Kräftegleichgewicht in Europa ich schon im Kloster Berge auf Französisch lesen durfte – unbewußt eine guter Einstand in diese Reise.

Hier an dieser Stelle, liebstes Töchterlein, kann ich es mir nicht verkneifen, deinen Josias dafür zu loben, daß er schon in einer seiner ersten wissenschaftlichen Arbeiten, der Bearbeitung und Übertragung ins Deutsche des weithin debattierten „Versuch über den Platonismus der Kirchenväter – Le platonisme devoilé …“ des Matthieu Souverain, sich gründlich mit den französischen Theologen Pierre Daniel Huet, Jean le Clerc und Pierre Jurieu auseinandersetzt, deren Schriften in meinen damaligen Gesprächen mit dem Abbé tagsüber und nächtens nicht fehlen durften .

Theologisch träumte mein Abbé-Freund davon, ein zweiter Blaise Pascal zu werden, zu dessen Grabmal in der Kirche Saint-Etienne-du-Mont de Paris er mich an einem der ersten Tage unserer Bekanntschaft schleppte. Wie er selbst war Blaise ein frühreifes Kind, liebte die Naturwissenschaften, vor allem die Mathematik, strebte nach praktischen Anwendungen z.B. Rechenmaschinen, unterwarf sich aber – gläubig obwohl nicht übertrieben fromm – aus taktischen Gründen den Normen der Kirche. Pascals Vater hatte die außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten seines Sohnes früh erkannt und dessen Ausbildung selbst übernommen.

Wir tauschten gegenseitig Erlebnisse über die frühe Jugend aus, François interessierte sich sehr über das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen in “meiner Heimat“, dem Elsaß, ich war gebannt von seinen lebhaften Schilderungen über seine Familie, über seinen Vater und das Emporkommen seiner Brüder in der Hierarche der Kirche.

Beeindruckt war ich vom Leitspruch seines Vaters: „Lerne zu gehorchen, doch vergiß nicht, daß du nicht dazu geschaffen bist, irgend jemandes Knecht zu sein!“

Noch stärker war ich gefangen von den Proben seiner Dichtkunst, die er beim guten Burgunderwein zum Besten gab – er sitze gerade an einem längeren Gedicht unter dem beinahe ketzerischen Titel „La religion vengée“, der ersten Gesang habe er vor einigen Tagen vollendet – es wäre ihm eine Ehre, ihn mir zu widmen. Lächelnd vertraute er mir an, nicht nur in Paris sondern in ganz Frankreich den Ehrennamen eines LIBERTIN, eines Freigeistes anzustreben. Sein Vater wäre darüber nicht glücklich, aber im Visier habe er solche Bekanntschaften wie den europaweit anerkannten Diplomaten und Kardinal Melchior de Polignac, – um sich und hinter sich einen Schweif von Verwandten und Schmeichlern, die um ein Amt buhlten – manche darunter würden sich nicht am Ruf eines Freigeistes  stören, sondern eine frische Brise geistiger Erneuerung durchaus begrüßen. Ich wagte, ihn nach Wünschen oder auch schon bestehenden Plänen in Bezug auf höhere Kirchenämter zu fragen – er zögerte, verriet mir aber, daß er aus dem Umfeld seines Onkels gehört habe, daß man sich ihn als Domherrn von Brioude in der Auvergne mit etwas Einkommen, auch als Assistent des Bischofs von Clermont vorstellen könne, vorausgesetzt, er werde in nächster Zeit einen umfassenden wissenschaftlichen Essay zum Wirken des großen Sohnes der Auvergne, Blaise  Pascal, herausbringen.

Sein Traum aber wäre Lyon, wo eine Vakanz in der Kathedrale bevorstehe – verbunden mit dem bedeutenden klerikalen Ehrentitel eines Grafen von Lyon. Er nahm mir den feierlichen Schwur des absoluten Schweigens ab, wenn es soweit wäre, würde er mich mit Freude an die Brust drücken und alles in seiner Macht tun, mir auch derartige Dienste zu erweisen – die Gründung und Finanzierung eines Buchverlages.

Die Freundschaft ließ sich also gut an – plötzlich ein Schrecken: François fragte mich nach meinen Vorlieben für guten Elsässer Wein aus: diese Frage hatten wir bei der Vorbereitung nicht auf dem Lehrplan. Ich konnte mich mit dem Hinweis auf ein Gläschen Gewürz-Traminer fürs erste herausreden, hatte aber in den nächsten Tagen Mühe, in Paris in den Boutiquen Proben der „heimatlichen“ Weine zu finden. Der Traminer sagte mir mehr zu als die jeglichen Aromas mangenden trockenen Weißweine wie die PINOTs oder Rießlinge, ich hütete mich aber meinerseits, unsere Gespräche in Richtung Wein oder Elsaß zu lenken. Den blumigen, würzig-pikanten Geschmack hatte ich lange nach meiner Rückkehr ins geliebte Preußen auf der Zunge, so daß ich mir mehrfach in Berlin eine Probe genehmigte und ihn später zum Wein der Familie erklärte – woran du mein Mädchen dich gewiß erinnerst. Die Weinberge zwischen Straßburg und Colmar habe ich – Jahrzehnte später aber wieder im Sonderauftrag meines Königs – besucht – tausend Genüsse, die ich jedem nur empfehlen kann – insbesondere jenes Traminer-Heimatdorf Equisheim bei Colmar. Über diesen Auftrag aber darf ich nichts sagen und nichts schreiben, denn das Geheim-Treffen damals in Colmar mit einer gewissen Person, der es inzwischen zum französischen Außenminister und Kardinal gebracht hatte, ist zu nahe an der Gegenwart, an der für Preußen siegreichen und für Frankreich schicksalhaften Bataille von Roßbach und  Du als denkende Person kannst 1+1 zusammenzählen und weißt, von wem ich rede.

Das Elsaß und die Traminer-Weinberge – Das wäre etwa für dich und Josias, wenn die Kinder etwas größer sind. Übrigens verriet mir unser geliebter Abt des Klosters Bergen, als er mich in die Residenz Berlin entließ, daß er oft ein Gläschen Elsässer Gewürztraminer nach dem Mittagessen zu sich nahm, „um die Verdauung anzuregen“.

(Es gibt auch eine zweite Erklärung zum TRICLINIUM – hat Esaias ein erotisches Erlebnis in Paris und hat er der Familie ein schönes Märchen aufgetischt mit Pesne etc.?)

Unwillkürlich erinnere ich mich während der Abende mit François an die Anekdoten, die mir der Zoll-Secretarius im Schlößchen von Emmerich über jene Katharina erzählt hatte, die den König von Preußen im Lotterbett durch Liebeskünste dazu brachte, ihren Ehemann zum Reichsgrafen von Wartenberg zu machen und schließlich zum preußischen Premierminister zu bestellen. Die Welt ist klein, die Wege zum Ruhm, zum großen Geld, zur Herrschaft sind überall die gleichen. Je besser ich François kennen lerne, desto mehr traue ich ihm zu, kluge, strategisch denkende Frauen in seine künftige Laufbahn einzuplanen. Aber das konnte ich beileibe nicht mit ihm bereden!

Die Tage und Wochen von Paris vergehen wie Nichts zwischen Besuchen von Kirchen, langen Abenden in den Salons der Damen von Stand mit ihrem Geplauder über die letzten Entwicklungen der Liaisons auf hoher und höchster Ebene, Ausflügen auf dem Land.

Ich lerne schnell: Hier im Umkreis der Pariser Kirche Saint-Sulpice wachsen sie heran, erhalten sie die nötige gediegene Bildung und das Herrschaftswissen, die künftigen Erzbischöfe und Kardinäle, Staatssecretaire am Hofe des Königs von Frankreich, die über Krieg und Frieden, Bündnisse und Gegenbündnisse entscheiden werden, über die Balancen und Gleichgewichte im europäischen Mächtespiel. Zum Studium dieser Regeln und künftig handelnden Personen hatte mich der Kronprinz hierher gesandt. Ich würde ihn nicht enttäuschen.

François wird zu meinem Exempel, an dem ich meine Lektionen abarbeite – ich leihe dem Abbé und Poeten Geld, kaufe ihm auch Manuskripte ab, u.a. eine Kopie des unveröffentlichten Poems „Die strafende Religion“, schenke ihm unter Vorwänden Geld und Schmuck, – mehrfach – nicht zum Spielen, sondern um schönen Frauen wertvolle Geschenke zu machen, um sich in die Kreise einladen, denen er später die geistlichen Ämter zu abkaufen wird und ihm eine Reise nach Turin zu ermöglichen, zu der er mich als Begleiter einlädt. Wir streifen über die Märkte, wühlen durch die Berge von Büchern, suchen nach kleinen Geschenken für den anderen, machen uns gegenseitig aufmerksam auf interessante Drucke, Schmuckstücke, Stadtpläne und Landkarten. Ein Händler unter einem Sonnendach am Ufer der Seine bietet Holzspielzeug, Münzen aus fremden Ländern und allerlei Lustbarkeiten an – auch Spielkarten, auf die mich François hinweist. Ich folge ihm in den letzten Winkel der Auslage und François greift nach einem Packen, um es mir zu schenken. Nach dem Bummel erklärt er mir bei Rotwein und gutem Käse, welche Bewandtnis es mit diesem Satz Spielkarten hat: es ist das bekannte LICORNE-JEU, das Einhorn-Spiel, das wir in Deutschland nicht kennen.

ZUNEIGUNG – gegenseitige Faszination – liebe zu historischen Karten z.B. Nicolas de Fer u.a. Casale auf dem Weg von Turin nach Venedig, die Karten sind Beilage des Berichts der Reise von 1738

In einer stillen Abendstunde hatte mir François die Beweggründe seiner Reise nach dem piemontesischen Turin ausführlich dargelegt: seit den Zeiten des großen Heinrich IV. sei die Region Piemont-Savoyen der Drehpunkt der europäischen Politik, dynastische Kriege und Heiratsvermittlungen wechselten einander ab; Bourbonen, österreichische und spanische Habsburger, Piemonteser und Savoyarden setzten alle legitimen und illegitimen Mittel, militärische und geheimdienstliche Instrumentarien ein, um sozusagen „aus den Wolken“, aus den Alpenresidenzen und Bergfestungen die Geschicke Europas mitzugestalten.

Wir reisten auf dem Landweg. Zu meiner Verblüffung ging es zunächst nach Norden,  die erste Nacht verbrachten wir in Amiens. Eine gelungene Überraschung – die Kathedrale erwies sich als geräumiger und sogar höher als die von Notre Dame von Paris. Staunend erfuhr ich, dass ein entfernter Verwandter von Francois hier Domherr war, er führte uns am nächsten Morgen drei Stunden in die Geheimnisse der Architektur und der politischen Geschichte dieses Schmuckstücks der Picardie ein. Mit Verschwörermiene geleitete er uns in ein sogfältig verschlossenes Zimmer hinter der Sakristei, öffnete eine auf den ersten Blick nicht sichtbare Tür in der Täfelung und legte einige Holztafeln mit farbenfreudigen Gemälden auf den Tisch. Mittelalterliche Themen, die strahlende Jungfrau Marie mit Jesuskind und sogar einem Einhorn, LA LICORNE, wie der Chanoine stolz erklärte.

Nun vom Norden zum Süden – über Versailles, Clermont, Lyon, Chambéry. Ein Hauch von Luxus umgab uns in der gemieteten Kutsche auf der ersten Etappe nach Versailles – ein Gefühl wie im eigenen Salon, reichlich zu speisen und zu trinken. Zwei Übernachtungen leisteten wir uns im schloßnahen Städtchen, dann war das Budget aufgebraucht.

Vor uns lag die Überquerung der bekannten Alpenpässe am Mont-Cenis, wo auf den Gipfelhöhen auch im Sommer noch Schnee und Eis von den letzten Wintern liegen. In Lanslebourg, dem letzten Ort vor dem Pass mieteten wir drei Esel. In der Ferne grüßte der  farbenfreudige Bergsee von Mont-Cenis, von dort gab es schon seit dem Mittelalter einen vielbenutzten Pass nach Savoyen, Piemont und Italien. Der ausgefahrene Weg für die Wagentransporte und die Post führte auf der Ostseite des Sees entlang – etwa zwei Kilometer, dann begann der Serpentinenaufgang bis zum Pass, wo die Grenze verläuft.

Vom Hauptweg zweigte am Nordende des Sees ein schmaler Pfad ab, der am Westufer verlief und nach einer Steigung quer über mehrere Bergweiden unterhalb der letzten Serpentine auf den Hauptweg noch vor Erreichen der Grenzmarkierung zurückführte – vermutlich eine Schmuggler-Route.

Wir begannen den Aufstieg zum Pass unterhalb des Gipfels – Jeder Meter Höhengewinn, jede neue scharfe Biegung des engen Steges veränderte den Blick auf das hinter uns liegende Tal, verwandelte die Farben des Himmels und ihre Spiegelung im See, ließ aus hellem Himmelsblau und dem Nadelgrün der Kiefern und Sträucher ein dunkles Violett werden und aus dem Gelbgrün der Blütenfelder hinter den Almwiesen Töne zwischen Türkis und Orange. Unsere Lobeshymnen auf die Wunderwerke der Schöpfung des Herrn überboten sich – ein Anlaß für stundenlange theologische Gespräche, bis wir erschöpft auf dem Gipfel des Mont-Cenis in das weiche Gras sanken. Für einen katholischen Priester erwies sich mein Gesprächspartner als wenig orthodox, der jesuitischen Dogmatik abgeneigt – insbesondere wenn es um die verhängnisvolle  Rolle der Kirchenväter, die Stellung der Frau in den christlichen Urgemeinden und auch um die Poesie in den Liedern und Psalmen des Alten Testaments ging. François führte Persönlichkeiten an, die zwei Generationen vor ihm Absolventen vom Priesterseminar Saint-Sulpice waren und heute seine Vorbilder für soziales und kulturelles Wirken sind: Fenelon, Nivers, de la Fosse, Montfort. Hier wurde mir klar, daß mein Kronprinz von Rheinsberg diese Personen kannte und mich deshalb in die Nähe des Pariser Seminars schickte: Friedrich sucht Gleichgesinnte seiner Generation als Absolventen von Saint-Sulpice.

Sieh‘ an, dachte ich bei mir, der kleine Abbé, wie er sich auskennt in der hohen Politik, in der Geschichte der weit verzweigten Dynasten in diesem Grenzgebiet von Italien und Frankreich. Noch mehr erstaunte ich, als er mir in allen Einzelheiten die Meisterwerke des großen Festungsbau-Ingenieurs Vauban erläuterte. Er muß es mir wohl an der Nasenspitze angesehen haben, wie sehr mich seine Kenntnisse verwunderten – kurz, er schlug eine Änderung unsrer Reisepläne vor – anstelle stracks nach dem Erreichen des Gipfelpasses weiter auf dem kürzesten Weg in Richtung Turin zu fahren, könnten wir doch Vaubans Perle der Bergfestungen Mont Dauphin besichtigen. Diese Steine müsse ich unbedingt anfassen!

Angekommen in Montdauphin nach einer sehr beschwerlichen Tour durchs Hochgebirge beschaffte sich François im Pfarrhaus die Schlüssel zur Kirche. Eine kräftige, schöne junge Frau mit schwerem Busen und breiten Hüften schloss uns die Eichentür von „Saint Louis“ auf, das Innere der geräumigen Kirche war von drei Seiten gut ausgeleuchtet, kein Wunder bei den hohen durch keinerlei dunkle Glasmalerei in seiner Wirkung behinderten Fenstern.

Die junge Frau war vermutlich die Geliebte des Priesters,  offiziell seine Hausangestellte und Köchin, vermutlich auch die Mutter mehrerer Kinder des Priesters – Wir sind in der tiefsten Provinz– und wir sind in einer Region in der bis heute die einfachen, familienbezogenen, urchristlichen Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben auch für Priester noch aus der Zeit der Katharer und anderer Ketzerbewegungen Gültigkeit haben.
François war angezogen von dieser Frau – das spürte ich vom ersten Augenblick an. Ich wagte es nicht, ihn darauf anzusprechen aber ich sah es deutlich an seinen begehrlichen, der Frau sehr zugeneigten Gesichtszügen und der Art wie er sich ihr immer wieder näherte, um sie und ihre drei Kleinen herumscharwenzelte.  Verwunderlich, aber erklärlich, wie mein Abbé-Freund stets  aufs Neue gegenüber der reizenden jungen Mutter, die übrigens sogar Madeleine hieß,  von der Familie Christi, von der Liebe der Marie Madeleine und der anderen jungen Frauen aus der Schar der Jesus-Anhänger zum Heiland und der Nächstenliebe sprach und in den Begriff Nächstenliebe sehr deutlich auch das verbotene „Begehren des Nächsten Weibes“ heraus zu hören war.  

Als der Priester zu uns stieß nahm das Gespräch eine Wendung hin zu Architektur, Baugeschichte und der vollständigen Abhängigkeit der Gemeinde vom Militär. Der Priester meinte, daß Vauban ganz planmäßig die wenige Seelen umfassende Gemeinde aus dem Dämmerschlaf gerissen habe mit seiner Entscheidung, im gesamten Gebiet der französischen Alpen zur Abwehr von Angriffen aus Piemont oder Mailand nur eine einzige befestigte Stadt neu anzulegen und das sei eben Montdauphin geworden.

Bis heute sei man mit den Bauarbeiten nicht fertig geworden – der Kirchenbau, das heißt Chorgebäude und Glockenturm stehe überhaupt erst dreißig Jahre, man rieche den frischen Mörtel förmlich!  Vor allem nach dem Tode des Sonnenkönigs – was er mit einem bedrohlichen Unterton sagte – sei das Militär zunehmend rücksichtsloser gegenüber den Menschen dieser Berg-Region geworden. Die Italiener seien zu schwach um Feinde zu sein – er sagte nicht Italiener – er sagte Genuesen, Mantuaner, Mailänder. Überhaupt sei die Kirche den Prinzipien des Militärbauwesens in ihrer maßlosen Geräumigkeit, in ihrer Schmucklosigkeit geschuldet. Vauban sei eben kein Mann der Kirche gewesen, sondern ein Mann des Geldes, der Architektur und natürlich auch der Feder.

Dennoch müsse man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen – er wird wohl auch zuständig gewesen sein für die Auswahl der Heiligen von denen man fünf auf Podesten an der weißen Putz-Wand hinter dem Altar aufgestellt hatte und zu denen ganz links außen in der Nähe des Taufsteins er auch Ludwig den Heiligen auswählte, den Namenspatron des Gotteshauses.

Der Priester, begleitet von Haushälterin und Kindern, bat uns nach draußen, verschloß die Tür und zeigte uns an der Dachkante eine steinerne hochaufragende Figur, die er pot-à-feu nannte. Francois nickte beifällig, sie unterhielten sich über die seltsame Art wie ein Teil einer militärischen Festung – eine Mischung von Urne und Flammen – auf das Dach eines einer Kirche gelangt war. Ich verstand nichts, ich wusste nicht was ein pot-à-feu war, konnte natürlich meine Unkenntnis des Französischen nicht öffentlich machen – bis heute kann ich mit dem Begriff nichts anfangen. Auch die preußischen Festungs-Ingenieure konnten mir diesen französischen Begriff nicht erklären, sie konnten mit der Direktübersetzung Feuertopf nichts anfangen. Einer rätselte herum und bot als Erklärung an es sei ein Gefäß in dem die Artilleristen das Feuer aufbewahrten an dem sie die Lunten ihre Kanonen immer wieder neu entzündeten. Und dann, eines Tages bei einem Spaziergang in Potsdam traf ich einen Zeichner in dessen Skizzenblock sich architektonische Bauelemente der Potsdamer Schlösser, Pavillons, Denkmäler fanden, auch ein Feuertopf. Ich fragte ihn nach der Bewandtnis und er antwortete das sei ein Merkmal des barocken Baustils: Aus steinernen Vasen, Urnen, Feuertöpfen und Kerzenständer erheben sich Flammen, die Symbol des ewigen Lebens. Am nächsten Tag zeigte er mir den Auszug aus einem französischen Buch über die Ästetik des Barock:

„Le pot à feu est un ornement architectural composé d’un vase en pierre en ronde bosse surmonté d’une flamme.

Ce motif, utilisé surtout à partir du xvie siècle, se retrouve principalement dans l’architecture classique et dans l’architecture baroque ; il est inspiré de pièces d’artifice en forme de pot et remplies de fusées. Il est habituellement placé en amortissement.

Dans l’art funéraire, il désigne l’urne à flamme, appelée aussi torchère ou cassolette, vase d’où jaillit la flamme éternelle du souvenir.

Le pot à feu dans l’architecture baroque religieuse

Dans l’architecture baroque religieuse, les pots à feu sont fréquemment utilisés pour sommer les frontons à volutes qui couronnent les façades des églises baroques.

France

En France, on peut admirer des pots à feu sur les façades de la cathédrale Sainte-Marie-de-l ‚Assomption à Vaison-la-Romaine et de l’abbaye de Saint-Michel en Thiérache dans le département de l’Aisne.

Le pot à feu dans l’architecture baroque civile

À la même époque, les pots à feu sont également utilisés dans l’architecture baroque civile : ils ornent le fronton de plusieurs maisons baroques de la Grand-Place de Bruxelles ainsi que la cour de marbre et la cour royale du château de Versailles, où on n’en compte pas moins de cinquante-huit. On en trouve également sur les bâtiments qui entourent la place Stanislas à Nancy. Ils sont également l’ornement des toitures de l’Hôtel-Dieu de Carpentras, où l’on peut en voir six posés au-dessus des rambardes.

Le pot à feu dans l’architecture classique

L’architecture classique recourt également à ce motif ornemental mais de façon plus variée : à l’abbaye de Parc à Louvain, les pots à feu ornent le portail et le clocher alors qu’à la cathédrale Saint-Aubain de Namur, ils décorent les parties latérales de la façade.

En architecture militaire, il est très utilisé avec pièce d’artifice.”

Doch zurück zu Vauban und seinen Alpenbefestigungen.

Sei es wie es sei, nach dieser kurzen Debatte zwischen François und dem Priester wanderten wir die verschiedenen Punkte der Festungsanlagen ab, die Mauern, die Wälle, die Bastionen, das Magazin mit seinen unterirdischen Pulverlagern. Von außen war nun auch verständlich, warum uns der Innenraum des Chores der Kirche einerseits so geräumig erschienen war und der Zugang zum Hauptschiff vermauert erschien: es gab überhaupt kein Kirchenschiff hinter der Mauer, es war den Bauplänen der Festungsarchitekten geopfert worden, was uns bei der Annäherung an die Kirche von der Nordseite entgangen war.

François schien sehr viel zu verstehen von Festungsarchitektur und  Festungsbauwesen, von Belagerungen und Verteidigungen, auch der Priester war wohl belesen in diesen Fragen, so daß diese beiden eine ausführliche Diskussion führten. Ich entschuldigte mich mit bloßer Unkenntnis und auch mit Desinteresse, versuchte aber mir sehr viel einzuprägen über diese Architektur und den damit verbundenen Taktiken der Verteidigung und der Belagerung von Festungen, von Ravelinen, Polygonen, Casamaten, Tenaillen, Caponieren, Sappen, Contre-escarpen.“

Von draußen, vom herzoglichen Park und See dringt Lärm zu mir nach ober unters Dach. Eine KITA-Erzieherin spielt mit den Rangen Verstecken hinter den Büschen. Ich lasse mich gern ablenken – die militärtechnischen Fachbegriffe des 18. Jahrhunderts verursachen mir schon eine ganze Weile einen leichten Schwindel. Der alte Oberkonsistorialrat mausert sich also zum Experten für Festungsarchitektur. Nun begreife ich, dass er doch der Verfasser jenes Handbuchs sein kann, das sich in dem Bündel findet. Ich sehe nach und wahrhaftig – Vauban ist mehrfach angeführt, alle jene Begriffe die Silberschlag im Schreiben an seine Tochter anführt sind zentrale Begriffe in jenem Handbuch. Er hat sich also sein ganzes Leben auch mit der Militärwissenschaft beschäftigt, vielleicht war er sogar auch noch später auf geheimer Mission für seinen König in Frankreich oder anderen europäischen Ländern unterwegs. In Amerika oder Persien wird er ja nicht gewesen sein, diese Zeit hätte ihm seine Tätigkeit in Berlin nicht gelassen. Also sehen wir weiter in dem Schreiben, vielleicht gibt es am Ende noch Hinweise diesbezüglich:

„Zwei Tage gönnten wir uns Ruhe in der Berglandschaft, kühlten die Füße im eiskalten Wasser des Guil, pflückten ein Sträußchen Edelweiß, das der närrische François, eingebunden in drei Zweige der Latschenkiefer, errötend der schönen Haushälterin des Priesters ans Mieder steckte. Er konnte sich nur mit Mühe zur Weiterreise aufraffen.

Das Hochgebirge im Herbst. Wir nahmen uns Zeit zum Genießen dieser Naturwunder. Ewiges, meterdickes blau-graues Eis in den Höhentälern, noch einzelne von den Stürmen niedergedrückte Bäume und Sträucher, Kühe, Ziegen, Schafe, allerlei wildes Getier, verlockende Pilze in den weichen Moosen.

Rechtzeitig vor Einbruch des Winters erreichten wir Turin. Meine Neugier auf diese von Franzosen und Italienern gleichermaßen beanspruchten Residenzstadt war riesig. „Abbé, was bedeutet für Sie die Residenz und Stadt Turin?“ François antwortete nur mit einem Wort auf meine direkte Frage beim Passieren des Stadttores: – „Christine und ihr Geliebter Philippe“. Beim Anblick meiner fragenden Miene steuerte er auf ein kleines Restaurant gleich hinter dem Tor zu und erklärte dem historisch Unkundigen in allen Einzelheiten das komplizierte Beziehungsgeflecht der Dynastien der Bourbonen, Savoyer, Piemontesen, verwies nach jedem dritten Satz auf das politische Ränkespiel der Kardinäle, Erzbischöfe, Weihbischöfe seit der Ablösung der Familie Valois durch die Familie Bourbon auf dem französischen Thron. Da er nach dem ersten Glas Wein immer noch im Allgemeinen schwelgte, kritzelte ich „Chrétienne“ auf die Tischplatte. Er lachte lauthals und beglückwünschte mich zu dieser wie er meinte metaphysischen Logik, die eines Thomas von Aquin würdig sei – Chrétienne sei die französische Urform des Namens Christine, auf den die Tochter des großen Henri IV, des Henri de Navarre getauft worden war, als Minderjährige aus sehr durchsichtigen dynastischen Erwägungen des Kardinals Richelieu verheiratet mit dem herzoglichen Prinzen Victor-Amédée von Piemont, dem sie schon mit 16 Jahren den erwünschten Thronfolger gebar. Der Vollzug der Ehe war reduziert auf die Begegnungen zur Hervorbringung weiterer legitimer Kinder, so daß sich Christine den Grafen, Gardeleutnant, Tanzmeister, Choreographen und Politiker Philipp d‘Agliè, comte de Saint-Martin, zum Liebhaber erkor. Mehr als drei Jahre mußte Philipp, entführt auf Geheiß der Pariser und Turiner Rivalen, hinter den Mauern der Festung Vincennes verschwinden, bevor er aufgrund politischer Veränderungen wieder in die Arme, in das Bett seiner Herzogin Christine und in die Machtpositionen am Hofe zurückkehren konnte.

François‘ Augen leuchteten, diese Herzogin von königlichem Geblüt war sein Idol, ihre Bauten und Gärten in Turin und Umgebung wanderte er mit mir auf und ab – das Schloß Valentino am Ufer des Po, die von ihr angelegten Gärten in den Schloßanlagen von Moncalieri, den vignoble unterhalb des Kapuzinerbergs.

Doro, geliebtes Mädchen, es klingt alles wunderlich, aber mein Gedächtnis arbeitet noch perfect. Ich lege dir einen Bogen aus dem in Hannover um 1740 erschienenen Reisebuch des Johann Georg Keyßler bei („Neuste Reise durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweitz, Italien und Lothringen“, Kapitel XXII und XXIII), in dem er Christines Wirken für Turins Bauten und Gärten ausführlichst beschreibt, aber auch die „vielen Wollüsten und sündlichen Unordnungen“ nicht unerwähnt läßt. Er hebt besonders die Form eines Amphitheaters hervor, in die der Garten e la Vigne gefaßt wurde – von der aber heute nicht mehr zu sehen ist. Er würdigt auch die Anpflanzung solcher Baumsorten in der Alpenregion durch die Herzogin wie Zypressen, Zedern, Lorbeer, Pappeln, Pinien, SCHILF und RIEDGRAS, Platanen, Weißbuchen, Ulmen, Zitronenbäume. Buchsbaumhecken und Spaliere aus verschiedenen Obsthölzern tragen zur abwechslungsreichen Gestaltung der Wege bei, ergänzt durch Fontänen und schattenspendende gewundene Pergola-pfade.  Wie du erkennst, hat der Wanderschreiber Keyßler dort mehr historische Tiefe, wo es auf das Verhältnis der Gartenbaukunst und der Wasserwerke zwischen der italienischen Renaissance, spürbar in den Übernahmen aus Florenz und Neapel, und dem französisch-klassischen Barock ankommt.

Mir scheint, liebste Doro, du bist verwundert über die Ausführlichkeit meiner Erzählung. Aber es ist nötig, damit du meine (und auch Josias‘) strenge weltanschauliche Opposition gegen die erbärmlichen Orthodoxen in Berlin, Halle und auch Frankfurt verstehst. Wir müssen unseren Blick weiten über die Landesgrenzen, aber ebenso über die Grenzen unseres wissenschaftlichen Faches hinaus! Naturkunde, Gartenbau, Weinbaukunde – das sind auch für Theologen und Grundschullehrer unverzichtbare Bestandteile ihres Wissens. Nicht nur die Herzogin Christine und ihre Geliebter Philippe, auch der Mönch, Architekt und Gartenbaumeister Andrea Costaguta waren für François und mich bei den Turiner Spaziergängen Vorbilder eines echten christlichen Verhaltens, einer gelebten Toleranz. À-propos François – der Zufall, der ihn mir in Paris zuspielte, ist wohl kaum mit Gottes Vorsehung auf Leibnizsche Art zu erklären, es war eben Glück! Auch Friedrichs „Sonderbotschafter“ und „Aufklärer“ müssen manchmal Glückskinder sein.

Nun waren wir endlich in Turin angekommen. Die Residenz der Fürstengeschlechter aus Savoyen, Piemont, Sizilien und Sardinien imponiert durch die gelungene Mischung der Baustile, Lebensweisen und natürlich der Speisekarten. Selbst die Burgunder und die jeweiligen dominierenden Fürstenfamilien des Heiligen Römischen Reiches hinterließen seit dem Mittelalter nicht nur den Herzogstitel, sondern auch ihre kulturellen Spuren. Unsere Ankunft fiel in eine Zeit der politischen Unruhen, in die der Friedensvertrag von Utrecht alle bis dahin der spanischen Krone zugehörigen und nun anderen Fürstentümern angeschlossenen sogenannten “Nebenlande“ geschleudert hatte. Dynastische Erwägungen siegten über die geographische Vernunft, in Turin tummelten sich nun seit über zwei Jahrzehnten die offenen und geheimen Agenten aller europäischen Großmächte, um ein ordentliches Stück vom ehemals groß-spanischen Kuchen abzubekommen. Kaum hatten wir die altrömische Porta Palatina passiert, wurden wir von Händlern, Herbergsvätern, umlagert, die ein fettes Geschäft witterten, die Abbé-Bekleidung meines Freundes schien vielversprechend. „Ich sollte schnellstens mein habit tauschen,“ flüsterte François, „hinter uns sehe ich zwei Figuren, die uns nichts verkaufen wollen, sondern vermutlich als Geheimagenten der Habsburger oder des Sultans auf unsere Spur gesetzt wurden. Da ich mich mit Freunden verabredet habe, bin ich nicht an einem neugierigen Gefolge interessiert. Lass uns auseinandergehen, wir finden uns wieder – morgen Mittag in der neuen Kirche auf dem Hügel außerhalb der Stadt, der Chiesa Madonna di Superga, die uns schon von weitem aufgefallen war“.

François kennt sich in der Geschichte aus, unübertroffen wie er die Namen der Fürsten und ihrer Mätressen herunterspult. Erst vor kurzem ist der kunstliebende und verschwenderische König Vittorio Amadeo vom Thron gestoßen worden – übrigens der Schöpfer dieser Kirche -, „zerrieben zwischen den Mühlsteinen der neidischen benachbarten Potentaten und der sehr mächtigen weiter entfernten europäischen Großen – der Engländer, Schweden und neuerdings auch der Russen und Preußen.“ Überraschend für mich war ein Detail, das François preisgab: die Idee jenes Fürsten Vittorio Amadeo, der erst 1714 die Königskrone erwarb – die Zelte seiner Residenz im sizilianischen Messina aufzuschlagen, aber angesichts der unsicheren Zukunft der sizilianischen Besitzungen sich in das angestammte Familienerbe Turin zurückzuziehen und anstelle einer kleinen bescheidenen Votivkirche eine prachtvolle, weithin sichtbare und ausstrahlende Basilika auf dem Berg über Turin bauen zu lassen.

„Mein lieber Louis, Turin ist von der Vorsehung bestimmt, französisch zu werden wie deine Heimat, das Elsaß – sollte mich irgendwann das Schicksal auf einen entscheidenden Posten bei Hofe setzen, werde ich alles tun, die Metropole Turin von den deutschen Bindungen zu befreien.“ Als wir beim Gang durch die Innenstadt am Schloß Valentino angekommen waren, setzte er fort: „Sehen Sie diese wunderbare französische Architektur der Bourbonen! Würde das Ensemble nicht an die Ufer der Loire passen? Lesen Sie alles, was Sie über die Herzogin Christine in die Hände bekommen – die Tochter des großen Henri IV! Ich werde ihr Werk vollenden!“

Das Schmuckstück Valentino: Seine Form verdankt das Schloss jener Herzogin Christine. Die sich von 1633 bis 1660 hinziehenden Arbeiten wurden nach Plänen von Carlo Castellamonte und seinem Sohn Amadeo ausgeführt, die auch für das früh entwickelte, so einheitliche städtebauliche Erscheinungsbild Turins verantwortlich waren. Der Herkunft Christinas entsprechend weist auch der Bau Eigenheiten der zeitgenössischen französischen Architektur auf: die um einen hufeisenförmigen Cour d’honneur gelegte Grundrissanordnung, die turmartig betonten Eckpavillons und die steilen, von Giebelgauben besetzten Dächer. Schmunzelnd formulierte François – wenigstens in der Architektur konnte Christine Rache nehmen für die französische Niederlage vom September 1705 im Spanischen Erbfolgekrieg gegen die Habsburger.

Christine steht für die klugen Frauen jener Periode – als Tochter des großen Henri IV hatte sie Mut, politisches Talent, strategisches Denken – und Erotik – als Waffen der Frau mitbekommen. Ich spürte bei François eine heimliche Bewunderung! Würde er als Mann der Kirche zögern, die Liebe zu den Frauen politisch als Instrument einzusetzen, wenn ihn die Vorsehung an eine entscheidende Stelle der französischen Politik setzt?

Der Blick vom Hügel der Kirche, flocht François ein, war eine gelungene Fortsetzung der Stimmung jenes himmlischen Panoramas am Fuße des Mont Cenis  – die himmlischen Höhen, die Nähe zu den Engeln und zu Gott – François erwähnte sehr oft den großen Heinrich von Navarra,  dessen Herkunft aus der rauhen und göttlichen Hochgebirgslandschaft der Pyrenäen und der Erziehung in den jahrhundertealten religiösen Traditionen der Katharer seine Entscheidungen als französischer Herrscher grundlegend geprägt hatten.

Während François über seine eigenen Erzählungen ins Schwärmen geriet, erfaßte mich unwillkürlich ein emotionaler Sog zurück in die Kindheit, in die väterlich-heimatliche Umgebung der von leichten Erhebungen durchsetzten Ebenen des Vorharzes.

Diese durch die abschmelzenden Eismassen vor Tausenden von Jahren abgeflachten Landschaften des Nordens zwischen Magdeburg, Berlin und Frankfurt haben mich ein Leben lang niedergedrückt, mir den Atem genommen. Wäre nicht der Vater gewesen mit seiner strengen Forderung, jeden Sonntag bei Wind und Wetter, sommers und winters, in die Berge zu fliehen. Doro, du hast den Ascherslebener Großvater noch gekannt, der Arzt, Philosoph und Naturforscher in einem war. Die ausschweifenden Erzählungen des französischen Abbé ließen mich träumen von den damaligen Ausflügen in die Berge, immer schwere Rucksäcke und darin die Hämmer für die Mineralien, die Vater bestimmen konnte. Ich träumte von den Pferden, zuerst hinter den Vater geklemmt, dann auf meinem eigenen Schimmel. Ich träumte von den Panoramasichten von den Bergen bei Ballenstedt, vom Falkenstein, vom Hügel, den man in Flachländer Übertreibung Froser Berg nannte.

Ich beobachtete François, wie er von den Gebirgen sprach. Auch er ist ein Mann der Berge, geboren und aufgewachsen im Süden, an der Rhône im Vivarais an der Ardéche, hügeliges Land mit einigen Vulkanen. Einer seiner Hauslehrer, der später guter Mediziner und Apotheker wurde, entdeckte bei ihm Liebe zur Natur und zur Malerei, sie zeichneten und malten in der freien Natur, gingen in die Berge. Später in Paris bei den Jesuiten fehlten ihm – wie auch mir – die Berge, die Flüsse, die Tiere und Pflanzen der freien Natur.

In einer der historischen Kirchen Turins war mir ein Gemälde aufgefallen, als Hauptfigur die antike Göttin Minerva – sie trug deine Gesichtszüge! Auch wenn du mich einen lieben Schwindler nennst – es ist die reine Wahrheit. Den Künstler habe ich vergessen oder dort in der Kirche nicht erfahren können. Einer der Begleiter deutete die Figur der Minerva als Symbol für jene berühmte Herzogin Christine: in  der Rechten das Schwert der Gerechtigkeit und der militärischen Taktik – müßte um 1630 entstanden sein. Das war jenes schicksalsschwangere Jahr, in dem Christine, die Tochter des französischen Königs regierende Herzogin Savoyens wurde. Minerva ist Symbol des Sieges, der erfolgreichen Staatslenkerin!

François stellte mich zwei Freunden vor, ebenfalls Absolventen des Pariser Collège Louis le Grand und wie er sehr an Architektur und Kunst interessiert, die an der französischen Gesandtschaft beim Heiligen Stuhl als Sekretäre tätig gewesen waren, hier in Turin eine Anstellung suchten, aber bisher erfolglos an den Portalen der Macht angeklopft hatten. Da diese Art der Bemühungen um einen Aufstieg im kirchlichen oder fürstlichen Machtgefüge meine Gefühlswelt arg belastete, verabschiedete ich mich bald unter heiligen Treuschwüren der ewigen Freundschaft in Richtung Venedig.

An Erkenntnissen für meinen Kronprinzen hatte ich aus der Beobachtung der vielfältigen diplomatischen, militärischen, kulturellen Begegnungen am Turiner Hofe, diesem bedeutenden Drehpunkt zwischen Mittelmeer, Kaiserreich, Westeuropa schon nach fünf Tagen genug gesehen und aufgenommen.

(En passant, liebes Töchterchen: Friedrich II zögert trotz Gleichgewichtstheorem und Friedensliebe nicht, angesichts existentieller äußerer Bedrohung Preußens präventiv militärisch zuzuschlagen – 1740 gegen Österreich und 1756 gegen die Koalition Frankreich, Österreich und Russland)

Nun war ich allein – nach den unzähligen Wochen der Gemeinsamkeit mit dem Abbé! – Daran mußte ich mich erst gewöhnen. Entsprechend der Instruction sollte ich ohne weiteren Aufenthalt mit der Post nach Venedig reisen, befand mich aber nun in einem Gewissenskonflikt. Nur etwa 30 Meilen von Turin entfernt lag die Festung Casal am Wege, es war kein Umweg nötig, aber ich nahm mir entgegen der strengen zentralen Ordre zwei Tage Zeit, die in Montdauphin neuerworbenen Kenntnisse über Festungsbau und Festungsarchitektur zu überprüfen – liebe Doro, ich hatte mich in diese Themen verliebt! Die Genialität eines Vauban, die technischen Raffinessen der Offiziere der Génie-Abteilungen, der Sprengstoffspezialisten der französischen Armee hatten mich in wenigen Wochen so angezogen, daß ich mich in meinen Träumen sogar in französischer Uniform sah.

Die Postkutsche lud mich und mein Gepäck am Marktplatz aus, vom Zimmer in der Herberge Zum wilden Schaf sprang mir sofort der Anblick der Festung ins Auge, aber die Erfahrungen von Montdauphin lenkten meine Schritte zuerst in den Dom, um einen geschichtskundigen Priester, möglichst auch mit einigen militärtechnischen Kenntnissen, zu finden. Wieder einmal war mir das Glück hold – ein wohlbeleibter Monsignore erbot sich zu einer Führung am nächsten Morgen – Kirche und Festung für einen Tageslohn.

Der Ort Casale Monferrato, wie er im Italienischen sich nennt, ist schon seit Jahrhunderten städtisch, hier kreuzen sich die Straßen von Turin nach Mailand, von Genua an den Genfer See und nach Luzern, Bern und Zürich. Seit dem Ausgang des Mittelalters ist dieser Platz durch die Markgrafen, später Herzöge von Monferrato beansprucht.

Eine Bemerkung des Abbé hatte ich mir eingeprägt – wenn du Christine, die Herzogin von königlichem Geblüt verstehen wills, mußt du irgendwann neben Turin die Städte Casale, Pignerol und Cherasco besuchen. Und er setzte hinzu: besonders das idyllische Gebirgsstädtchen Casal sei mit dem westfälischen Frieden 1648 zur neuen Drehscheibe der europäischen Verbindungen geworden, da sich durch die Verschiebung der großen Handelsströme weg vom Mittelmeer hin zum Nordatlantik Frankreich und England zu den Hauptakteuren wurden – aus dem Nord- und Westwind wurden Stürme, die sich aus dem Süden nach Nordwesten drehten – in Casal und Cherasco kann man sie riechen!  

(Liebste Doro, jenen Geruch habe ich seitdem in meiner politischen Nase!)
– Und wieso Pignerol? – fragte ich nach.
– Diesen Namen lernt jeder künftige Offizier, Abbé oder Steuereinnehmer schon in der ersten Geschichtsstunde von seinem Privatlehrer!

Nebenbei ließ er einfließen, daß auch Pignerol den Historikern des französischen Königreiches eine Zeile wert ist – die Festung war für den prominenten Staatsfeind Nummer eins des Sonnenkönigs, den ehemaligen Finanzminister Nicolas Fouquet, den Gegenspieler des großen Colbert, Gefängnisort für 15 Jahre – und Brutstätte von Gerüchten in Versailles, Fontainebleau und den Schlössern an der Loire zufolge auch der Aufenthaltsort des berüchtigten „Gefangenen hinter der eisernen Maske“. LOYALITÄT ! Jedes dritte Wort der Erzählungen meines französischen Freundes bezieht sich direkt oder indirekt auf diese Tugend, die ein werdender Staatsmann beherzigen müßte. Illoyalität – diese Untugend brach dem Finanzstrategen Fouquet das Genick, Loyalität – führte die Kardinäle Richelieu und Mazarin und den Politiker Colbert an die Spitze der Staatspyramide Frankreichs – unmittelbar neben die Schlafzimmer der Mächtigen.

Es kommt mir auf dem Almwiesen und vor den Felswänden als Erleuchtung: François ist geleitet von einer fanatischen Ambition – ein neuer Richelieu werden – Kardinal-Premierminister – dazu gehört auch Festungsbauwesen wie Vauban, Finanzökonomie, Studium der Lebensläufe der großen Politiker des 17. Jahrhunderts wie Richelieu, Mazarin, Colbert, Fouquet.

Genug sei es nun mit den philosophischen Reminiszenzen.
Auf Venedig hatte ich mich sorgfältig vorbereitet – ein Quartier im Viertel San Marco mußte ich leider ausschlagen, da man den für die Sicherheit des Dogen und seiner oberen Behörden zuständigen Geheimagenten schon verdächtig vorkam, wenn man sich trotz perfekten Passportes direkt unter ihrer Nase bewegte. Also fügte ich mich der Order meines Königs und logierte mich in einer Gasse mit Blick auf das Meer und die Insel Murano hinter der Kirche San Marziale im nördlichen Stadtteil Cannaregio ein – weit weg von San Marco. In der Nachbarschaft hatte ich das Glück, gleich mehrere kleine Kirchen zu finden. Zwei volle Tage mühte ich mich mit dem Italienischen ab, um die biblischen Texte und die Texte in den ausliegenden Gesangbüchern zu verstehen. Verwunderlich, wie oft ich den Namen Maria Maddalena fand. Ob die Venezianer eine besondere Affinität zu dieser Heiligen haben? Sogar eine der Kirchen des Stadtteils ist nach ihr benannt.

Und da war an einem der nahen Kanäle auch eine Wunsch-Taverna  – nachmittags und abends gut besucht, so daß ich mehr als eine Gelegenheit hatte, Gesichtsstudien zu betreiben, die Gestik und Mimik der Italiener zu beobachten und ihren Gesprächen zu lauschen. Am dritten Tag fiel mir ein junger Mann auf, der nach mir eingetreten war und sich – wie ich – im hinteren Teil der Veranda an einem Nebentisch niederließ. Er schrieb eifrig in einem Heft und – zu meiner Überraschung – fertigte Skizzen von Kirchen an. Er bemerkte, daß ich seine Beschäftigung erkannt hatte und – da sein Blick nicht abweisend war – wagte ich mich ihm zu nähern und ein Gespräch auf italienisch zu beginnen. Er schien nicht abgeneigt, ging dann mühelos zum eleganten französisch über, als er mein Stolpern und Stottern beim italienisch mitkriegte. Er sei ein Bibliothekar aus Innsbruck, der einen braunschweigischen Prinzen begleitete, eine Art Reiseführer, Berater in Kirchen-, Theater- und Museumsdingen. Heute habe er seinen freien Tag, da ginge er seinen eigenen Neigungen nach, da könne er den „Chevalier de la solitude“ freien Lauf lassen! Ich zuckte unmerklich zusammen – das war ein Wort, dass der Kronprinz damals im Gespräch mit mir verwendet hatte, um die Eigenart meines Auftrages zu beschreiben. Ich drang nicht weiter in meinen Tischnachbarn ein, hütete mich, ihn auf deutsch anzusprechen – sollte er doch sein inkognito wahren können, wenn er einer des preußischen Vaterlandes Männer war mit dem Auftrag, mich zu beobachten.

Von der Handvoll prächtiger Kirchen, die ich besuchte, ist mir eine besonders in Erinnerung: die Santa Maria Maddalena in Cannaregio, von den Nenezianern auch kurz La Maddalena genannt. Einer der befraghten Priester klärte mich auf: Spätestens 1155 befand sich an der Stelle der heutigen Kirche ein Oratorium, das sich im Besitz der Adelsfamilie Balbo befand, bzw. an der Stelle der ehemaligen Hausburg, des Castel Baffo. Nach dem Ende eines der vier venezianisch-genuesischen Kriege im 14. Jahrhundert beschloss der Senat, alljährlich Feiern zu Ehren der heiligen Maria Magdalena abzuhalten. Dazu wurde das Gebäude erweitert und ein Turm angefügt, aus dem später ein Campanile wurde. An der Außenseite der Apsis befindet sich eine Madonna mit Kind aus dem 15. Jahrhundert. Das Portal erinnert an die Balbo und spielt wahrscheinlich auf deren Rolle im Templerorden an. Um 1701 wurden die Altäre auf Veranlassung des Gemeindepriesters Francesco Riccardi umgebaut. Als der Priester mein besonderes Interesse an Malerei und Bildhauerei bemerkte, vertraute er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, wie glücklich ich mich schätzen durfte, einer der letzten Besucher der Kirche zu sein, werde doch in den nähsten Moinaten der gesamte Innenraum gesperrt! Kein Besucher, kein Mann der Kirche, kein Mitglied der Gemeinde werde eingelassen – der große Giandomenico Tiepolo habe sich diese Bedingung ausbedungen, wenn er in den nächsten Jahren rechts neben dem Eingang im Innenraum ein Gemälde zum Thema „Das Letzte Abendmahl“ eigenhändig anfertigen werde. Liebste Doro, fahre mit Josias und den Kindern nach Venedig und denke an mich, wenn du dieses Meisterwerk bewunderst !

Am dritten Tag – liebste Doro, du kannst mich verstehen – siegte die Neugier, der Leichtsinn über die Vorsicht und über die Instructionen, mit Hilfe des Herbergswirts mietete ich ein kleines Boot, ließ mir von ihm eine grobe Skizze der Kanäle zeichnen und startete am frühen Morgen verwegen eine Erkundungstour auf dem Wasser. Das Rudern und Steuern des Bootes bereitete mir keine Schwierigkeiten, ich war kräftig, konnte mich nach der Sonne orientieren und hatte bald einen der größeren Kanäle erreicht, wendete mich westwärts und bog nach Süden in eine der Rio genannten Hauptgewässer ein. Der Name der sehr breiten Wasserstraße war Rio de Calle Foscari, wie mir ein Schiffer unterhalb einer Brücke verriet und auf das am Wasser gelegene Palais zeigte, von dem der RIO seinen Namen hatte. Ich steuerte in diese Richtung, ließ mich aber von der Ansicht eines schlanken Campanile über den Dächern der hier sehr niedrigen Uferhäuser zum Abbiegen in einen wieder nach Südwesten abgehenden Seitenkanal verleiten. Plötzlich hatte ich die Orientierung verloren, meine Skizze konnte auch nicht helfen. Der Ausweg war: am linken Ufer an Land gehen in der Nähe einer Brücke, den Kahn an einem der Pfähle fest machen und die Lage zu Fuß erkunden. Ich suche jenen Kirchturm, aber die Häuser am Kanal sind verschlossen, doch da ist eine Ruine, durch die ich zwischen den Häusern durchschlüpfen kann und auf einen großen grünen Platz gelange – und da ist mein Kirchturm! Und da ist auch eine nur angelehnte Kirchentür, aus der gerade ein Priester und eine ältere Frau treten – vermutlich nach der Beichte. Sobald sie in der nächsten Gasse verschwinden, nutze ich diese Tür zum Eintritt in die Kirche – zuerst unsicher, es ist sehr dunkel, keine Beleuchtung, ein stechender Schmerz zeigt an, daß da eine Bank steht, aber eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite zeigt den Weg, er führt in einen Innenhof.

Ich bin geblendet – es eröffnet sich mir ein gotischer Kreuzgang von unerhörter Schönheit. Da werde ich hart von drei Seiten gepackt und zu Boden gedrückt – über mir stehen kräftige, in Schwarz gekleidete Burschen, die mir schweigsam Arme und Beine binden, einen stinkenden schwarzen Lappen auf die Augen drücken, mich als Bündel am Boden einige Meter schleifen, dann in ein Loch stoßen, so daß ich sehr schmerzhaft auf den Boden eines vermutlich unterirdischen Gelasses aufschlug. Hier erwarten mich andere brutale Burschen, durchsuchen mich – begleitet von Schlägen – nach Waffen, nach Geld, nach Papieren – erfolglos, sie finden im abgetragenen Gürtel die sorgfältig eingenähten Golddukaten nicht. Die Kerle beginnen mich auszufragen, aber ich kann ihr venezianisch gefärbtes Italienisch nicht verstehen, sie mein Französisch nicht. Sie stellen mir eine Kanne Wasser in den Raum, verschließen ihn und lassen mich im Finstern.

Als die Grobiane am nächsten Tag wieder auftauchen, hatten sie Fackeln in der Hand, legten mir die Augen frei, so daß ich eine ältere Frau in Ordenstracht in ihrer Begleitung sah, die gebrochen Französisch sprach und mir begreiflich machte, dass die Burschen zu meinem Schutz aufgetaucht wären und ich ihre Protektion durch eine anständige Summe Geldes vergüten solle. Da sind sie also, die berüchtigten Räuber Italiens, die mir ans Leder wollen, die auf mein Geld aus sind, die mich also für vermögend halten. Was soll ich tun? Ich gebe ihnen den Namen meiner Herberge, sie sollten sich nach meinen Vermögensverhältnissen erkundigen – die bescheidenen Mittel meines Unterhalts werden ihnen dann sicherlich aufgehen, damit auch die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens, mir etwas abpresssen zu können.

Die nächsten zwei Tage geschah nichts. Man brachte mir angeschimmeltes Brot und dünne Suppe, dazu wüste Beschimpfungen und Prügel. Am dritten Tag wandelte sich die Szenerie – man führte mich durch die Tür und einen längeren Tunnel in die Krypta, die Treppe hinauf in das Kirchenschiff, das nunmehr durch einige Kerzen schwach beleuchtet war, man setzte mich an eine reichlich gedeckte Tafel; anstelle der Grobiane bewirteten mich nun gut gekleidete Diener, die nun auch zu meiner Verwunderung ein verständliches Französisch sprachen. Man möge doch die Verwechslung verzeihen, einer ihrer Kirchendiener habe mich für einen Dieb gehalten und mich mit seinen Kumpanen entsprechend behandelt. 

Mitten in ihrer blumigen Erklärung flog das Portal auf, ein Herr von Stand mit einer Gruppe Bewaffneter schritt majestätisch auf mich zu, nahm meine Hände und führte mich unter wohlgesetzten Reden ins Freie zum Kreuzgang. Die plötzliche Helligkeit, der Duft der Blumen, der vom Kanal kommende Lärm der Händler und die Rufe der Gondelführer überwältigten mich. Da mich keine Macht der Welt in die Dunkelheit meines Kellergewölbes zurückbringen sollte und ich auch das Halbdunkel des Kirchenschiffes fürchtete, wurde der Tisch mit den Leckereien inmitten der Blumenwiese des Kreuzgangs aufgestellt und der elegante Herr erklärte mir und den nunmehr so höflichen Räubern die neue Lage.

Ich verstand nur soviel, daß er der Conte di Ragusa und ich ein in Frankreich studierender Neffe sei und er sich Vorwürfe mache, mich bei diesem Venedig-Besuch nicht genügend beaufsichtigt habe, so daß ich in meinem jugendlichen Ungestüm in diese mißliche Situation geraten sei. Der Vorsteherin des Ordens, die inzwischen herbeigeeilt war, überreichte er einen Geldbeutel zur Unterstützung der Armen und Bedürftigen, wie er salbungsvoll formulierte. Unter derartigen gegenseitigen Versicherungen und körperlichen Verdrehungen, angesichts derer ich mit Mühe ein Lachen unterdrücken konnte, verging fast eine Stunde, das Glockenspiel mahnte uns zum Abschiednehmen, als Unruhe am Portal der Kirche aufkam und die bewaffnete Wache meines Retters sich zu unserem Schutz postierte. Drei Männer wurden hereingeführt, die ein Paket trugen und uns um ein vertrauliches Gespräch baten. Die Mutter Oberin bot ihr Kabinett an und unter dem Schutz unserer Wache verhandelte der „Graf von Ragusa“, der mich als seinen persönlichen Berater hinzuzog, mit zweien der Neuankömmlinge. Zu viert begannen wir – bei Wein und venezianischen Delikatessen – Verhandlungen über Kauf und Verkauf von Dingen, die mir niemals vorher in den Sinn gekommen wären: gestohlene und über die Grenzen geschmuggelte Kunstgegenstände! Für meinen „Grafen“ schien die Situation nicht außergewöhnlich, er bat nur um das Französische als Verhandlungssprache, was uns gewährt wurde. Die beiden „Kaufleute“ öffneten das Paket und wir konnten ihre „Waren“ bewundern – sie entrollten bemalte Leinwände und Holztafeln, öffneten Schatullen mit wertvollem Schmuck, entnahmen kunstvoll gestaltete Bücher aus dicken Stoffverpackungen und antike Münzen aus besonders dafür angefertigten sicheren Behältnissen. Der Graf bat mich, mir die Gemälde auf den ausgerollten Leinwänden anzusehen und sie auf Echtheit zu prüfen, er schien Gefallen an dem Geschäft zu finden.

Lustlos betrachtete ich ein Stück nach dem anderen, das Übliche, was ich in Paris und Turin gesehen hatte – gotische Madonnenbilder, die Heiligen, die gewöhnlichen biblischen Themen. Doch da war etwas – ich blätterte zurück – da ist die mittelgroße Leinwand mit dem Bild der reuigen Maria Magdalena, dunkel gehalten, sinnlicher Ausdruck, lange über die Schultern herunterfließende Locken, dahinter ein großer roter Vorhang, ein wertvoller Spiegel an der Wand und das zerbrochene Gegenstück auf dem Boden – man beachte die Symbolik – sowie der teure Schmuck, verstreut auf dem Tisch und am Boden! 

Du weißt, liebste Doro, da ich seit meiner Kindheit über ein bewundernswertes Bildgedächtnis verfüge, wie mir mein Vater immer wieder versicherte. Was irritierte mich an der Leinwand? Nicht daß es sich um eine schlechte Kopie handelte, die man uns als Original unterschieben wollte, es war etwas anderes, was mir aber nicht sofort einfiel. Ich holte die Erinnerungen an die damaligen Pariser Kirchenwanderungen zurück – da war es: wir hatten diese reuige Sünderin nicht auf Leinwand, sondern farbig hinter Glas gesehen, in einem Metallrahmen die Wand einer Kapelle schmückend! François meinte, diese kleine Glastafel von etwa 21 mal 25 Zoll im Hochformat wäre ursprünglich nicht für eine Kirche angefertigt worden, sondern entspringe vermutlich dem Wunsch eines fürstlichen Liebhabers, seiner Maitresse in ihrem Boudoir ein würdiges Geschenk zu präsentieren. Diese „Madeleine pénitente parisienne – Mpp“, wie sie François vertraulich nannte, war keine außerhalb unserer Welt driftende Heilige, über ihr schwebt zwar ein Heiligenschein, aber das mehrfach verwendete Motiv der Sonne und des Sonnenlichts im Bild deutet auf Louis XIV hin, den „Sonnenkönig“ und seine Maitresse Louise de la Vallière. Für ihn hat Madeleine keine eindeutig erotische Ausstrahlung, für ihn macht die dargestellte Ekstase der Frau mit dem wunderschönen Haar weltliche Anschauung, Meditation, innere Bewegung der Sinne die Wirkung dieses Bildes aus. Auf meinen Rat hin erwarb mein Begleiter die Leinwandkopie, zusammen mit einigen anderen Stücken und Büchern. Später verriet er mir, er habe dieses „Kleinod“ als Original den Sammlungen des Königs in Sanssouci zum Geschenk gemacht, nachdem er es im Sitzkissen seiner Kutsche über mehrere Grenzen bis Potsdam geschmuggelt habe. Engen Vertrauten soll er die Mär aufgetischt haben, das Gemälde stamme aus der Pariser Kirche Saint-Etienne-du-Mont. Leider durfte ich nicht darüber sprechen, wie überhaupt viele Details dieser Reise in meinem Busen verschlossen blieben und verschlossen bleiben werden, auch dir gegenüber. Soviel kann ich nur verschleiert sagen: die von mir gesammelten Erfahrungen im Umgang mit jungen Leuten in Frankreich und Italien konnten von den leitenden Feldjäger-Offizieren und Diplomaten Friedrichs genutzt werden insbesondere für die Gewinnung von solchen ausländischen Mitarbeitern, die aus Bewunderung für unseren König und weniger aus pekuniairen Gründen sich der preußischen Politik verschrieben.

Es war Zeit zum Aufbruch, der Conte zahlte nach hartnäckigem Feilschen, dann schritten wir zu der am Kanal liegenden prächtig geschmückten, mit einem adligen Wappen versehenen und vier livrierten Dieners ausgerüsteten Gondel und schwebten mit den erworbenen Schätzen und meiner teuer erkauften Freiheit davon.

In der Nähe meiner Herberge legten wir an, ich holte meine Habseligkeiten, zahlte das Quartier und wir genossen eine Rundfahrt durch die Kanäle, bewunderten die Paläste und Kirchen und steuerten schließlich am Abend ein Haus an der Ostküste an, in der Nähe des Arsenals – in den nächsten Tagen mein Quartier. Der „Conte“ lüftete unter Verwendung unserer Passworte sein Geheimnis, ließ kein gutes Haar an meiner waaghalsigen Verhaltensweise, die ihm, wie er augenzwinkernd formulierte, nicht nur zwei schlaflose Nächte bereitet hatte, sondern und unserem König zusätzliche Kosten in Höhe von fünfzig Dukaten für meine Befreiung aus den Händen der Räuberbande verursacht hatte.

An einem der nächsten Tage schlug mir der „Conte“, so nannte sich weiterhin mein Begleiter, bei ruhiger See eine Bootsfahrt nach Istrien vor – zu einer antiken römischen, heute venezianischen Fischerinsel namens Insola, das sei eine gute Gelegenheit, sich unbeobachtet und unbelauscht auszutauschen. Der Conte fordert aus dem Stegreif einen ausführlichen mündlichen Zwischenbericht über Erfolge, Mißerfolge, Personen, Schwierigkeiten und auch erste Schlußfolgerungen meiner mehrmonatigen „Studienreise“, wie er es nannte. Aus der Art, wie er sprach, zuhörte, wie er vertrauensvoll mich durch Fragen unterbrach, seine politischen Erklärungen an angemessener Stelle, aus seiner durchscheinenden staatsmännischen Denkweise erkannte ich die Nähe zum Prinzen Friedrich. Dieser Weltmann, der mich beim Rundgang auf der antiken Fischerinsel examinierte und damit über meine Laufbahn in Preußen entschied, war ganz sicher kein Brandenburger Juncker, sein Französisch hatte einen englischen Beigeschmack. Wir verstanden uns prächtig, trotz des großen Altersunterschieds – er hatte nichts Väterlich-Belehrendes, sondern Kollegial-Freundschaftliches. Wie du scharfsinnig erkennst, liebes Töchterchen, muß sein Bericht in Rheinsberg den Kronprinzen Friedrich – trotz der calamité in Venedig – von meinen persönlichen Werten überzeugt haben, denn die Position eines Oberconsistorialraths in Berlin erreicht man nicht durch theologische Spitzfindigkeiten. Übrigens liefen wir uns 15 Jahre später im Park von Sanssouci über den Weg, der Conte und ich – er lud mich in seine Villa, die Posten salutierten und riefen – „Vivat Herr Lord-Marschall“! Du hast es erraten, es war der schottische Hofmarschall George Keith, älterer Buder des im letzten Krieg gefallenen Generals James von Keith. In Erinnerung habe er nach so langer Zeit, wie ich als junger Student in wenigen Tagen in dem Geflecht der diplomatischen, kirchlichen und politischen Kontakte hinter den Kulissen das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden lernte – in Venedig, der Stadt, die die Wiege der neuzeitlichen Diplomatie und geheimen Agententätigkeit ist. Er habe mir das damals auf der Fischerinsel nicht in dieser Deutlichkeit sagen können, solche weitreichenden Beurteilungen habe er seiner Kgl. Hoheit, dem Prinzen Friedrich überlassen müssen.
Nun wurde es Zeit, die Heimreise entsprechend der Instruction vorzubereiten. Ich besprach mich mit dem Grafen und schlug eine Änderung der Route vor: anstelle des vorgeschriebenen Weges über Graz und Salzburg wollte ich die Stecke über Bozen und Innsbruck nehmen – einem Rat meines französischen Freundes François folgend mir das Kirchlein von Rencio mit ihren einmaligen Fresken zum Leben der heiligen Maria Magdalena anzusehen. Der Graf verstand mich auf Anhieb, er versprach dem „Chevalier de la solitude“ die nötigen Nachrichten und Finanzen entlang der neuen Strecke zu postieren – da war es wieder, jenes Wort des Kronprinzen Friedrich, vielleicht das Losungswort der gesamten Reise, dessen schillernden Inhalt ich bis heute nicht in Gänze erfaßt habe.

Der Graf entließ mich seiner Obhut, damit ich noch einige Tage auf eigene Faust persönliche Erfahrungen sammeln und vielleicht auch Bekanntschaften oder gar Freundschaften schließen konnte, die für „Rheinsberg“ künftig Bedeutung haben könnten.  

Für die Route nach Rencio hatte ich mir die sichere Straße über Verona ausgewählt und auch zufällig eine deutsche Gefährtin gefunden – Angelika, ein junge Bildhauerin, die verwegen genug war, allein zu reisen und die sich die Marmorbrüche in der Toscana ansehen wollte. In Verona übernachteten wir in der Postherberge, hatten uns ineinander verliebt – die Vernunft erforderte aber am nächsten Morgen die schmerzhafte Trennung, die Einzelheiten erspare ich dir, liebstes Töchterlein! Von Verona ging es ins Hochgebirge, ins Land der Etsch, ins entlegene Land der Tiroler Bauern, Gemsenjäger und Handwerker. Einmal im Leben die Füße ins eiskalte, blaugrau-weiße spritzige Gletscherwasser tauchen! Welch‘ eine Wonne!

Über dieses Kirchlein bei Bozen, das Ziel meines Abstechers in die Weinberge, hatte mir François Wunderdinge berichtet, nun durfte ich die berühmten Fresken aus dem 14. Jahrhundert mit eigenen Augen sehen! Was mir aber mein französischer Freund nicht verraten hatte, war der absonderliche Standort des Gotteshauses – inmitten eines Weinberges auf dem Hügel, von dem man das Tal der Etsch weithin überblicken konnte. Für ihn war die Art der Darstellung und der Inhalt der Bilder wichtiger als eine solche „Äußerlichkeit“ wie die Lage der Kirche.

Ich mietete mich für einige Nächte in der Postherberge von Bozen ein, suchte einen kundigen Begleiter – einen Priester der Dominikanerkirche der Stadt Bozen, der auch über einen Schlüssel zur Weinbergskirche verfügte. François hatte mir auf den Weg mitgegeben, dass ich besonders auf die Abweichungen in der Bildergeschichte der Maria Magdalena hier im ländlichen Tirol von den üblichen kanonischen Historiendarstellungen in französischen, deutschen und italienischen Stadtkirchen achten solle. Ohne dass François jemals hier gewesen war, konnte er mir sehr anschaulich die Madeleine-Bildfolge in dieser Kirche beschreiben, so dass ich keine Mühe hatte, den Erklärungen meines Führers zu folgen. Ich verstand nun besser als bei den sehr abstrakten Erklärungen der Lehrer in meinen heimatlichen Lateinschulen und im Kloster Berge, warum für die Bergbauern, Winzer und Jäger im Hochgebirge das Leben der Heiligen Maria Magdalena in ihrer zweiten Hälfte – Vertreibung aus dem Heiligen Land, Überfahrt mit dem Boot von Palästina an die französische Mittelmeerküste, die Predigten in Marseille, das Dasein als Eremitin, die Wundertaten – eine größere Nähe hatte als die biblischen Überlieferungen über ihre Beziehungen als Frau und „Sünderin“ zum Heiland, zu Lazarus, zu Marta und insbesondere über ihre Rolle am Morgen des Ostersonntags beim Entdecken des leeren Grabes des Herrn und beim Empfang des Auftrags durch den Engel, die Kenntnis der Auferstehung den Menschen zu verkünden.
Ich legte mich auf den Kirchboden, spürte die Bewegung der Erdkugel und erfasste nun mit allen Sinnen, wie die Anlage der Kirche in der natürlichen Landschaft zwischen den Weinbergen so in göttlicher Harmonie war mit der Demut, die uns Menschen ergreift, wenn wir uns jenen zehn Fresken im Innern der Kirche zum Leben der Heiligen nähern. Außen und innen; Himmel, Erde, Berge um uns herum – in uns aber die Ruhe, die Beständigkeit, die Bescheidenheit, der Blick nach oben, denn diese Fresken sind ja unterm Dach der Kirche angebracht, über den Fenstern und der Tür. Trotz der dürftigen Lichtverhältnisse erregen mich zwei der links unmittelbar nach dem Altarraum benachbarten Bilder ganz besonders. Der Führer erklärte mir die Themen: im ersten Bild predigt Maria Magdalena vor dem bisher heidnischen Fürsten und seiner Gemahlin in Marseille sofort nach der Ankunft aus dem Heiligen Land und im Bild daneben ermahnt Maria Magdalena das Fürstenpaar im Traum zu einem gottesfürchtigen Leben als Bedingung für eine Erfüllung ihres langersehnten Kinderwunsches. Das seien „für unsre Leute“ aus dem wirklichen Leben gegriffene Angelegenheiten, meinte der Mann aus Bozen, da werde die Religion zur Anleitung für weltliches tagtägliches Handeln! Die Erinnerung an ein Gespräch mit François in Paris drängt sich auf – er kenne gotische Glasmalereien, könne sich aber nicht mehr ins Gedächtnis rufen in welcher Pariser Kirche, möglicherweise auch in Bourges oder Chartres, die die heilige Madeleine zeigen, wie sie die Überfahrt von Palästina nach Marseille in gewohnter Weise dem Schiffskapitän in den Nächten mit ihrem Körper bezahle. (Liebe Doro, wie mir sehr viel später ein anderer französischer Freund in Berlin erzählte, bezieht sich die Darstellung im Fenster der Kathedrale von Bourges nicht auf die Überfahrt nach Marseille, sondern auf die vorher zu datierende Passage von Alexandria nach Jerusalem – wie man sich doch irren kann bei all den Legenden!)

Bitte liebste Doro, beackere deinen Josias, dass er mit dir die Füße in das Gletscherwasser hängt und jenes Kirchlein besucht – es ist etwas Einmaliges im Leben – ich bin Friedrich dem Großen dankbar, dass er mir als jungen Studenten dieses Erlebnis verschafft hat.

Angefüllt mit hunderten neuen Bildern und gleichsam der göttlichen Erde stärker verbunden als je zuvor trennt ich mich mit seelischen Schmerzen von jenem südtirolischen Landstrich, beeilte mich nach Innsbruck zu kommen, blieb aber aus Müdigkeit in einem Bergdorf außerhalb der Stadt in einer sauberen Herberge – „Zur Krone“ – für eine Nacht. Das Heimweh hatte mich nun gepackt, weder Kirchen noch Klöster noch Schlösser konnten mich vom schnellen und rechten Wege nach Preußen abbringen.

Mein liebes Mädchen, liebe Doro, 

Als ich nach Rheinsberg zurückkam, Sommer 1739, war der Kronprinz reifer, der König bei sehr schlechter Gesundheit und ich musste nach Kloster Bergen zurück, so daß keine Gelegenheit war, meinem schriftlichen Reisebericht eine mündliche Erläuterung anzufügen.

Für dich hier aber einige Zeilen – eine Art Resumé: Friedrich schien zufrieden. Nach drei Monaten des Schweigens wurde ich nach Rheinsberg zitiert – der Kronprinz beauftragte mich, unter Vorwänden die Verbindung zum Abbé aufrecht zu halten. Lordmarschall Keith avancirte als mein unmittelbarer Vorgesetzter, arrangirte meine Aufnahme in das Oberkonsistorium von Berlin. Aus wohlverstandenen Gründen durftes du oder andere Personen der Familie ihn niemals persönlich zu Nahe kommen.

Wir tanzten vor Freude, genehmigten uns eine Flasche Champagner, als die Kunde vom Aufstieg des Abbé in die höheren Ränge der königlichen Suite von Versailles uns erreichte. Ich erhielt der Auftrag, der nicht ungefährlich war, mich mit ihm in Versailles nach so vielen Jahren wieder anzufreunden, ihn persönlich einzuladen und ihn incognito mit Friedrich II. in Rheinsberg zusammen zu bringen.

Le Cardinal Francois Joachim de Pierre de Bernis

Friedrich brauchte echte Informationen aus erster Hand über die Kriegsvorbereitungen der französischen Armee – Kardinal Bernis hatte über die Kontakte zur Familie der Pompadour sehr wertvolle Informationen – wirtschaftliche, technische, personelle, die Truppentransporte und die Nachschublagerplätze betreffende.

Der Lord-Marschall, George Keith in jungen Jahren

Der Chef des „Vorbereitungscomités“ war immer der Lordmarschall Keith, aber die Treffs fanden immer nur in Rheinsberg statt, jenseits der höfischen Zeremonielle, auch mit dem nun gekrönten Friedrich II, manchmal auch in Emmerich am Rhein mit Blick auf Holland am jenseitigen Ufer. Heute zehre ich noch von den Erinnerungen an einen Spaziergang mit dem König und George Keith, an Regen und Sturm- Wetter, das uns zum Rückzug in das kleine Landhaus zwang …  das vor langer Zeit einer schönen Frau gehörte, die auch Kurtisane am Hofe eines Königs war – des Großvaters der heutigen Majestät – immer wieder schließen sich die Kreise der Geschichte !!!! Ich packe zusammen, für heute warten die Kumpels der wöchentlichen Skatrunde!

Edda stürzt zur Tür herein, ein kleines Büchlein in der Hand – Bester Chef, hier ist eine Sensation: Alexander von Humboldt war nicht nur Zöling des Latein- und Griechisch-Lehrers Josas Löffler in Frankfurt – er hatte auch eine Liebesaffäre mit einem Assistenten des Professor Löffler !
Was halten Sie davon ? – Laß es uns in Ruhe recherchieren, liebe Kollegin – ich trau der Sensation nicht so ohne weiteres!

Dr. Dieter Weigert 16. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg

Die nächste Folge der Erinnerungen des Stadtarchivars von Saalfeld zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler wird in Kürze erscheinen.

Für Interessenten bisher:

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Autor: Sternberlin

Dr. phil. habil.(Philosophie und politische Wissenschaften) , inzwischen Pensionär - aktiv in Denkmalschutz und Denkmalpflege, besonders Kirchen und historische Friedhöfe in Berlin an Wochenenden - unter der Woche in unregelmäßigen Abständen engagiert in Lehrerfortbildung (Geschichte, Architektur, Literatur und Theater,Bildende Kunst)

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