Folge 4: An des buckligen Königs Universität und unterm Dach der Halloren

Der Kurprinz Friedrich:

„War er wirklich bucklig, der erste preußische König?“ Edda hat vor sich einen miserablen Schwarz-Weiß-Druck des bekannten Gemäldes von Hofmaler Samuel Theodor Gericke aus den Jahren unmittelbar nach der Krönung in Königsberg. „Lies‘ doch mal bei Vehse nach!“ – Ich hätte mir auf die Zunge beißen mögen, wie konnte ich der lieben Edda aus dem Vorzimmer des Landrates so unverblümt ihre historischen Bildungslücken vorhalten. Ich nahm den Ersten Band des alten Kumpels Eduard Vehse aus dem Regal hinter mir, schlug die Seite über die Nachkommen des Großen Kurfürsten auf und bat Edda, die entsprechenden Zeilen laut zu lesen: „Kurfürst Friedrich III., der spätere König Friedrich I., war 1757 zu Königsberg geboren. Er war von Person schwächlich, und man glaubte nicht, daß er ein hohes Alter erreichen werde; auch litt er sein ganzes Leben lang an Engbrüstigkeit. Seine Amme hatte ihn als Kind rücklings vom Arme fallen lassen, davon war er verwachsen; er trug, um seinen krummen Rücken zu verbergen, eine sehr große Perücke.“ Edda betrachtet die Kopie – schüttelt den Kopf. Ich greife nochmals hinter mich, bekomme den richtigen Band aus der meiner privaten Reihe „Berlin-Archiv“ zu fassen und legen einen guten Farbdruck des Gericke-Gemäldes auf den Tisch – der König auf dem Thron im Jahr 1701 ! Und da ist auch das andere Gemälde – von eben diesem Gericke, das den Friedrich, den Buckligen, als Kurprinzen zeigt, also vor 1688. „Nun kann ich den schiefen Rücken fast fühlen, welch‘ ein chickes brünettes Gelöck und wie der weiße Pelz die Schultern gerade zieht!“, Edda hatte ein mitleidiges Gesicht. „Aber was ist mit der Hallenser Universität? Deshalb fesselt der krumme Friedrich uns noch!“ – Ich blättere einige Seiten weiter bei Vehse: „Darf ich es diesmal selbst, in jener poetischen Sprache des leidenschaftlichen Historikers vorlesen? – Edda nickt – „Mit vier Schöpfungen hat Friedrich, wenn auch gleichsam nur instinktiv vorbildend, die nachfolgende Größe des preußischen Hauses gegründet … die Königswürde, die Akademie der Wissenschaften, die Universität Halle und der prächtige Schloßbau zu Berlin.“ – „Du erkennst liebe Edda, fünfzig Prozent der Leistungen – nach Vehse – haben die Prüfungen der 300 Jahre Geschichte bestanden und strahlen noch heute an unserem Himmel.“ – „Mehr Worte hat er nicht, dein Idol Vehse, zur Hallenser Universität, die doch unseren Josias Löffler so prächtig geprägt hat?“
Am nächsten Morgen das kaum versteckte triumphale Lächeln Eddas – „es gab doch einmal in der fast unendlichen Geschichte der Fürsten unserer nördlichen Breiten einen Fast-König mit dem Beinamen „der Bucklige“, einen außerehelichen Sohn Karls des Großen mit Namen Pippin, der aber schon vor der möglichen Krönung als fränkischer König verstorben war! Pépin le Bossu nannten ihn die französischen Karolinger.“ Neidlos küsste ich Edda auf die kluge Stirn, ihr kühler Blick zwang uns aber zur nüchternen Arbeit …
Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgangen sein – aus der Reise an die Oder ist leider noch nichts geworden. Halle an der Saale hat den Vorzug.
Aber Frankfurt brennt in mir. Die Beschäftigung mit den Pastoren an der Marienkirche und dem Schicksal des Nonnenwinkels lässt mich nicht los. Seit mehr als zwei Jahrhunderten verbindet nun der mystische Nonnenwinkel am westlichen Ufer der Oder, sein steinernes Zentrum, die Marienkirche, die Namen dreier lutherischer Pastoren Frankfurts mit dem Schicksal des Dichters Heinrich von Kleist – Josias Löffler, Christoph Plothe und Carl Samuel Protzen.
Kleist und Löffler wirken über die Grenzen der Oderregion hinaus – Plothe und Protzen jedoch verlassen ihre angestammte Heimat nicht, so verwundert es mich nicht, dass bis auf eine Ausnahme aus den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts beide Frankfurter Pastoren der Marienkirche in den professoralen biographischen Kleist-Abhandlungen nicht erwähnt werden. Die Ausnahme – der in Potsdam und Brandenburg bekannte Klaus Günzel nennt 1984 in seinem Kleist-Lebensbild (Verlag der Nation, Berlin) Carl Samuel Protzen als Feldprediger, der Kleist in der Frankfurter Garnisonkirche taufte.
Die doppelbändige Gesamtausgabe von dtv aus dem Jahre 2001 „Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe“ verweist im Personenregister auf C. S. Protzen und die damit verbundene Quelle (Teil II, S. 471) – den Brief Kleists an Schwester Ulrike vom 25. Februar 1795: „Und nun noch ein paar Worte: ein Auftrag, mich der gnädigen Tante, der Fr. und Frl. v. Gloger, dem Protzenschen Haus, der Bonne, Martinin, Gustchen, mit deren Brief ich für diesmal nicht ganz zufrieden bin, und allen meinen Geschwistern zu empfehlen …“
Soweit ich erkennen kann, hat sich bisher keiner der Kleistforscher ernsthaft mit dieser Briefsequenz beschäftigt. Der 17-jährige Kleist läßt die Familie Protzen grüßen – also gab es doch enge persönliche Bezüge zum Pastor, der inzwischen Nachfolger des nach Gotha gewechselten Josias Löffler im Amt des Oberpfarrers an St. Marien geworden ist. Obwohl Protzen nach der Rückkehr aus dem Feldzug 1778/79 den Dienst im königl.-preuß. Infanterie-Regiment Nr.24 quittiert hatte und 1781 das Angebot in Züllichau als Pfarrer der Zivilgemeinde der Kreuzkirche und Inspektor mit der Zusage der Ernennung zum „Wirklichen Neumärkischen Consistorialrath“ angenommen hatte, war anscheinend der persönliche Umgang des Pfarrers mit seinem Taufkind und dessen Familie erhalten geblieben zu sein. Die ist umso wahrscheinlicher, als ein Blick auf die Landkarte und die damalige kulturelle Situation der preußischen Neumark östlich der Oder zeigt, wie eng die Verflechtungen der bedeutenden Städte Frankfurt und Züllichau waren. Züllichau, nahe der Grenze zu Schlesien und Polen gelegen, hatte sich in Erwartung eines Krieges um Schlesien zu einer starken Garnisonstadt entwickelt, war ein intellektuelles Zentrum mit Verlagen, Druckereien, einem berühmten Waisenhaus, Pädagogikum und Gymnasium.
Ich sollte mir den Spieker noch einmal vornehmen – zur Biographie des Pastors Protzen und zu der ausführliche Biographie des Pastors Plothe.
Ich schrecke auf, Edda fragt nach dem Brief Kleists vom Frühjahr 1793 an die Tante, in dem er über seinen Besuch bei Löffler in Gotha berichtet und Kleists Grüße an Protzen 1795 – da gäbe es noch Arbeit für die Forscher! Ich freue mich im Stillen, kann es aber nicht so zeigen – Edda hat nicht nur angebissen, sie steckt schon tief in der chose drin! Sie meint, es seien „Protzen-Bezüge“ zu finden in Kleists Anekdote „Mutwille des Himmels“, die er für die Berliner Abendblätter, 10. Oktober 1810 verfasst habe.
Die Pastoren, fast gleichaltrig, lässt sie wie beiläufig fallen, seien der Aufklärertradition der mittel- und ostdeutschen Theologen und Philosophen an den Universitäten, Akademien und Fürstenhöfen verbunden, was gewiß nicht ohne Wirkung auf den Frankfurter Poeten geblieben sei.
Ich werfe die Decke über das hellauf lodernde Feuer: So fruchtbar und emotional stimulierend die Debatten mit Edda sind, wir müssen diese Themen verschieben !
Denn: Ich spüre es fast schmerzhaft, körperlich und geistig, wie nötig der Anschluss der weiteren Studien der Papiere aus der Hallenser Zeit zum Verständnis der theologischen und philosophischen Entwicklung des jungen Josias geworden ist.
Mein obligatorischer Blick aus dem Fenster: Der Sommer verabschiedet sich allmählich vom Schlosspark und See, die Kinder dürfen nur noch die Füße ins Wasser tauchen, kein Vollbad mehr nehmen. Für die größeren Mädchen und Jungen steht das neue Schuljahr mit interessanten Büchern und manchen neuen Lehrerinnen vor der Tür.
Doch zurück in die Lebensgeschichte unseres Josias, zurück in das 18. Jahrhundert, zu den Halloren. Der junge Löffler, im allgemeinen Geschichts- und Erdkundewissen und mit einer Menge Neugierde für sein Alter überdurchschnittlich ausgerüstet durch Oma Margarete, erweist sich in der Salzstadt Halle als bemerkenswert guter Latein-Schüler.

Der Junge ist sich im Jahre des Herrn 1769 der Tragweite der ihm durch die beiden akademischen Lehrer Semler und Nösselt angetragenen Entscheidung für ein Studium an der preußischen „Fridericiana“ durchaus bewußt – die „Friedrichs-Universität“ Halle an der Saale war eine der beiden „Räthe-Schmieden“ des Königreiches Preußen, gegründet unmittelbar nach dem Anschluss Halles an das Kurfürstentum Brandenburg Ende des 17. Jahrhunderts durch Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, den Namensgeber, der sich im Jahre 1701 mit Billigung des Habsburger Kaisers zum preußischen König krönt.
Aus heutiger Sicht gehörte die Universität Halle zu den bedeutendsten mitteldeutschen Universitäten, hatte herausragende Politiker, Verwaltungsbeamte, Theologen und Künstler hervorgebracht wie den Komponisten Georg Friedrich Händel, die Ärztin Dorothea Christiane Erxleben, die Dichter Clemens Brentano und Freiherr von Eichendorff, den Prediger und „Patriarchen der lutherischen Kirche in Nordamerika“ Henry Melchior Muhlenberg, den Theologen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Pottendorf, den Anatomen Johann Friedrich Meckel den Jüngeren, die preußischen Minister Karl Abraham von Zedlitz und Carl August von Struensee.

Die Theologen und Bildungspolitiker und väterlichen Freunde Semler und Nösselt verstehen es, dem heranwachsenden Schüler und Studenten Löffler aus dem thüringischen, kleinstädtischen Saalfeld verständlich zu machen, dass diese ihre Hochschule im Wirtschaftszentrum und militärischen Standort Halle an der Saale neben den Lehraufträgen und Forschungsthemen ein politisches Schwergewicht im Ringen des Königreiches Preußen um europäische Geltung besitzt.

Sie soll den beiden benachbarten traditionellen sächsischen Institutionen, der kurfürstlichen Universität von Wittenberg im Norden und der bürgerlich-patrizischen Universität Leipzig im Osten den Rang ablaufen!

Junge Leute mit schneller Auffassungsgabe sind gefragt: eine Generation des Aufbruchs, mit klarem Blick für die Herrschaftsstrukturen und ihrem künftigen Platz in der Ordnung des Staates, für die Zusammenhänge von lutherischer Theologie und den Umwälzungen in Gesellschaft, Familie und den Bildungseinrichtungen seit dem Ende des Mittelalters, mit einem neuen, antidogmatischen Geschichtsdenken, mit dem Bedürfnis nach moderner pädagogischer Praxis und der persönlichen Bereitschaft, alles für den König, für dessen Staatsraison, für die erstrebte Größe Preußens zu geben. Ich glaube, dass Josias sich dieser Herausforderung bewusst ist, dass er schon in sehr jungen Jahren die kostbaren Privat-Bibliotheken seiner Lehrer nach Lebensmaximen durchwühlt, sich nach anspruchsvollen Lehraufträgen drängt, nach historischen Persönlichkeiten sucht, an denen er sich reiben kann, bei deren kritischer Auseinandersetzung er geistig wachsen kann. Die jüdischen Propheten, die Kirchenväter, der heilige Bonifacius mitsamt seinen päpstlichen und klerikalen Zeitgenossen, die Fürsten der Franken der vorkarolinischen Periode werden den Studenten, den Theologen und Pädagogen Josias Löffler lebenslang begleiten und herausfordern, in Halle, in Berlin, in Frankfurt an der Oder und am Ende des Weges wieder in Thüringen, in Gotha.

Aber – wie bei so vielen Persönlichkeiten dieser Zeit der großen Umwälzungen anzutreffen – Josias Löfflers Loyalität, seine politische und geistige Leidenschaft ist an eine bestimmte, historisch konkrete Person gebunden, an die des jeweiligen Herrschers, des Fürsten, dem er Treue schwört und dessen Willen er sich unterwirft. Es ist der preußische König Friedrich II., dem er sich seit seiner Studentenzeit bis 1786, dem Todesjahr des großen Strategen von Potsdam, mit Haut und Haar verschreibt. Und es ist der Aufklärer Herzog Ernst im Schloss auf dem Friedenstein von Gotha, dessen Ruf er 1788 bereitwillig folgt und dessen Programm er mitträgt. Neben diesen beiden Herrscherfiguren ist es ein dritter deutscher Fürst, dem er in seiner Frankfurter Zeit persönlich verbunden ist, jener Braunschweiger Prinz Leopold, gleichaltrig mit Josias, der Bruder der Weimarer Herzogin Anna Amalia, zu dessen Vertrauten Lessing gehört, der seine kulturelle und geistig-theologische Bildung und Erziehung in den Kinder- und Jugendjahren durch den bekannten Abt Jerusalem erhielt. Gehe ich fehl – störe ich Edda in ihren Studien – wenn ich den Prinzen und den Theologen, in ihrer charakterlichen Ausprägung und ihren Zielen, zu „Stürmern und Drängern“ erhebe?

Der Prinz, ranghöchster Militär der preußischen Garnison Frankfurt an der Oder ist nicht nur Haus-Nachbar des Generalsuperintendenten Löffler, des obersten Verantwortlichen für das Kirchen- und Bildungswesen der Stadt Frankfurt, den er gern und oft zu seinen geselligen Abenden im Salon des Kommandantenhauses im „Nonnenwinkel“ einlädt. Er ist mit ihm auch eng verbunden im Ringen um die Durchsetzung seines Lieblingsprojektes, einer Regiments-Schule für die Kinder seiner Soldaten.
Edda, die sich durch die wiederholten Störungen zum wilden Gestikulieren heausgefordet fühlt, ruft mich zur Ordnung:
Wäre ich schon wieder von der geraden Linie des Biographischen bei Josias abgewichen ? Warum dränge sich immer wieder das Anliegen der großen Romanciers der Neuzeit in meine streng begrenze Historiographie hinein, in dem ein junger Mann aus der Provinz sich aufmacht, sein Glück in der Metropole zu machen, in Paris, London, St.Petersburg ?
Edda meint, ich verkenne doch die Besonderheit der deutschen geistigen und politischen Situation im Vergleich zu den anderen europäischen Nationen – es gäbe doch keine Metropole! Es gäbe München, Frankfurt am Main, Hamburg, Braunschweig und Hannover, später kommend Berlin und Potsdam – aber es gäbe keinen deutschen kulturellen strahlenden Mittelpunkt, zu dem sich Dichter, Professoren, Musiker hingezogen fühlten! Und kein deutscher Dichter könne sich deshalb diesem Thema widmen, wie ich es in meiner Saalfelder Naivität erträumte!
Der junge Josias Löffler also erhofft sich sein Glück in Halle an der Saale, nicht in Göttingen, München oder Köln. Sein Übergang von der Lateinschule zur Universität verläuft 1768/69 ohne Reibungsverluste, nachdem er den Winter bei der Mutter und den Geschwistern in der Heimatstadt verbracht hatte. Schon am Ende des zweiten Semesters ließ ihn Professor Nösselt in seinem Haus wohnen mit dem Vorzug der Benutzung der privaten Bibliothek und Teilnahme an bedeutenden wissenschaftlichen Konferenzen – wie er auch in den engeren studentischen Mitarbeiterkreis von Professor Semler als Mitglied und später Senior des „theologischen Seminariums“ aufgenommen wurde – Voraussetzungen einer erfolgversprechenden wissenschaftlichen Laufbahn. Damit ist Josias Löffler schon als Student in die Auseinandersetzungen um theoretische und politische Weichenstellungen an den preußischen Universitäten unter der Regentschaft König Friedrichs II. einbezogen.

Was begeisterte Josias an seinen akademischen Vorbildern? Konnte der 18-jährige Student die neuen theoretischen und methodischen Ansätze erkennen, durch die sich Semler und Nösselt aus der Masse der Kollegen an den deutschen Universitäten heraushoben? Vermutlich nicht in allen Einzelheiten der Dogmatik, der Interpretation des Neuen Testaments, der Homiletik, der Auseinandersetzung mit den Schriften der französischen, holländischen und englischen Theologen, aber doch in jener Grundfrage, die man auch in den frühen Schriften Löfflers wiederfindet: wie halten wir es mit der Geschichte? Können wir die christlichen Glaubensgrundsätze der Bibel und der Kirchenväter dem strengen Urteil der Geschichtswissenschaft unterwerfen? In jenen Jahren gehört ohne Zweifel das aufsehenerregende Buch des französischen Theologen Matthieu Souverain „Platonismus devoilé“ in seiner französischen Urfassung zu seiner bevorzugten Lektüre, reift der Gedanke an eine Übersetzung ins Deutsche in ihm, wohl auch der Plan, für diese Übersetzung einen Verleger zu finden. Auf der Suche nach einem Verleger spielt der Züllichauer Pädagoge und Theologe Steinbart schon in jenen Jahren eine entscheidende Rolle. Die Verbindungen Steinbarts zur Universität und zum Waisenhaus von Halle führen zu der engeren Zusammenarbeit schon des jungen Löffler mit dem Züllichauer Verleger Frommann.
Leider habe ich die Quelle jener Bemerkung des jungen Josias nicht mehr zur Verfügung, in der sich unser vielversprechender Theologe über die Liebe der Hallenser Wissenschaftler zu den Ideen der französischen Aufklärung, zu der frischen Luft, die über den Rhein ins verstaubte orthodoxe Deutschland herüberwehte, zu den bewundernswerten Beiträgen der Frauen in Frankreich in den Wogen der neuen Literatur und Philosophie des neuen Europa sich ausbreitet.
Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass Semmler und auch Nösselt von den intellektuellen Fähigkeiten ihres Schützlings schon beim Umzug von Saalfeld nach Halle überzeugt waren, so dass sie ihn sofort in der Lateinschule beziehungsweise dem Pädagogikum anmeldeten. Man kann gewiss davon ausgehen, dass insbesondere Nösselt in dem Jungen ein Ebenbild seiner Person und seiner eigenen Charakterzüge (intellektuelle Neugier, Liebe zur Geschichte, zu antiken und modernen Sprachen, kritische Einstellung zum angebotenen Lehrstoff) erkannte und alles zur Förderung dieses Talents tat.
Auch wenn wir bisher nur wenige schriftliche Belege aus diesen ersten Hallenser Schuljahren von Josias Löffler besitzen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er in engem Kontakt zu diesen beiden Professoren und deren Familien stand:
1762, am Ende des Siebenjährigen Krieges stirbt der Vater. Semler holt den vielversprechenden Jungen nach Halle, um der Mutter die Kosten für die Schule in Saalfeld zu ersparen. Dieses Geld kommt dem ältesten Sohn der Familie zugute, wie es Sitte ist in jenen Jahren. Fünf Wochen später, mit 11 Jahren, 1763, wird Josias in das Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen aufgenommen.
Unter den Papieren finde ich ein Blatt mit Löfflers Handschrift, das in wenigen Zeilen Hinweise auf die Lateinschule und den Übergang zur Universität in Halle enthält. Das Blatt war versehentlich in die Tagebuchnotizen während des Feldzugs von 1778/79 geraten:
… schließlich war ich von dieser Versuchung erlöst – der Professor Semler, dessen Eltern in der Nachbarschaft unseres ehemaligen Hauses am Markt von Saalfeld wohnten, ein guter Freund meines verstorbenen Vaters, war von der Universität Halle heruntergekommen, um mich einer Prüfung zu unterziehen, von deren Ausgang es abhing, ob ich als Freischüler in die berühmte Franckesche Stiftung aufgenommen werden durfte. Professor Semler fand mich gut geeignet, die Lehrer an der Saalfelder Schule hatten mich gut präpariert, mein Griechisch und Latein fand Semler passabel und auch die Anfänge des Hebräischen gefielen ihm ausnehmend gut. Ich bezog zu Michaelis die Hallesche Schule, ich war elf Jahre, war glücklich und bedauerte keineswegs den Verlust des reizenden Mädchenleibes im nunmehr verlassenen Kinderbett. An der Franckeschen Schule herrschte ein strenger Wind, nur Jungs, harte, fast militärische Disziplin – eben Preußen! Ende September, Anfang Oktober war es schon empfindlich kühl in jenem Jahr, der Herbst vertrieb nun mit Macht die süßen Gefühle, die der warme Körper meiner blonden Cousine hinterlassen hatte.“
Hier endet abrupt die Beschreibung des Josias Löffler – er hat den Rest vermutlich verbrannt, zu gewagt der Text für einen lutherischen Feldprediger.
Der Unterricht machte ihm am Beginn zu schaffen, alles war anders als in Saalfeld. Ihm fehlte die Mutter und Oma Margarete, ihm fehlte die Zuneigung der Lehrer in der Schule, ihm fehlten die Thüringer Berge. Den ersten Lehrer, den Hochwürdigen Herrn Doktor Gotthilf August Francke, konnte er nicht ausstehen, der war der Sohn des berühmten Stiftungsgründers August Hermann Franke, und ließ die Schüler die Ehrwürdigkeit und Unnahbarkeit des Vaters in jedem Augenblick spüren.
Es war nicht nur kühl, es war bitterlich kalt in der Halleschen Anstalt! Doch dann erkrankte der ehrwürdige Herr Doktor, mehrere jüngere Aushilfs-Lehrer – noch Studenten der Universität – nahmen sich Josias und seiner Mitschüler an, der trockene historische Stoff lebte in ihren Geschichten auf, das Latein, das Griechische gewann Farbigkeit, die Landkarten des Heiligen Landes ließen ihnen die Burgen der Kreuzritter und der Muselmanen, die Heldengestalten des Richard Löwenherz, des Kaisers Barbarossa und des großen arabischen Sultans Saladin auferstehen.
Die Autorität der jungen Lehrer hatte durch diese angenehme Art und Weise des Unterrichts nicht etwa gelitten – im Gegenteil, die Bewunderung für die Hilfslehrer hatte ihre Wissbegierde gestärkt, die Schüler wurden munterer, neugieriger, konnten kaum den Beginn der Stunden erwarten. Kurz vor Weihnachten genaß der Doktor von seiner Influenza, zu ihrer Verblüffung aber kam er am Morgen mit einem der Hilfslehrer in die Klasse, setzte sich in die letzte Reihe und beobachtete den Unterricht, ohne ein Wort zusagen. Man erholte sich schnell von der Überraschung, der Unterricht verlief wie gewohnt – die Hilfslehrer blieben dann bis Ostern.
Glücklicherweise hat sich ein weiterer Brief Löfflers erhalten, der auch Aufschluss gibt über jene Jahre in Halle – ein Brief, den er aus Gotha an seine noch in Frankfurt geblieben Ehefrau Dorothea im Jahre 1789 schrieb, mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten:
„Wer war es aus den Reihen der Lehrer an der Universität, der auf mich aufmerksam wurde? Ich spürte die besonderen Aufgaben, die mir bei dem Eindringen in die Religionsgeschichte, in das Studium der verzwickten Geheimnisse der hebräischen Sprache gestellt wurden, die mich zwangen, gründlicher als an der Schule die Originaltexte zu lesen, die hebräischen, griechischen und lateinischen Fassungen der Bibeltexte und Briefe miteinander zu vergleichen, die offensichtlichen Widersprüche in den Erklärungen der Kirchenväter zu erkennen. Es war besonders die wissenschaftliche Herausforderung, die in Hebräisch überlieferten Texte ohne die Zwischenstufe des Griechischen ins Deutsche zu übersetzen, die mir Jahre später die Zuversicht gab, mich in Zusammenarbeit mit dem Verleger Friedrich Nicolai an dem Projekt des großen Moses Mendelssohn zu beteiligen, die fünf Bücher Moses in einer neuen Fassung ins Deutsche zu übertragen.
Semler und auch Nösselt waren mir von allen die Vertrautesten, die mich geistig nicht ruhen ließen, die mir alles abverlangten, was ich zu leisten imstande war. Sie glaubten an mich, an meine Berufung. Ich hatte unbegrenzten Zugang zu ihren Häusern, zu ihren Bibliotheken. Ihre Geduld war unerschöpflich, selbst in brenzligen Situationen, die das rauhe, aber auch oft romantische Dorfleben so mit sich bringen, die nächtlichen Spaziergänge, die Tänze auf der Tenne und manchmal auch etwa mehr Bier als der junge Körper vertrug. Semler hatte mich einmal im Diesseits eingefangen wie ich glaubte für die Ewigkeit, hinter den Grenzen aller theologischen oder philosophischen jenseitigen Offenbarungen, mich, der ich einmal sogar die Universität verlassen wollte. Er nahm mich am nächsten Morgen nach dem Seminar beiseite, wanderte mit mir zum Giebichenstein. Sein scharfer Blick hatte meine Seelenlage durchdrungen, die Nöte des jungen Einzelgängers erkannt. Er drohte nicht, er lockte nicht, er erzählte seine ureigenste Version der biblischen Geschichte von Josef, dem Hebräer in Ägypten, so wie ich sie noch nie gelesen, noch nie gehört hatte. Unsere Blicke folgten der ruhig fließenden Saale, den Weiten der Hügelkette, den Feldern und Wäldern am anderen Ufer, ohne Worte nahm mich Semler bei den Händen, führte mich zur Bank unter einer Birke. Während er von Joseph erzählte, kritzelte er mit einem Zweig Zeichen in den Sand zu unseren Füßen, Kreise, Ellipsen, allerlei zufällig sich berührende und wieder auseinanderstrebende gekrümmte Linien. Ich war verwirrt – ich konnte weder aufmerksam auf die Erzählung achten noch gleichermaßen die Spitze des Zweiges im Sand verfolgen. Schließlich gab Semler das Spiel auf – er hatte sein Ziel erreicht, er hatte mich in eine Sackgasse geführt, aus der ich mit eigener Kraft nicht mehr herauskommen würde.
Auf dem Rückweg kamen wir an einer Tischlerwerkstatt vorbei; da Semler den Meister gut kannte, ließ er unserem jungen Freund einen Blick in das geheimnisvolle Innere der beiden Arbeitsräume werfen. In der ersten, größeren Kammer lagerten die Rohhölzer in ihren unterschiedlichen Farben, ihren Gerüchen. Die großen, frisch aus dem Wald geschnittenen Bretter und Bohlen lagerten gestapelt auf Querhölzern, damit sich die Luft dazwischen bewegen kann. Deshalb waren auch die großen Fenster tagsüber geöffnet und deshalb herrschte hier auch eine angenehme Kühle, auch im Sommer. … Im zweiten Saal standen die Arbeitsbänke der Gesellen und Lehrlinge – insgesamt acht Menschen waren beschäftigt. Die Mitte des Raumes nahm der heiße Ofen ein, er diente dem Warmhalten des Leimes, dem Vorwärmen des zum Zusammenkleben vorgesehenen Holzes und natürlich auch der Schaffung einer wohligen Atmosphäre für die Arbeiter in den kalten Wintertagen …
Du fragtest im letzten Brief nach den Halloren, liebste Dörte. Während meiner etlichen Erzählungen über die Hallischen Jugendjahre war es mir nie in den Sinn gekommen, diese Eigentümlichkeit der Hallischen Gegend zu beschreiben – sie war für mich nach dem langen Aufenthalt dort so selbstverständlich wie der Holzhandel für den Oberlauf der Saale, meiner Heimat. In Berlin legen die braven Bürger, die Professoren, die Hofbeamten ihre Einnahmen und ihr Erspartes im Handel mit Tuchen, Porzellan, Büchern, Waffen, Schmuck an, in Halle an der Saale seit Urväter Zeiten in Salz! Die Familien der Professoren, das konnte ich in den Häusern von Semler und Nösselt selbst hautnah täglich spüren, lebten von den Einkünften aus den Salinen, den Salzköthen, an denen sie Beteiligungen hatten. So waren auch sie Entrepreneurs und konnten es sich leisten, manchem Bedürftigen ein Zimmer unter ihrem Dach anzubieten – zu einem geringeren Zinssatz als der nicht mir der Universität verbundene Bürger der Stadt. Du weißt, auch ich als Halbwaise habe davon profitiert.“
Es war Zeit, für den heutigen Nachmittag die Papiere beiseitezulegen. Edda versuchte noch einige Fragen, ich konnte sie nur auf die nächsten Tage vertrösten. Noch in der Tür gab sie mir auf den Weg: Und wie war er denn als Absolvent, hatte er Prüfungsangst? Wie haben sie sich auf die Examen vorbereitet, damals. Und wie schaffte er es, eine der begehrten Stellen in der Residenz Berlin zu ergattern?
Dr. Dieter Weigert 24. Juli 2023 Berlin Prenzlauer Berg
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663
LINK zu Folge 2: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33899
LINK zu Folge 3: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34059



Dieter Weigert, Berlin 24. Juli 2023