Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant Heinrich und Generalsuperintendent Josias

FOLGE 1: Das Konvolut

Es ist geschafft. Die Uhr zeigt 0:35, der Samsung-Drucker schiebt das letzte Blatt in die Ablage – unter dem einsam in der Mitte der Zeile prangenden Wort ENDE erscheinen mein Name und das Datum des neuen Tages. Der automatisierte Seitenzähler unten rechts präsentiert eine schockierende 525. Zeitlebens habe ich mich um Kürze meiner Texte bemüht, die ausufernden Zeilen gezähmt, aus Mitleid mit dem Leser das Unwesentliche dem Kern der Aussagen geopfert. Nun das – ein Archivar, ein dem Gehalt der historischen Dokumente verpflichteter Historiker verzettelt sich, kommt ins Schwatzen, verbreitet sich in unerheblichen Details, vermengt die notwendig verknappte, verdichtete Darstellung der Sache aus Eigenliebe des Langen und Breiten mit der Weitläufigkeit von Einzelheiten, die vielleicht seine eigene Neugierde und Darstellungssucht befriedigen, aber für die intellektuelle Welt um ihn herum keinerlei Gewicht haben. Weg mit dem ketzerischen Zweifel, mit Spinoza und Descartes: Ich habe der Welt etwas zu sagen und wenn ich dazu 525 Seiten brauche, dann muss man sich eben die Zeit nehmen für diese Menge an Druckseiten.

Edda kommt mit der Flasche Rotkäppchen trocken und den Gläsern, das Feiern im kleinen Kreis gehört zur Arbeit wie der Schäferhund Alf zum Hof meiner Kindheit. „Auf unseren Erfolg!“ – „Auf deine Beharrlichkeit und dein Verständnis für unseren Josias!“ erwidere ich und küsse die kluge, schöne und sehr weibliche Kollegin auf die Stirn. Die Freudentränen in ihren Augen übersehe ich wohlweislich.

Aber beginnen wir an jenem sonnigen, trockenen Juni-Morgen, als in meiner Heimatstadt etwas geschah, was mein bisher so geruhsames Leben aus der Bahn warf.  Zwischen der alten Stadtapotheke und der Johanniskirche im südthüringischen Saalfeld waren einige Arbeiter dabei, den Boden des historischen Stadtkerns aufzubaggern mit dem Ziel, zusätzliche Tresore sowie eine nötig gewordene geräumige Tiefgarage für den Erweiterungsbau der Stadtsparkasse zu schaffen, als sie auf eine schwere metallene mit Eisenbändern umschlossene Kiste stießen. Dieser Fund sei in der genannten Region nichts Besonderes, versicherte der leitende Ingenieur, wäre da nicht die verwunderliche Lage des Objektes – nicht waagerecht, nicht senkrecht, sondern irgendwie völlig windschief auf einer plattgedrückten Ecke stehend präsentierte sich das brandgeschwärzte Stück im Erdreich. Es muss wohl beim verheerenden Brand in der Apotheke damals aus den Wohnräumen in den Keller und von dort in eine Art Höhle abgestürzt sein, vergessen von den Bewohnern, überlagert durch den Straßenschutt, nun aber der Vergessenheit plötzlich entrissen.

Die Mitarbeiter der zuständigen Abteilung der Bodendenkmalpflege des Landratsamtes in der dritten Etage des ehemaligen herzoglichen Schlosses, denen die Baufirma aus dem fränkischen Kronach den kostbaren Fund ins Chefzimmer bugsierten, erklärten sich nach einigem Zögern bereit, den Inhalt der Kiste inspizieren zu wollen – obwohl sie sich hinter vorgehaltener Hand nicht viel davon versprachen, man habe ja wichtigere Aufgaben auf den Tischen und in den Rechnern zu liegen.

Ein erster Blick ins Innere des schwarzen Ungetüms bestätigte ihre zögerliche Haltung – Papierkram, aber ohne amtliche Siegel, halbverbrannte Fetzen von Pappschachteln, … und dann doch zwischen dem Plunder ein zwei intakte schwere Pakete, verschnürt mit grünschwarzer gedrehter Kordel, die Aufschrift des ersten oben und auf den vier Seiten noch lesbar – Geheim! Eigentum der Generalsuperintendentur des Herzogtums Gotha (1787 – 1817), auf dem zweiten Packen ein Verlags-Stempel „Frommann-Erben – JENA.

Jetzt endlich kommt meine Person ins Spiel!  Ich – der nun aber doch eiligst herbeigeholte Stadtarchivar! Ich kann mein Glück bis heute noch nicht fassen – da war es also – das seit Jahrzehnten gesuchte Konvolut von Papieren des großen Sohnes Saalfelds, des gothaischen Oberkonsistorialrats und Generalsuperintendenten, des rechtschaffenen, über die Grenzen Thüringens hinaus bekannten kämpferischen Theologen und Pädagogen Löffler, dem einige – aber leider nur sehr wenige – Kenner der Literaturgeschichte nachsagen, eine der interessantesten, vom Schleier des fast Mystischen verhangenen Personen im Umkreis des Dichters Heinrich von Kleist gewesen zu sein !

Dem Chef des Amtes für Bodendenkmalpflege gelingt es nur mit großer Mühe, mich in meinem Glückstaumel von der Einberufung einer sofortigen Pressekonferenz abzubringen, man solle doch erstmal einen ernsthaften Blick ins Innere des Konvoluts werfen, sich von der Authentizität der Papiere überzeugen, bevor man sich selbst und die gesamte Behörde im Falle eines Fehlschlages dem Gespött der Zeitungen und lokalen Fernsehstationen aussetze! Im Zeitalter der FAKE-NEWS durchaus vergleichbar mit dem Prager Fenstersturz von 1618!

Er, der Amtsleiter, mache nun von seinen Befugnissen Gebrauch, versiegele eigenhändig sein Büro doppelt und dreifach und lade die relevanten Beamten des Landratsamtes und auch mich als Amtsperson für den nächsten Morgen, 10 Uhr, zu einer Sondersitzung ein. Einziger Tagesordnungspunkt: die Papiere des Josias Friedrich Christian Löffler! Bis dahin außerordentliches Stillschweigen – auch in den Familien der hier Anwesenden!

Zu Beginn der morgendlichen Sitzung im kleinsten Kreis der höchsten Würdenträger des Landratsamtes fühle ich mich doch gedrängt, einige einführende Worte zur Bedeutung dieser Besprechung zu sagen. Wenn alles so verlaufe, wie ich als Ergebnis meiner jahrzehntelangen wissenschaftlichen Studien vermute, würden die Anwesenden in den nächsten Minuten Zeugen des erstmaligen Anblicks von Dokumenten aus der Feder des Theologen und Politikers Löffler, eines bedeutenden Sohnes unserer geliebten Stadt Saalfeld, sein, die ein neues Licht auf die Geschichte nicht nur der thüringischen Herzogtümer Weimar und Gotha am Ausgang des 18. Jahrhunderts werfen, sondern die nunmehr Fragen beantworten könnten, die seit langem europäische Historiker von Rang bewegten – die Fragen nach dem endgültigen Schicksal des deutschen Fürstenbundes. Aber auch Kirchenhistoriker und thüringische Heimatforscher hatten immer wieder in Briefen angemahnt, auf den Spuren dieses Mannes nach Belegen für sein Wirken zu suchen. Neuerdings aber auch Germanisten, Regionalhistoriker aus Frankfurt an der Oder, aus Berlin und Halle an der Saale meldeten sich bei mir. Ich war inzwischen auf das meisterhafte Formulieren von Absagen, Vertröstungen, Hypothesen, sogar abenteuerlichen Spekulationen stolz. Die erwähnten Orte hatte ich besucht, mit den fleißigen Frauen und Männern in den Kirchen, Stadt- und Universitätsarchiven viele Stunden verbracht – erfolglos. Ich ersparte es mir und den vermutlich im Labyrinth der mannigfaltigen persönlichen Beziehungen Löfflers, vor allem dem „Irrweg“ Kleist, nicht heimischen Landratsbeamten, zu sehr ins Detail zu gehen.

Nun liegt es auf dem Tisch vor uns – enthält das versiegelte dicke Bündel die Antworten auf die vielen Fragen?

Ich werde gebeten, das Konvolut zu öffnen und einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen auf den Tisch zu legen. Den habe ich schon im Kopf – Zeit gewinnen und unserem Archiv die Bearbeitung zu übergeben – unter strikter Wahrung des Dienstgeheimnisses, den Medien nur das Allernötigste mitzuteilen, um auswuchernden Spekulationen Einhalt zu gebieten. Ein entsprechendes lapidares Press Release steckt schon in meiner Tasche – zweisprachig selbstverständlich!

Die Knoten der Verschnürung und die Siegel lassen sich leicht lösen – die Papiere scheinen in gutem Zustand. Obenauf ein Blatt, das säuberlich nummeriert eine Liste von 217 Positionen enthielt: Briefe, Urkunden, Rechnungen, Quittungen, auch einige gebundene Bücher und Zeitschriften, Tagebuchnotizen, ein gesondert eingepacktes dünnes Päckchen in größerem Format und sehr viele bekannte und mir auf den ersten Blick fremde Namen. Ich schlage der Versammlung vor, diese Liste vorzulesen und mir das Paket aus konservatorischen Erwägungen für die weitere Bearbeitung in unserem Archiv zu übergeben. Bedingung des Vortrags der Liste aus meiner Sicht: es wird nichts mitgeschrieben und kein Wort vom Inhalt an Außenstehende weitergegeben. Ein mehr oder minder vernehmliches Murren wird durch den Landrat unterbunden, der meine Bedingungen protokollieren und zur Unterschrift herumgehen ließ, dann darf ich die Liste verlesen.

Zu meiner Verblüffung tauchen Namen auf, die ich im Zusammenhang mit Löffler nicht vermuten würde: die Brüder Humboldt, die Herzogin von Sachsen-Gotha, Friedrich Wilhelm Gotter, die Berliner Oberkonsistorialräte Silberschlag und Spalding, der preußische Minister von Zedlitz, Münter, General von Prittwitz, … Nach dem Verlesen lege ich das Blatt wieder auf den Papierstapel, klappe das Packpapier wieder zu, verschnüre es sachgemäß und bitte den Landrat um die Versiegelung – sicher ist sicher im Medienzeitalter! Die Presseerklärung lasse ich auf dem Tisch liegen.

Am Nachmittag sitze ich nun spannungsgeladen vor dem Stapel Papiere an meinem Schreibtisch. Noch darf keiner meiner Mitarbeiter einen Blick auf den Schatz werfen.

Meine Philosophie des Umgangs mit der Schatzkiste ist noch unvollkommen: Wir wissen nicht alles, wir können nicht alles wissen, aber da sind die Indizien, die Spuren der Begegnungen jenes geheimnis-umwitterten Theologen Josias Löffler, geboren hier in Saalfeld, gestorben in einem Nest bei Gotha, mit Zwischenstationen in Halle an der Saale, Berlin an der Spree und Frankfurt an der Oder – Briefstellen, die Topographie von benachbarten Wohnungen, einige wenige Reiseberichte.

Es klopft, zögerlich und verhalten. Edda, die graue Maus mit der zierlichen Gestalt einer Ballerina und dem passenden Pferdeschwanz, die Chefin der Tourismus-Abteilung, studierte Diplom-Journalistin, steht in der Tür: „Hallo – es war nicht mein Wunsch, es war die verrückte Idee des Chefs! Er meint, du brauchst jetzt kräftige Hilfe! Meine Abteilung könne mich einige Wochen entbehren, meint er!“ – Ich sinke zurück in die Tiefe meines antiken Schreibtischsessels – „Er meint wohl, er braucht eine vertrauenswürdige Spionin, damit er aus erster Hand erfährt, was hier oben unterm Dach ausgegraben wird?“

Noch lachen wir, nicht ahnend was vor uns liegt und uns nicht etwa einige Wochen, sondern ein volles Jahr an Gemeinsamkeiten bringen wird. Der nächste Morgen bringt „zuvörderst“ – das Lieblingswort meines verehrten Professors aus der Studienzeit in Leipzig – eine Blumenvase und dem dazu gehörigen farbenfreudigen Vorgarten-Gemisch für meinen Tisch, sowie einen Schreibtisch für Edda mit eigenem Rechner.

Die erste Beratung, die erste Festlegung: alles muss säuberlich protokolliert werden! „Muss das sein? Schade um die Zeit, das bleibt ja an mir hängen, aber so Gott will gibt es dafür schon eine passende Software“ murrt Edda, kuscht aber unter meinem zurechtweisenden Blick.

Was und wo suchen wir zuerst? Wollen wir mit Frankfurt an der Oder beginnen.? Finden sich in jenem Papierbündel eindeutige Belege, die unsere Annahme stützen und wasserdicht machen, dass der Prediger und Oberpfarrer der protestantischen Kirche St. Marien in Frankfurt an der Oder Josias Friedrich Christian Löffler in den Jahren zwischen 1783 und 1788 dem neugierigen Nachbarsjungen Heinrich von Kleist die Botschaft der Chorfenster seiner Kirche St. Marien aus dem 14. Jahrhundert vermittelt hat? Die Zeit ist so schnell-lebig, dass ich schon vergaß, wer mir gestern oder vorgestern diese Frage bei einem der Pausengespräche in der Kantine zugeflüstert hatte. War es die theaterbeflissene Ute? War es die Zugezogene aus Frankfurt – wie hieß sie doch gleich ? Oder war es der Kulturredakteur des Weimarschen Tageblättchens ? Ich bleibe vorsichtig, nüchtern, zugeknöpft. Zu Hause frage ich mich –  ist die Stadt, ist die Universität, ist die Marienkirche an der Oder wirklich der Beginn? Liegt der nicht an der Saale, in Halle oder doch schon saaleaufwärts hier in Saalfeld?

Vielleicht sollten wir den Beginn am Ende des Lebens unserer beiden Antipoden suchen – des Dichters und des Predigers? Was ich schon aus anderen Quellen wusste: So wie sie lebten sind sie gestorben – der eine auf der Kanzel einer lutherischen Kirche, der andere schon fünf Jahre vor ihm in dramatischer Geste mit der Pistole in der Hand – der thüringische Prediger, Theologieprofessor, Bildungspolitiker, Familienmensch Josias Friedrich Christian Löffler (1752-1816) und der märkische Dichter, Offizier, Journalist Heinrich von Kleist (1777-1811).

Dieter Weigert, Berlin, 17. Juli 2023

(In unregelmäßigen Abständen wird der Verfasser weitere Folgen der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars an dieser Stelle erscheinen lassen – wie in den guten alten Zeiten die Zeitungsredakteure in täglichen Fortsetzungen im „Keller“ von Seite 3 die Spannung eines guten Romans dem Publikum zum Frühstück servierten)

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Autor: Sternberlin

Dr. phil. habil.(Philosophie und politische Wissenschaften) , inzwischen Pensionär - aktiv in Denkmalschutz und Denkmalpflege, besonders Kirchen und historische Friedhöfe in Berlin an Wochenenden - unter der Woche in unregelmäßigen Abständen engagiert in Lehrerfortbildung (Geschichte, Architektur, Literatur und Theater,Bildende Kunst)

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