Fritz Klimsch : „mein Kaiser“, „mein Führer“, „mein Filbinger“ !

Vor kurzem hatte ich Sie zu einem Spaziergang auf dem Alten Garnisonfriedhof an der Linienstraße in Berlin-Mitte eingeladen und ausführlich dargestellt, weshalb das Grabmonument für den im September 1914 für seinen Kaiser den „Heldentod“ gefallenen Leutnant Curt von Kruge mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Werkstatt des Bildhauers Fritz Klimsch (1870 – 1960) stammt. Zur Erinnerung hier nochmals die Abbildung des schwazen Marmorblocks in seinem gegenwärtigen Zustand:

Den Aufsatz „Heldentod und trauernde Frau – Fritz Klimsch und die Seinen“ finden Sie unter dem LINK http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33554

Wer war jener Fritz Klimsch ?

Es gibt eine umfangreiche Literatur zur Biographie und zum Gesamtwerk dieses deutschlandweit bekannten Künstlers, Kataloge zu bedeutenden Einzel- und Kollektiv-Ausstellungen seiner Skulpturen.

Aufsehenerregend die erste größere Publikation aus dem Jahr 1924 aus der Feder des Kunsthistorikers und Berliner Museumsleiters Wilhelm von Bode:

Zwischen dem Erscheinen dieser ersten umfassenden Würdigung und der jüngsten Gesamtdarstellung anlässlich der Ausstellung von Köln im Jahr 1991 liegen über 60 Jahre, die Deutschland tief in seinen Wurzeln veränderten und die im Werk des Bildhauers ihre Spuren hinterließen.

An dieser Stelle soll der Konservatismus in den Arbeiten Klimschs dargestellt werden, vor allem sein Umgang mit den Bedingungen der 12 Jahre des Hitler-Regimes – in einer späteren Untersuchung soll gezeigt werden, wie Biographen und Kunsthistoriker die offensichtliche, vollständige und bewusste Unterwerfung Klimsch unter die Anforderungen der Jahre 1933 – 1945 der bundesdeutschen Öffentlichkeit „verkauften“.

Präludium I: Duisberg und Leverkusen

Carl Duisberg (1861-1935), der bekannte Chef der späteren zum IG-Farben-Konzerns gehörenden Werke Bayer-Leverkusen war schon sehr früh ein Bewunderer der Skulpturen von Fritz Klimsch.

Räkelndes Mächen, 1911, Ausstellung der Berliner Secession, von Carl Duisberg erworben

Der im September 1933 vom Konzern Bayer Leverkusen herausgegebene Prachtband „Kunst in Leverkusen“ stellt über 25 Plastiken, Platzgestaltungen, Brunnen aus dem Atelier Klimschs im Auftrage von Duisberg – zwischen 1912 und 1935 – vor.

Carl Duisberg als einer der Initiatoren der Gründung der IG Farben vermittelt seinem Lieblingskünstler Fritz Klimsch auch nach dem Umzug nach Frankfurt am Main weitere Aufträge – so unter anderem die Wasserspiele „Am Wasser“ in den Anlagen des Verwaltungsgebäudes der Farbwerke Hoechst (IG-Farben 1929).

Die konservative und nationalistische Grundhaltung des Industriellen Carl Duisberg war die Grundlage für die meisten Auftragsarbeiten von Fritz Klimsch in Leverkusen.

Vorgestellt seien hier zwei Themen: die Ehrungen für die militaristischen „Tugenden“des kaiserlichen Heeres und die Porträtbüsten (1916) für die „Heerführer“ des Kaisers:

Zu erwähnen sind (ohne Kontext zu Carl Duisberg) die Porträtbüste des Generals Graf von Schlieffen (1908) und das Grabmonument für General Kluck (1934/35).

Graf von Schlieffen

Präludium II Familie Röchling und die Saar

Die Familie des Saar-Großindustriellen Herrmann Röchling gehörte schon vor dem Ersten Weltkrieg und seit Anfang der Zwanziger Jahre zur Gruppe der extrem nationalistischen Wirtschaftskreise Deutschlands. Schon in dieser Periode kommt es zu Kontakten mit dem Bildhauer Fritz Klimsch. Bemerkenswert ist in diesem Kontext der Auftrag einer komplexen Denkmalgestaltung für den Röchling-Konzern in Völklingen an der Saar schon vor dem Ersten Weltkrieg:

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte die Ausführung des Großprojektes, wie Klimschs Sohn Uli in der umfangreichen Publikation von 1938 „Fritz Klimsch. Die Welt des Bildhauers“ dokumentiert (Abbildung S. 19, Text S. 95).

Ohne weitere Erläuterungen werden durch Wilhelm von Bode in der o.a. Publikation von 1924 drei Arbeiten aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg vorgestellt (Nr. 64-66), die einen Bezug zur Familie Röchling vermuten lassen:

Nr. 66, CHARIS, 1921-23

Auszug aus dem Inhaltverzeichnis der Publikation Wilhelm von Bodes:

Wolfgang Röchling, 1922
Ilse-Röchlin-Heye, 1922

Die wahrscheinlichen Kontakte des Bildhauers Fritz Klimsch zu Angehörigen der Familie des Industriellen Herrmann Röchling im Raum Freiburg/Breisgau nach 1918, die zu den hier gezeigten Skulpturen geführt haben, müssen noch im Einzelnen untersucht werden, auch über die Biographie der Dichterin Ilse Röchling-Heye und ihre Beziehung zu Fritz Klimsch ist bisher kaum etwas bekannt. (Für Hinweise in dieser Richtung bin ich sehr dankbar)

Fritz Klimsch und sein Sohn Uli – an vorderster Front bis 1945

Der Tod von Carl Duisberg im Jahre 1935 hinterließ für den über 60-jährigen Fritz Klimsch eine spürbare Auftragslücke. Der Machtantritt der Hitler-Clique brachte schon nach kurzer Schaffenspause die Erholung- Goebbels selbst wurde privat und als Dienstherr im Propagandaministerium der neue Mäzen, auch beim Erwerb schon früher geschaffener Werke – Goebbels hatte sich im internen Wettstreit mit Göring um diese einträgliche Position durchgesetzt.

Einige Beispiele aus der umfangreichen Liste der Werke Klimschs (zum Teil stammen die Original-Bildunterschriften von Uli Klimsch aus der NS-Zeit):

Ein Beispiel für die bundesrepublikanische „Umschreibung“ der Tatsache, dass es sich um eine von Goebbels bestellte Skulptur im Gebäude des Propaganda-Ministeriums handelt -aus einem Ausstellungskatalog von 1980 (Hannover) :

An diesem Ort sei der Hinweis erlaubt, dass in einer kunsthistorischen wissenschaftlichen Arbeit (Heike Hümme, Künstlerischer Opportunismus in der Malerei und Plastik des Dritten Reiches, Dissertation 2004, Technische Universität Carolo-Wilhelomina zu Braunschweig) ein ausführlicher Nachweis der bewußten und aktiven Unterwerfung Fritz Klimschs unter die stilistischen und ästhetischen Anforderungen des NS-Regimes an die Aktgestaltung (weiblich und männlich) geführt wird. Deshalb werde ich aus Platzgründen auf dieses Thema hier nicht eingehen und empfehle Interessenten das Studium dieser Arbeit.

Dem entscheidenden Einfluß des Ministers Goebbels ist es zuzuschreiben, dass Klimsch nach 1935 – nach einer Phase des gegenseitigen „Abtastens“ – mit größeren Ausstellungen geehrt, mit öffentlichen Aufträgen überhäuft wurde, deren Krönung die Gestaltung des Mozartbrunnens in der „ins Reich heimgeholten“ Stadt Salzburg werden sollte. (Literatur dazu: Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 45, Bd. 7, Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus, S. 480)

Ich verzichte an dieser Stelle auf die Wiedergabe der Porträtbüsten der Hitler, Frick und Co. – sie sind publiziert beim Sohn Uli Klimsch (1938):

Es würde die Geduld des Lesers überfordern, alle Aktivitäten Klimschs und alle Ehrungen, Aufträge (privat und öffentlich) in der NS-Periode darzustellen – dafür stehen die „Reizworte“ u.a. Berghof Obersalzberg bei Berchtesgaden („Kleine Reichskanzlei“), „Führerbau“ München, „Alte Reichskanzlei“ Berlin, Pullach, München, Secession Wien, Halle/Saale, Prenzlau, Quedlinburg.

Nicht unerwähnt aber sollte die „höchste“ der Ehrungen durch die Hitler-Goebbels-Clique bleiben:

Hitler persönlich nannte ihn auf der Sonderliste der „Gottbegnadeten“ unter den 12 wichtigsten bildenden Künstlern jener Periode. Deshalb sei eine detaillierte Wiedergabe der relevanten Namen hier erlaubt:

Abschnitt I: Gottbegnadeten-Liste

Abschnitt I des Dokuments über die für das nationalsozialistische Regime besonders bedeutenden und daher vom Kriegseinsatz freigestellten Künstler trägt die Bezeichnung Gottbegnadeten-Liste und gliedert sich in die Unterabschnitte A. Sonderliste mit 25 Namen und B. Alle Übrigen mit 353 Namen. Der Liste vorangestellt ist ein Inhaltsverzeichnis.

Unterabschnitt A. SonderlistE

Das mit I. Gottbegnadeten–Liste. A. Sonderliste. überschriebene erste Blatt von Abschnitt I enthält folgende Personen:

  • Schrifttum:
  1. Hans Carossa (1878–1956), Lyriker und Erzähler
  2. Gerhart Hauptmann (1862–1946), Nobelpreisträger für Literatur 1912
  3. Erwin Guido Kolbenheyer (1878–1962), Romanautor, Dramatiker und Lyriker
  4. Hanns Johst (1890–1978), Dramatiker und Reichskultursenator
  5. Agnes Miegel (1879–1964), Schriftstellerin, Journalistin und Balladendichterin
  6. Ina Seidel (1885–1974), Romanautorin und Lyrikerin[18]
  • Bildende Kunst:
  1. Arno Breker (1900–1991), Bildhauer, Architekt und Reichskultursenator
  2. Georg Kolbe (1877–1947), Bildhauer
  3. Josef Thorak (1889–1952), Staatsbildhauer[19]
  4. Fritz Klimsch (1870–1960), Bildhauer und Professor
  5. Hermann Gradl (1883–1964), Landschaftsmaler und Illustrator
  6. Arthur Kampf (1864–1950), Historienmaler und Professor
  7. Willy Kriegel (1901–1966), Maler und Professor
  8. Werner Peiner (1897–1984), Maler und ab 1938 Leiter der Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei[20]
  9. Leonhard Gall (1884–1952), Architekt und Reichskultursenator
  10. Hermann Giesler (1898–1987), Architekt und Reichskultursenator – Bruder von Paul Giesler
  11. Wilhelm Kreis (1873–1955), Architekt und letzter Präsident der Reichskammer der bildenden Künste
  12. Paul Schultze-Naumburg (1869–1949), Maler, Architekt und ab 1932 Reichstagsabgeordneter für die NSDAP[21]

Mit der Aggression Nazi-Deutschlands 1939 gegen Polen und dem damit ausgelösten Zweiten Weltkrieg erfahren die regimetreuen Aktivitäten des „Staatskünstlers“ Klimsch eine weitere Steigerung. Die Fotos seiner Skulpturen finden sich – selbstverständlich mit seiner Billigung – auf den Seiten der Propagandadrucke für den Frontsoldaten:

im gleichen Heft:

im gleichen Heft:

Werner Rittich (1906-1978, in der Nachkriegszeit Redakteur beim „Hamburger Abendblatt“ !) , einer der kulturpolitischen Chefpropagandisten des NS-Regimes, widmete im Kriegsjahr 1940 in der von ihm mitgeleiteten Propagandaschrift der NSDAP „Die Kunst im Deutschen Reich“ acht großformatige Seiten incl. neun Abbildungen in bester Druckqualität auf bestem Papier dem Künstler Fritz Klimsch zum 70. Geburtstag.

Besser und wahheitsgetreuer als Werner Rittich im Jahre 1940 kann man die „Verstrickung“ des Bildhauers Fritz Klimsch im NS-Regime nicht charakterisieren. Deshalb hier für Fachhistoriker und Pädagogen, deren Anliegen die thematische Auseinandersetzung mit jenem verbrecherischen System ist, der detaillierte Nachweis der Quelle:

Filbingers Großes Bundesverdienstkreuz

Der Rest ist bekannt: demokratische Politiker entscheiden sich 1946 für die Ausweisung des NS-Täters Klimsch aus Salzburg und Österreich. Zurückgekehrt in das unter Besatzungsregime stehende Süddeutschland bemüht er sich um Rehabilitation, wird abgewiesen, doch gute Freunde helfen !

Aus Österreich ausgewiesen, arbeitete er nach einer kurzen Phase des Rückzugs ins Private im Land Baden-Württemberg weiter, wurde als ehemaliges Mitglied der NSDAP und „NS-Belasteter“ von der 1955 neugegründeten Akademie ausgeschlossen, was den CDU-Politiker und ehemaligen NS-Marinerichter, SA- und NSDAP-Mitglied und späteren Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Hans Filbinger nicht daran hinderte, ihn 1960 zur Auszeichnung mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland durch den Bundespräsidenten vorzuschlagen. Die Arroganz des Goebbels-Vertrauten Fitz Klimsch ging soweit, dass er im Jahre 1955 die Ehrung mit dem „einfachen“ Bundesverdienstkreuz zurückwies, es schien nicht angemessen genug für seine „Lebensleistung“!

ERGO: Man trägt ihm das Bundesverdienstkreuz an – er fühlt sich mißverstanden. Wenn schon die Ehrung aus konservativer Gesinnung, dann aber das GROSSE ! So geschiehtt es – der Freundeskreis um Alt-Nazi Filbinger setzt die Huldigung mit dem „Großen Bundesverdienstkreuz“ durch.

Soweit die wirklichen Dinge des deutschen Konservatismus und die Verstrickungen des Fritz Klimsch.

Wie man damit umging und noch umgeht, ist der nächsten Folge zu entnehmen.

Dr. Dieter Weigert Berlin Prenzlauer Berg 27. Juli 2023

Der LINK zur ersten Folge: („Heldentod und trauernde Frau – Fritz Klimsch und die Seinen“)

Ein preußischer Hauptmann (+ 1941), ein sowjetrussischer Diplomat (+ 1923) und ein Kardinal – Wilhelm von Braun im Fadenkreuz brauner Mörder

Gedenken an Dr. Wilhelm von Braun

Der Fernsehsender 3sat strahlte am 4. Mai diesen Jahres eine historische Dokumentation unter dem Titel „Die Affäre Conradi“ aus. Nichtssagend die Produktion des Schweizer Fernsehens SRF auf den ersten Blick, aber überraschend aktuell für mich, da ich mich seit Jahrzehnten mit dem Schicksal des preußischen Hauptmanns Wilhelm von Braun beschäftige und bei diesen Recherchen auf den Namen des sowjetrussischen Diplomaten Worowski gestoßen war, der 1923 durch einen rechtsextremen schweizerisch-russischen Offizier in Lausanne ermordet worden war.

Während einer Veranstaltung auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof hatte ich im August 2011 Gelegenheit, in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Fördervereins an das Schicksal jenes preußischen Hauptmanns zu erinnern.

Ich erlaube mir, aus dieser Rede zu zitieren – mit wenigen Aktualisierungen:

„Wir gedenken heute eines Mannes, dessen Lebens- und Leidensweg mehrfach die überkommenen Leitlinien des königlich-preußischen Offiziers des 19. /20. Jahrhunderts durchbricht.

Das Leitbild, wie es die Knesebecks, Brauchitschs, Holzendorffs, Lützows hier auf diesem Berliner Offizierskirchhof an der Linienstraße verkörpern, wird durch die vier Eckpunkte bestimmt:

erstens – Offizier von der Wiege bis zur Bahre,

zweitens – protestantisch,

drittens – normgerechtes Familien- und Sexualverhalten und schließlich

viertens – politisch neutral, passiv  und loyal gegenüber der staatlichen Obrigkeit.

Hineingeboren 1883 in eine typische ostelbische Offiziersfamilie – Vater Regimentskommandeur, einer der Ahnen sogar Stadtkommandant Berlins am Ende des 18. Jahrhunderts – nimmt Wilhelm von Braun schon in jungen Jahren, kurz nach der Beförderung zum Artillerie-Leutnant im Jahre 1904,  den Abschied, um sich der Wissenschaft und der Rechtsprechung zu verschreiben. Er promoviert 1910 an der Universität Heidelberg zum Dr. jur. und promoviert nach Aussagen seines Neffen Ralph von Gersdorff (Brief an mich vom 2.Oktober 1995 und mündliche Aussage bei einem Besuch im Jahre 1996) zum Dr. theol. wie auch zum Dr. rer. pol. , was wir bisher nicht nachweisen können.  Der erste Ausbruch muss inkonsequent bleiben, da ihn der erste Weltkrieg holt – an die Ostfront, die er zwar überlebt, und in türkischen Diensten.  Er beendet den Krieg in russischer Gefangenschaft.

Der zweite Ausbruch, das Verlassen der protestantischen Gemeinschaft, der Übertritt zur römisch-katholischen Kirche, erfolgte vermutlich schon im Jahre 1912, wie der Journalist Hansjakob Stehle nach Recherchen in den Archiven des Vatikan schreibt. Es war die Freundschaft mit dem katholischen Priester Giuseppe Pizzardo, dem späteren Unterstaatssekretär im Vatikan und Kardinal, die ihn zu diesem Schritt führte.  

Pizzardo war ab 1909, also während der Studienzeit Brauns, in München Mitarbeiter der dortigen päpstlichen Nuntiatur. Über geistige, weltanschaulich-philosophische Beweggründe für diese Entscheidung ist nichts bekannt. Der Übertritt zum Katholizismus manifestiert sich vermutlich auch durch die Freundschaft zu dem polnischen Ingenieur Worowski, den er in München kennenlernt, während des Exils, in das Worowski als Sozialdemokrat (Bolschewiki) durch das Zarenregime gezwungen wurde.

Vaclav V. Worowski

Den dritten Bruch mit der Tradition, das offene Bekennen zur Homosexualität, vollzieht Braun auch schon in der Zeit vor dem Weltkrieg. Um den Verfolgungen auf der Grundlage des § 175 im Kaiserreich zu entgehen, geht Braun in das in dieser Hinsicht liberale  und tolerante Italien.

Und schließlich der endgültige Bruch – unmittelbar nach den Erlebnissen des Krieges der Eintritt in die praktische Politik, der Einsatz für die Ziele des Humanismus, des Friedens, der internationalen Zusammenarbeit. Es ist wiederum der befreundete Giuseppe Pizzardo, der die Fäden zum Vatikan knüpft. Der Vatikan versucht, die mit der Neuen Ökonomischen Politik Lenins verbundene Öffnung zum Westen zu nutzen und  bemüht sich um Kontakte zur Sowjetregierung, deren offizieller Vertreter als Chef einer Handelsmission in Rom der aus einer polnischen Familie stammende Ingenieur, Ökonom und Publizist, der Katholik Worowski ist, den der rechtsextreme Terrorist Conradi zwei Jahre später in der Schweiz erschießt. Worowski und Wilhelm von Braun kennen sich aus der gemeinsamen Zeit in München in den Jahren vor 1910 – Worowski, einer der wichtigsten Vertreter der Auslandsorganisation der Bolschewiki  in Deutschland und der Schweiz und Braun, der Jura-Student. Die erste Aufgabe Brauns in der Zusammenarbeit mit Pizzardo und Worowski im Jahre 1921 ist die Vermittlung von Hilfslieferungen der westlichen Staaten über den Vatikan für die hungernde russische Bevölkerung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese intensiven, aber informellen Kontakte Berlin – Moskau – Vatikan sich in jener Periode festigen, in der der Katholik Joseph Wirth Reichskanzler ist.

Aus diesen ersten Kontakten entwickelt sich eine Kette diplomatischer Aktivitäten, die schließlich in die Konferenz von Rapallo und die enge Zusammenarbeit des Deutschen Reiches mit Sowjetrussland ab 1921 führt. Dr. Wilhelm von Braun hat aktiven Anteil an dieser Entwicklung durch die Herstellung von Kontakten von deutschen Großunternehmen wie z.B. Siemens & Halske und Banken mit Sowjetrussland und daraus folgenden Angeboten von joint ventures zwischen dem Vatikan, Deutschland und Sowjetrussland.

In diese Periode fällt die Ermordung seines Freundes Worowski durch jenen schweizerischen Rechtsextremisten Moritz Conradi am 10. Mai 2023 in Lausanne.

Nach 1924 lebt Braun in verschiedenen Ländern, vermutlich in China, Italien, Deutschland – meist bei den Benediktinern.  Die politischen Hintergründe liegen im Dunkel, auch die weiteren Kontakte zu Moskau, geben aber Anlass zu Spekulationen – ebenso wie der überraschende Eintritt in die Nazipartei 1933.

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Die vier Ausbrüche enden 1935 mit der Verhaftung durch die Gestapo und die Einlieferung in das Konzentrationslager Dachau. Damit beginnt der Leidensweg durch die Gefängnisse und Konzentrationslager des NS-Regimes – Dachau, Mauthausen, Buchenwald. Nichts bleibt ihm erspart, der Status als politisch Prominenter wird sein Leiden noch verschärft haben, wie der Vermerk „Steinbruch“ auf einer Karteikarte der SS vom Jahre 1940 belegt.

In den KZ-Unterlagen wurde er als „prominenter Häftling“ geführt.

Was hatte es mit dem sogenannten Prominentenblock im KZ Buchenwald auf sich? Im Archiv Arolsen gibt es zwei undatierte Listen, jeweils überschrieben: „Prominente Häftlinge im K.L. Buchenwald“. Eine ist mit Sicherheit nach dem Februar 1940 angelegt worden, sie enthält Namen, darunter auch den des Dr. Wilhelm von Braun mit folgender Personenbschreibung: „Theologe, § 175, Hauptmann a.D., Polizei-Agent, Verbindungsmann zum Vatikan, Sowjetbotschafter in Rom“.  Die zweite Liste ist zwar auch überschrieben mit „Prominente Häftlinge im K.L. Buchenwald“, wurde aber in den Unterlagen des KZ Dachau gefunden. Die Eintragungen zu einzelnen Namen zeigen, dass die Liste von Mitte April 1940 stammt. Die Eintragung zu Braun ist gestrichen mit dem Vermerk 14.4.40.

Zur „Prominenz“ dieser Listen zählen u.a. Funktionäre der KPD auf Landesebene der Weimarer Republik, Hohe Staatsbeamte, katholische Priester, Militär und Gendarmerieoffiziere der ehemaligen Republiken Österreich und Tschechoslowakei.

Am 29. August 1941 wird Wilhelm von Braun durch eine Gift-Injektion ermordet. Die Schwester Bertha erhält im Winter 1941 die Habseligkeiten ihres ermordeten Bruders. Offiziell schreibt der zuständige SS-Offizier auf die Rückseite der Karteikarte mit der Auflistung des Eigentums.  „Der Nachlaß wurde am 19. Dezember 1941 der Kripo-Leitstelle Berlin zur Aushändigung an die Schwester des Verstorbenen übersandt.

W. v. Brauns Schwester Bertha

Seine Schwester, selbst dem Widerstand gegen das NS-Regime verbunden und später  vor dem „Volksgerichtshof“ angeklagt, setzte mutig durch, dass die Urne mit der Asche des Ermordeten im Familienbegräbnis auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof im Oktober 1941 ihren Platz fand.

Die Mutter Geros von Gersdorff, Bertha Friederike von Gersdorff-Büttikofer, geb. von Braun, wurde durch das NS-Regime nach dem 20. Juli 1944 festgenommen, da sie in Verbindung zu einer Widerstandsgruppe stand. Sie wurde vom „Volksgerichtshof“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und am 23. April 1945 durch die angesichts der sich nähernden Roten Armee verunsicherten Wärterinnen des Gerichtsgefängnisses in Berlin-Charlottenburg freigelassen.

Für die Verbindung der Familie Wilhelm von Brauns mit dem antifaschistischen Widerstand sprechen auch die Aktivitäten des Sohnes der Schwester Bertha, des Offiziers der Wehrmacht Gero von Gersdorf, der nach Aussagen von Familienangehörigen in Kontakt zu der Gruppe um von Tresckow stand, bei einem Einsatz für die Gruppe Ende 1941 an den Folgen eines Flugzeugabsturzes ums Lebens kam und auf dem Alten Berliner Garnisonfriedhof in der Familiengruft Braun/Gersdorf beigesetzt wurde.

Das Familienarchiv (Texte, Dokumente und Fotos) wurde uns freundlicherweise in den 90er Jahren durch den in Washington, D.C. (USA) lebenden Bruder des Rittmeisters Gero von Gersdorff und Neffen Wilhelm von Brauns, Dr. Ralph von Gersdorff, zur Verfügung gestellt. Er ist im Jahre 2006 verstorben, wie aus einem Nachruf der Washington Post hervorgeht.

Leider ist die Grabanlage der Familie von Braun mit den Grabdenkmalen des Vaters und der Mutter Wilhelm von Brauns, die noch 1978 in der von Peter Rohrlach angelegten Liste der auf dem Garnisonfriedhof vorhandenen Grabstätten aufgeführt sind (Platz 4, 3. Reihe, Nr. 299), abgeräumt worden.

Gedenken gilt ebenfalls der polnischen Widerstandskämpferin Sonia Horn, die während der Straßenkämpfe in Berlin ums Leben kam sowie zwei deutschen Soldaten, die noch in der letzten Kriegswoche bei den Kämpfen im Stadtzentrum dem Wahn der NS-Führer zum Opfer fielen – dem 18-jährigen Toni Feller (getötet am 2. Mai 1945) und dem 50-jährigen Johannes Volkmann (getötet am 27. April 1945), beide in Einzelgräbern auf dem Friedhof beigesetzt.“

Soweit die Gedenkrede aus dem Jahre 2011 – heute angesichts der zunehmenden Militarisierung unseres Landes und der kriegtreiberischen Aktivitäten führender Mitglieder der gegenwärtigen Regierung aktueller denn je.

Dr. Dieter Weigert, Vorsitzender des Fördervereins Alter Berliner Garnisonfriedhof e.V., 18. Juni 2023