Die trockene Bücherweisheit der Kleistologen behauptet – gegründet auf zehn Prozent sicheres Wissen, 90 Prozent Halbwahrheiten, Spekulationen, Hypothesen und tiefe Blicke in die Glaskugel – daß es in Frankfurt an der Oder einen gewissen C. E. Martini gegeben habe, dessen nachweisbare Existenz sich auf einige wenige Druckzeilen zusammenfassen ließe: Martini, Christian Ernst (1762 bis 1833), Theologe, später Rektor der Frankfurter Bürgerschule, Kleists Hauslehrer, mit der Familie bis zu seinem Tode befreundet. 47ı, 804. – Brief Nr. 3. ERGO: Nach Immanuel Kant war dessen Daseinszweck nur Empfänger eines Briefes zu sein, mit dessen Inhalt sich nun Dutzende Lehrstuhlinhaber und Tausende Studenten in aller Welt online und offline zu beschäftigen haben !
Ich aber, Stadtarchivar von Saalfeld im Thüringischen, Arbeitsplatz unterm Schloßdach, plage mich gemeinsam mit temporär ausgeliehener Kollegin Edda an der Durchsicht eines vor Monaten freigelegten Konvoluts historischer Papiere aus dem – wie wir vermuten – privat-geheimen – Nachlaß des Theologen und Kirchenpolitikers Josias Löffler, des „großen Sohnes unserer Stadt“ (Originalzitat Landrat).
Ehrung für Josias Löffler in Gotha (Thüringen)
Als Nicht-Kantianer bemühen wir uns um „WISSENSCHAFTLICHE SUBJEKTIVITÄT“ (Originalzitat. ICH) bei der Einordnung der jeweiligen historischen Person, ergo ihn oder sie zu nehmen als handelnden Menschen mit sehr individuellen Charakterzügen, Wertvorstellungen, Lebenszielen, Liebschaften, nicht jedoch nur als Fußnote im Lebens-Ablauf einer germanistischen Größe wie Kleist, Schiller, Goethe etc. pp. Edda und ich nehmen es gelassen, wenn uns die Kleistologen an ihren Stammtischen oder online-Zirkeln für „nicht-standes-gemäß“, für „nichtsatisfaktionsfähig“ erklären (meine Herren: IHRE EHRE ist nicht MEINE EHRE !). Erst recht lachen wir angesichts Ihrer Einteilung der Menschen in die Gruppe der Rechtschaffenen (d.h. denen das Recht zugesteht, eine druckbare Biographie – Leben und Werk- des Heinrich von Kleist auf grund ihrer akademischen Würden der Welt zu Füßen zu legen) und – von ihnen abgehoben – die Gruppe der Rechtlosen, (denen man zwar die Chance einräumt, jene Publikationen lesen zu dürfen, denen aber das Recht der Mitsprache versagt bleiben muß).
NACHDEM DAS NUN MAL GESAGT WERDEN MUSSTE; GEHT ES ZUR SACHE: Funde erster Ordnung im Konvolut: Brief jenes historischen Subjektes Christian Ernst Martini an Löffler vom November 1815 sowie drei Papiere politischen Inhalts, ohne Adressat, aber datiert zwischen 1814 und 1816. Edda könne sich ja mal dran setzen, den Brief einordnen, die Papiere analysieren auch den Martini als Person bei der Gelegenheit einordnen.
Nach drei Tagen sehe ich – Es ist soweit, sie kann ihren Bericht abliefern! Eddas Original- „Narrativ“: – Ich beginne mit dem persönlichen Brief Martinis an Josias Löffler. Der Brief ist die Anwort Martinis auf ein – vermutlich sehr ausführliches – Schreiben Löfflers an Martini in Frankfurt vom Oktober 1815. Zum Verständnis meiner „Expertise“ der Original-Brieftext jenes Martini, wobei ich darauf hinweise, daß Martini, der nur wenig jünger ist als Löffler, das vertrauliche DU in der Anrede verwendet, ein Zeichen der engen Verbundenheit! und hier auch die Kopie einer Seite der Handschrift Martinis :
„Lieber verehrter Freund, hochgeschätzter Professor und excellenter herzoglicher Superintendent !
Vom Strand des Oderflußes die herzlichsten Grüße von einem Deiner treuesten Schüler! Tiefste Dankbarkeit für das Schreiben vom letzten Monat, das mich aus der Apathie herausriß, einer tiefen Bedrückung hervorgerufen durch die bösen militairischen und politischen Ereignisse dieses Jahres in Europa. Ich danke Dir für das schöne Mahnmahl daß Du meinem Sohne gesetzt hast. – So wurde der große Tyrann gestürzt. Aber die kleinen Tyrannen die in Deutschland herrschen, werden nicht gestürzt werden. Ein bloßer Nahme ist Teutschlands Einheit. Umsonst ist mein Wilhelm gefallen. – Die sämtlichen Könige Teutschlands müßten … was sie damit Napoleons Generalen Ueberall müßten republikanische Verfassungen eingesetzt werden. Entgegen aller Schreibereyen der bezahlten Lakaien in den Residenzen der alten Welt von Rußland bis England sahen wir doch in Bonaparte und seinem frischen System einen Aufbruch, eine Beybehaltung der meisten Innovationen der Jacobiner, wenn auch verschleiert durch den Dunst einer Kaiserkrone. Das soll nun alles vorbey sein ? Die tanzenden Herren von Wien trampeln auf unseren Körpern. Es ist zum Verzagen! Ich gehe viel in die Natur – hier die Skizze eines Freundes !
Auch die Unterrichtung der Schüler läßt keinen Ausweg erkennen – Preußen will Soldaten, keine hellen Köpfe ! Wofür haben die Studenten ihr junges Leben in die Schlachten geworfen ? Wofür ist mein Wilhelm in Hessen gefallen? Auch Schüler von mir sind unter den Todten von Leipzig und Torgau ! Entsetzlich !!! Es bleibt nur das Private – und die Erinnerung an Dich, den immer lächelnden Professor der Heilslehren des Neuen Testaments. Weißt Du noch, wie Du mich einmal „Martin Römisch Zwei“ genannt hast? Römisch Eins war natürlich der Bruder Martin von Wittenberg. Ich fühlte mich geehrt und tath mein bestes deinen Anforderungen gerecht zu werden. Heute kann ich dein Wissen meinen Schülern weitergeben, dinen geschichtlichen Blick auch auf die Helige Schrift, vor allem auf das NT, auf jene große Frau des Altertums, die wir Maria Magdalena, unsere französischen Schwestern und Brüder Madeleine nennen. Ist es Dir schon einmal wie mir in Berlin beim Besuche eines guten Freundes begegnet, daß ein französischer Offizier, den mein Freund eingeladen hatte, aus seiner Kartentasche das Bild jener Madeleine zauberte? Er trug (oder vielleicht lebt er noch und trägt es heute noch mit sich herum) nicht das Bild der Muttergottes, sondern das Konterfey der Heiligen Madeleine am Herzen. So sind die Franzosen !
Ich muß gestehen Chef, mir kamen die Tränen. Ich glaube, wir können an dieser Stelle unsere nüchterne, aber von Sympathie und Hochachtung getragene Einschätzung dieses Briefes unterbrechen. Vielleicht morgen mehr davon.
Die drei beiliegenden nicht-privaten Papiere sind in einer sachlichen, nüchternen Sprache verfaßt, standardisiert, unterschrieben von einem „CASIMIR“ und datiert – zwischen 1807 und 1810. Auffällig ist die vielfache Verwendung französischer Worte für wirtschaftliche und militärische Begriffe. Ich bin vielleicht keine Expertin für Geheimdiens-Berichte, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, daß unser Bruder Martini Analysen auf der Grundlage von Gesprächen und Beobachtungen in der Garnisonstadt Frankfurt angefertigt hat. Der Dienst, der ihm dafür ein gutes Honorar gezahlt haben könnte, wäre eventuelle der des französischen Kaisers gewesen. Hier eine Seite aus einem der drei Berichte:
Dieser Bericht vom 27. März 1810 umfaßt 6 Blätter, beidseitig beschrieben, also wäre viel zu entnehmen durch den Empfänger. Heiße Ware sozusagen, ich vergeude unsere kostbare Zeit nicht mit Transkription, die Schrift ist super lesbar. Aber, bester Chef – wie kommt die Abschrift des Berichtes – und darum kann es sich ja nur handeln – in den Besitz unseres Josias ? Wenn Casimir-Martini für die Franzosen gearbeitet hat, bei seiner Sympathe für die Revolution und ihren Vollender Napoleon (aus seiner Sicht) durchaus vorstellbar, wieweit ging dann die Vertraulichkeit mit seinem Freund, den königlichen Professor und Generalsuperintendenten ? Das ist für mich eine offene Frage. Sympathien ja, aber aktives politisches Handeln? Ganz absurd wäre die Vorstellung, auch Josias hätte für die Franzosen gearbeitet – dann hätte er aber solche Berichte nicht in seinem Privatbesitz! Belassen wir es für heute dabei, vielleicht findet sich das eine oder andere Papierchen, was uns weiter helfen könnte.
Für manche war der Name Martini nur die Bezeichnung eines Punktes im Netz der Beziehungen des Dramatikers und Erzählers Kleist – ein Orientierungspunkt des Briefeschreibers, des Mannes, der erklärt weshalb er aus der Armee ausscheidet – dieser Martini in Frankfurt an der Oder führt kein Eigenleben, dieser Martini ist in den Augen der „Kleistologen“ nur Briefempfänger, er ist nicht aktiv, er hat keinen Einfluß auf das Werk des Dichters ! Wunderliche „Wissenschaftler “ !!!
Zu deren Erinnerung: Am 5. Febraur 1788 überreicht eine Gruppe von Sudenten, darunter Alexander und Wilhelm von Humboldt, Martini und Wegener ihrem geliebten Professor Löffler, „Gewidmet von Seinen Zuhoerern und Verehrern“, eine gebundene Mappe mit künstlerisch gestalteten Vignetten und den Unterschriften zum Abschied von der Universität Frankfurt an der Oder. Eine nochmalige Zeremonie in derselben Form findet am „18. des Herbstmonats 1788“ vor der Abreise Proifessor Löfflers nach Gotha statt, diemal auch u.a. mit den Unterschriften von Martini und Wegener, aber ohne die der Gebrüder Humboldt, die in der Sommerpause 1788 die Universität verlassen hatten.
Dr. Dieter Weigert 22. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg
Die nächsten Folgen der Erinnerungen des Saalfelder Stadtarchivarr erscheinen in unregelmäßigen Abständen.
Einige Tage lasse ich Edda zur Entspannung, dann nehme ich den Textentwurf zur Hand, den ich zur Interpretation der „Berlin-Dokumente“ – vor mir so bezeichnete Gruppe der Briefe, der losen Blätter, der kolorierten Kupferstiche, der amtlichen Schreiben, Notizen ohne Datierung, Verfasser – und beginne zum Entsetzen der lieben Edda zu dozieren: Über zwei Stunden argumentiert Spalding, dann ist der Widerstand gebrochen. Da fragt Löffler nach den Einzelheiten, um welche Stelle ginge es denn? Oberkonsistorialrat Spalding zögert, aber muss Farbe bekennen: ja mein lieber Freund, es ist keine der großen Kirchen in Berlin, es ist etwas Unscheinbares, das aber die Tore für Sie öffnet! Es ist eine Gefängniskirche, die Kirche der Hausvoigtey. Löffler zuckt zusammen – eine Gefängniskirche? Haben wir denn so etwas in Berlin?
Aber natürlich! Ich glaube, sie kennen die Strukturen des lutherischen Oberkonsistoriums noch nicht so genau, dass Sie auf der Stelle zusagen können. Wir haben zwei getrennte Gefängnissysteme in der Residenz Berlin – eines für den königlichen Hof, seine Angehörigen und obersten Chargen im engen Sinne – nur die oberen paar Dutzend sowie die dazugehörigen Domestiquen und dann haben wir ein Gefängnis fürs gemeine Volk. Das erste heißt Hausvoigtey, das zweite heißt Stadtvoigtey.
Er geht zum Regal neben der Tür, öffnet einer der großen Schachtel und legt einige colorirte Stiche auf den Tisch.
-Hier mein junger Freund, das hat mir Nicolai geschenkt, frisch aus der Presse !
Die Hausvoigtey hat im Unterschied zur Stadtvoigtey einen eigenen Prediger. Es handelt sich ja doch immerhin um den königlich-preußischen Hof. Wenn da so ein Prinz oder sein Stallmeister mal über die Stränge schlägt und eingelocht werden muss, dann braucht er Seelsorge auf allerhöchster Ebene. Daran sehen sie schon, dass das kaum eine große Arbeit macht, denn wann schlägt ein Prinz mal über die Stränge und wann erfrecht sich die Wache, ihn ins Gefängnis zu stecken? Ich habe in den letzten Jahren noch keinen solchen Fall vernommen, aber es muss auf dem Papier einen Prediger geben und der muss gut lutherisch sein. Das unansehnliche Gebäude der Hausvoigtey – also des Hausvoigts, des Gerichts und des Gefängnisses – stand bis vor kurzem zwischen dem Schloss und der Domkirche, nach dem Abriß des Doms wurde ein neues Gebäude auf dem Friedrichswerder zwischen der Nieder- und Oberwallstraße errichtet.
In den ältesten Zeiten wohnt der Hofrichter sogar auf dem königlichen Schlosse. Bei dem Bau des neuen Schlosses Anfang dieses Jahrhunderts wurde die Hausvoigtei auf den Werder in die Unterwasserstraße neben der Münze verlegt. Bei Erweiterung der Münze ward sie hierher versetzt, wo bis dahin die Stallungen des Jägerhofes standen – über denselben wohnten sogar einige Jagdbediente. Vorn ist in einem zweigeschossigen Gebäude, die Gerichtsstube, die Wohnung des Hofrichters und ein Saal zur Kirche. Hinten sind auf zwei Höfen Gefängnisse und deshalb steht auf dem ersten Hofe eine ständige militärische Wache.
Ich empfehle beim nächsten Rundgang durch die Stadt eine Besichtigung zumindest von außen. Und was ich noch dazu sagen möchte – zu dieser Prediger-Stelle gehört auch die Seelsorge an der Charité – Sehen Sie die anderen Blätter:
Jetzt hellt sich das Gesicht von Josias Löffler wieder auf: „das klingt ja interessant, aber soweit ich weiß, gibt es dort schon einen reformierten Prediger“ – „Ja, das stimmt, Sie werden dort eine eigene Wohnung haben im Charité-Gebäude. Die Nachbarwohnung hat vor kurzem erst ein reformierter Prediger bezogen, auch ein junger Mann, vielleicht haben sie die Gelegenheit mal mit ihm zu sprechen, aber ihre Hauptarbeit ist das Gefängnis zu betreuen, auch wenn da niemand drin sitzt.
Ihre Kammer liegt auf dem gleichen Flügel wie die des reformierten Kollegen – ich hoffe, Sie vertragen sich!
An Uniformen wird kein Mangel sein:
Also ich sehe ich habe Ihnen nicht zu viel versprochen, es ist massenhaft Gelegenheit und Zeit für ernsthafte Studien, für Publikationen, für wissenschaftliche Gespräche und für dergleichen Wanderungen wie heute durch den Tiergarten mit mir“.
„Wann soll es denn losgehen mit der Gefängnis-Seelsorge?“ Löfflers Stimme hat ihre normale Tonart wiedergefunden – „Zu Weihnachten, wenn die Formalitäten erledigt sind. Sie können sich ja schon mal die beiden Kammern in der Charité ansehen, ich gebe Ihnen morgen ein Schreiben mit. Die Besichtigung des Zellengefängnisses eilt nicht, da wird zurzeit nicht gestorben und nicht gerichtet – soweit ich weiß auch nicht gefoltert!“ Spalding sah man die Erleichterung an, die ihm die Zusage Löfflers verursacht hatte.
Von nun an lud Spalding den künftigen Kollegen zu den weiteren Gesprächen in seine Propstei-Dienstwohnung in der Nikolai-Kirchgasse ein, die vor dem Umzug Spaldings von Barth nach Berlin auf Kosten des lutherischen Oberkonsistoriums aufs Beste hergerichtet und möbliert worden war. Josias Löffler bewundert im Stillen die reichhaltige Ausstattung der zwei Etagen im altehrwürdigen Gebäude am geräumigen Rasenplatz neben der Kirche, versteht die persönliche Einladung als Attribut des bevorstehenden Karrieresprungs und als Vertrauensbeweis des Oberkonsistorialrats und seiner königlichen Vorgesetzten. Er weiß, dass es nun kein Zurück gibt.
Josias sieht die Vertrauensgeste auch als Aufforderung zu einem engeren Verhältnis; er versteht sich nun als Meisterschüler, als „Zögling ersten Grades“ des großen Spalding – und wagt sofort, eine diskrete Frage zu stellen, die sich ihm schon beim Eintreten in das Zimmer aufgedrängt hatte – wie er sich die Vorliebe für Maria Magdalena erklären soll, die gleich dreimal hier im Dienstzimmer des evangelischen Probstes und Oberkonsistorialrats künstlerisch präsent ist.
Der brave Lutheraner Spalding findet nichts besonders Aufregendes an der Frage, hat auf der Stelle – ohne nachschlagen zu müssen – jene Oster-Predigt aus dem Jahre 1538 parat, in der „der große Wittenberger“ die „Sünderin“ und „Büßende“ des katholischen Heiligenkalenders kommentarlos beim Namen nannte. „Der dreiteilige Altar und der einsame Altarflügel stammen übrigens aus Ihrer Heimat, aus dem Thüringischen, Arnstadt und Erfurt, lieber Josias, wie vermutlich auch die Tafel in der Ecke neben dem Fenster.“ Josias konnte seine Überraschung kaum verbergen. Er kannte zwar das Neue Testament in der Fassung Martin Luthers, hatte sich dank der Bemühungen der Hallenser „Väter“ wie Semler und Nösselt auch mit den Differenzen zwischen den Übersetzungen Luthers und den aktualisierten Predigttexten der evangelischen Kirchen im mitteldeutschen Raum und in Brandenburg-Preußen beschäftigt, ist aber nun auf eine solche unverhoffte Begegnung mit der engen Vertrauten des Erlösers nicht vorbereitet. „Sehen Sie sich die Gemälde näher an, lieber Josias, ich freue mich schon auf die textkritische Debatte mit Ihnen – es muß ja nicht gleich heute sein“ – schmunzelte Spalding. Josias näherte sich vorsichtig dem dreiflügeligen Altarbild aus Arnstadt – links vor ihm die Szene mit zehn herbeieilenden Jüngern, in der Mitte die eigentliche Auferstehung: das steinerne leere Grab, flankiert von Petrus und Paulus, dominierend mit Banner der Erlöser, niedergeschmettert am Boden zwei Wächter und rechts die vier Frauen des Neuen Testaments mit ihren Attributen – in der ersten Reihe, gleichrangig mit der Jungfrau Maria, Maria Magdalena mit dem Salbengefäß.
„Mein Lieblingsstück ist jene einsame, leidende Frau am Fuß des Kreuzes“ – Spalding nahm den jungen Kollegen am Arm und führte ihn nach hinten, in eine halbdunkle Ecke des Zimmers, vor eine Holztafel „sie ist dem Erlöser am nächsten, näher noch als Mutter Maria!“ – „Eigentlich ein ketzerischer Gedanke ?“ wagt Josias zu flüstern.
„Sie kommen der Sache näher, junger Freund; man munkelt, daß jene drei Kunstwerke – das letztere sogar aus der Cranachwerkstatt, den fanatischen Bilderstürmern der Reformationszeit von mutigen Männern (oder Frauen) aus den Händen gerissen wurden, ansonsten hätten sie das traurige Schicksal so vieler Gemälde, Statuen, die in Kirchen und Klöstern geteilt, die zerschlagen oder verbrannt worden waren. Über die wundersamen Wege der Rettung dieser drei Stücke und des Erwerbs durch einen meiner Vorgänger hier in der Propstei gibt es nur mündliche Berichte, nichts Schriftliches.“ – Josias konnte sich nicht von der Figur der Maria Magdalena in der dunkler Zimmerecke lösen – „Bin ich einem Irrtum verfallen, Herr Oberconsistorialrath, oder unterscheidet sich nicht doch sehr wesentlich die Gestaltung der Gesichtszüge der beiden Figuren der Maria Magdalena – jener im Auferstehungsaltar und jener der Kreuzigungsszene – kunstgeschichtlich gesprochen?“ „Josias, man erkennt die Sprache des Absolventen der Hallischen Universität, des weiten Blicks des Theologiestudiums, das nicht an den Texten klebt, sondern alle kulturellen Entwicklungen einschließt! Natürlich sind zwischen dem dreiflügeligen Altar und der Holztafel aus der Wittenberger Werkstatt der Cranachs etwa einhundert Jahre Unterschied in der künstlerischen Wahrnehmung und der Gestaltung. Aber sehen Sie sich auch das Haupthaar der Maria Magdalena an, lang wallend über die Schultern, über den Rücken bis zu den Lenden jene Frau schmückend, die zu Füßen des Gekreuzigten kniet und den Holzbalken des Kreuzes im Schmerz umfaßt, lebendig, natürlich, den Betrachter ergreifend ! Währenddessen das Haupthaar der Frau auf der rechten Altartafel aus Arnstadt, vermutlich Mitte des 15. Jahrhunderts, züchtig unter einer Haube fast verschwindet und die weiße Haube durch den goldenen Heiligenschein erdrückt wird! Die Gesichtszüge sind steif, unnatürlich, starr wie auch die Hände.“
Spalding nimmt eine Bemerkung Löfflers, aus der er eine gewisse Verunsicherung über den möglichen Verlust der wissenschaftlichen Zukunft herausliest, zum Anlass, auf seinen eigenen Lebenslauf hinzuweisen: „Sehen sie mein lieber Freund, mein junger Kollege im spe, mir wurde an der Wiege nicht gesungen, dass ich Probst einer großen Kirche in Berlin sein werde, Mitglied im Oberkonsistorium, angesehener Buchautor, theologischer Berater des Königs, Bewohner einer hochherrschaftlichen Residenz und zu entscheiden habe über die Zukunft meiner jungen Kollegen, Kandidaten wie Sie es sind für künftige Positionen in unserer gemeinsamen Kirche. Wie sie wissen, komme ich aus Pommern, damals noch Schwedisch. Mein Vater war ein sehr engagierter Pastor in der schwedischen lutherischen Kirche, er schickte mich auf das Gymnasium in Stralsund mit der Vorstellung, ebenfalls ein guter Pfarrer zu werden. Ich erfüllte seine Anforderungen – ich hatte im Unterschied zu Ihnen das Glück, dass mein Vater mich beraten konnte und dass ich mich an meinem Vater festhalten konnte in Situationen wo die Schule, das Studium an der Universität nicht so lief wie ich mir das vorstellte. Sie sind jedoch als Waise an eine gute Schule in Halle gekommen, hatten das Glück mit den Professoren Semler und Nösselt zusammen zu sein, deren Bibliotheken, deren Häuser nutzen zu können. Ich musste mir vieles selbst arbeiten, aber hatte immer den Traum, Pastor in einem in einer kleinen Stadt Pommerns nahe bei den Menschen zu sein, Gottes Wort im Miteinander zu lehren, zu vermitteln. Die Kanzel war für mich ein Tisch, an dem auf der anderen Seite der Gläubige sitzt, die Kanzel war nie etwas, was ich als Belehrungstisch von oben herab ansah.
Am liebsten saß ich unter den Menschen in einer Gruppe, versuchte ihre Fragen zu verstehen, ihre Zweifel, das hat mich befriedigt und auch das Studium in Rostock und Greifswald, das Studium der Philosophie der Theologie der alten Sprachen hat mich nicht von den Menschen weggebracht, sondern noch mehr an sie herangeführt.
Auch ich war privater Hauslehrer und habe als Hauslehrer die kostbare Freizeit genutzt, mich theoretisch weiterzubilden und den Traum der Doktor-Promotion zu realisieren. Ich habe es niemals versäumt oder abgelehnt, Tätigkeiten anzunehmen, die scheinbar einen Umweg bedeuteten zur Erreichung meines Traums, den Menschen das Wort Gottes direkt mündlich nahe zu bringen.
Ich habe selbst eine Situation wie die des Sekretärs eines schwedischen Gesandten in Berlin immer gesehen als Möglichkeit mein Wissen zu erweitern, meine praktischen Lebenskenntnisse zu vertiefen. Ich war glücklich über solche Tätigkeiten und habe nebenbei geschrieben, auch schon publiziert. Mein erstes Buch, die „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ konnte ich natürlich auch nur anonym veröffentlichen lassen – die preußische Zensur hätte es in der Luft zerrissen, weil es nicht von Gott Heil handelte, sondern von der Vervollkommnung Menschen. Das Individuum erreicht sein Glück über die Sinnlichkeit, über das Vergnügen des Geistes, über Tugend und auch Religion, aber nicht durch Offenbarung, sondern durch tugendhaftes Leben, so wie ich es bei Leibniz und Christian Wolff gelesen hatte.
Ich hatte das Glück, einen Menschen als Freund zu finden wie unser Väterchen Gleim in Halberstadt, der meine ersten Schritte als Pastor in der Kleinstadt Lassan In der Nähe von Stralsund begleitete. Er hat mich motiviert, er hat mir Mut zugesprochen, hat mich ermuntert. Wir haben meine Fehler lange Nächte diskutiert, die ich gemacht habe in meinem jugendlichen Überschwang. Das kleinstädtische, das Dörflich-Gemeinschaftliche dieser pommerschen Umwelt, nicht die Nähe des Hofes, sondern der Umgang mit ganz normalen Menschen hat mich zu dem Menschen gemacht der ich heute bin – Gott in den Menschen und in ihrer täglichen praktischen Umwelt suchend und nicht in theoretischen Debatten.“
Josias hatte mit 24 Jahren durch sein Ja zum Angebot von Spalding die Tür zu einer neuen Etappe in seinem Leben aufgestoßen – auf eigenen Füßen stehen, wichtige Entscheidungen treffen und in allen kommenden Situationen zu ihnen stehen, das heißt einen hohen Grad an Selbstdisziplin entwickeln, noch höher als an der Schule und beim Studium.
Ich nahm eine der Urkunden zur Hand, die ich zwar schon unter den abgeschlossenen abgelegt hatte, suchte darin nach Hinweisen auf sehr Persönliches, Individuelles des Menschen Josias in jenem ersten Jahr in Berlin. Es war ein amtliches Schreiben Spaldings vom 2. November 1776 über ein Gespräch mit Löffler in Berlin, unten links die zustimmenden Zeilen von drei Kollegen. Der Text war einigermaßen lesbar:
„Eben itzo hat sich der Candidatus Theologiae, Hr. Löffler, der schon verschiedene Jahre hier in Berlin eine Informationsstelle verwaltet hat, wegen der Predigerstelle an der Hausvogtey bey mir gemeldet und wird auch bey meinen Hochgelahrten Herren Collegen zu Ihnen an dem heutigen Tage nicht beschwerlich zu werden, morgen sein Gesuch persönlich anbringen.
Da er wegen seiner vorzüglichen Geschicklichkeit sowohl als Bescheidenheit unter unseren besten Candidaten gehöret, und wir überdem schon in Verlegenheit sind ein anderes taugliches Subject zu finden, so halte ich ihn an meinem Theile für sehr ansehungswürdig. Er wird aber vorher noch eine Probepredigt zu halten haben, welche allenfalls am bevorstehenden Freytage geschehen kann.“ Von den zustimmenden Zeilen der Kollegen, vermutlich Mitglieder des Oberkonsistoriums, sind die des dritten Herrn besonders beachtenswert, da er sich keinen besseren Candidaten als Löffler vorstellen kann – Herr Nummer zwei verspricht seinem Chef Spalding den Besuch der Probepredigt, um sich ein Bild des Candidaten machen zu können.
Beim heutigen nochmaligen Studium dieses Schreibens erkenne ich auch den Zusammenhang mit jenes Königlichen Schreibens vom 28. November 1776 an Spalding:
„Von Gottes Gnaden Friederichs König von Preußen … p.p.p.
Unseren gnädigen Gruß zuvor Würdiger Hochgelahrter Rath, Lieber Getreuer!
Demnach der zum Gefangen Prediger bey der Hauß Voigtey berufene Candidat Loeffler dato darauf confirmirt wurde, also befehlen wir Euch hiermit allergnädigst, denselben gewöhnlichen Maaßen zu introduciren und seine Zuhörer zur gebührenden Pflicht und Achtung gegen ihn anzuweisen.“
Keine formale Hürde, keine Prüfung blieb Josias Löffler erspart – am Beginn der Laufbahn eines Pfarrers stand im protestantisch-lutherischen Preußen die Predigt-Erlaubnis, ausgestellt vom Ober-Konsistorium, nachdem der Kandidat eine Prüfung abgelegt und eine öffentliche Probepredigt unter den Augen der Mitglieder dieses Gremiums gehalten hatte. Spalding hatte in weiser Voraussicht und im Rahmen seiner Personal-Politik jene Prüfung und das erste öffentliche Auftreten Löfflers schon für den Sommer 1776 eingeplant, so dass die Prüfungs-Urkunde das Datum vom 5. September trägt, also lange bevor Spalding die ersten Gespräche mit Löffler führen wird.
Man geht nicht fehl, wenn man dahinter nicht die leitende Hand des Ministers von Zedlitz in Absprache mit dem König vermutet. Sie überlassen die wichtigen Personalentscheidungen nicht dem Zufall, nicht tagespolitischen Erwägungen, sondern treffen solche Entscheidungen in strategischer Sicht. Kirchenpolitik ist für die Majestät eben auch Politik, nicht Geplänkel – Jeder mag nach seiner Facon seelig werden – aber ihm abgesteckten Rahmen der königlichen Strategie.
Eine Abschrift jener Prüfungs-Urkunde habe ich mir inzwischen besorgt – ein einmaliges Dokument: „Predigterlaubnis Licentia Concionandi, 5. September 1776, Ober-Consistorium Berlin …
Nachdem der Studiosus Theologiae Josias Friedrich Christian Löffler aus Saalfeld gebürtig, zu Erlangung der Erlaubnis zu predigen, von denen dazu bestallten Examinatoren wie gewöhnlich geprüft worden und dabei sich nichts hervorgetan, weshalb ihm die gesuchte Erlaubnis zu predigen versagt werden könte, so wird darüber und daß derselbe licentiam concionandi erhalten, gegenwärtiges testimonium unter des Ober-Consistorii Insiegel hierdurch ertheilt, auch derselbe zugleich angewiesen, bey dem Inspektori zu dessen Diceces der Ort seines Aufenthalts gehört, sich zu melden und hiernächst, wann er diese Inspektion verändern sollte, sich mit dem Zeugnisse seines bisherigen Inspectoris, bey demjenigen wieder zu melden, unter dessen Inspektion er alsdann sich begibt. Berlin, königlich preußisches evangelisch-Lutherisches Ober-Consistorium Hagen
Es ist kurz vor Feierabend, ich mache Odnung auf meinem Tisch. Zwischen zwei Urkunden liegt ein Brief, von „Esther“ an „Josias“, ohne Datum, ohne Familiennamen, mit zerbrochenem, daher nicht mehr entzifferbarem Siegel, zwei engbeschriebene Blätter, Vorder- und Rückseite genutzt, der Inhalt für damalige Verhältnisse sehr intim und verblüffend wissenschaftlich und weltanschaulich! Was soll ich damit anfangen? Wie soll ich ihn einordnen, darf ich ihn der Öffentlichkeit preisgeben? Ich versuche, den Brief mit einigen anderen Einzelpapieren in Verbindung zu bringen, vergleiche Namen, Daten, Bezug zu historischen Ereignissen. Erfolglos.
Edda sieht auf den ersten Blick, dass mit mir etwas nicht stimmt. Fraulicher Instinkt. Wortlos reiche ich ihr den Brief hinüber. Sie wendet und dreht und sucht nach Blatt zwei. Sie bittet um Vertagung, möchte aber an der Sache dranbleiben. Drei Tage später hat es „gefunkt“: das Bauchgefühl triumphiere wieder einmal über den nüchternen Verstand, sie sei einer Liebensgeschichte auf der Spur! Einer Liebesgeschichte unseres heiligen Josias! Ob sie vortragen dürfe.
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Es ist Anfang November – später Herbst – geworden, wir müssen schon in unserem Dachkämmerchen die Heizung voll aufdrehen. Edda war es gelungen, mir die Zusage abzuringen – trotz starker Brandschutzbedenken –, einige echte Kerzen aufzustellen, so dass eine freundlichere Arbeitsatmosphäre entstanden war.
Aus den unterschiedlichsten Belegstellen der Dokumente des Konvoluts, an den Rand mancher Papiere und Briefe mit fremder Hand gekritzelten Bemerkungen, offiziell angeforderter Anlagen zu Aktenstücken, im Nachhinein geschriebener Erinnerungen aus der Feder von Josias Löffler selbst konnte ich mir in den Wochen in Zusammenarbeit mit Edda ein Bild machen von jener Situation, in die der junge Absolvent der Universität Halle an der Saale hineingeworfen wurde bei seinen ersten Begegnungen mit der königlich-preußischen Residenz Berlin Mitte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts.
Friedrich II.
Die Hallischen Überväter Semler und Nösselt hatten es geschafft, den ungestümen Saalfelder Jungen für den Ernst des studentischen Lebens hinzubiegen, so dass Josias mit 22 Jahren, zu Johannis 1774, in unserem heutigen Kalenderverständnis im Juni, die Universität beenden konnte. Vorher, zu Ostern, war er auf Anraten Semlers mit einigen Adressen, die er ihm in die Manteltasche gesteckt hatte, nach Berlin gereist. Schon die erste Adresse war ein Erfolg: im Haus von Oberkonsistorialrat Teller gab es nicht nur eine Übernachtung und gutes Frühstück, sondern auch das nicht auszuschlagende Angebot einer Hauslehrerstelle bei einem reichen Kaufmann, beginnend im September.
Die Bekanntschaft mit der preußischen Residenz war für den provinziellen Thüringer in den ersten Wochen ein kulturelles Erdbeben – das Betuliche, Behagliche des Saalfelder Lebens; das Abgehobene, in der Gottesgelahrtheit Schwebende der Universität Halle war über Nacht dem lauten Treiben der ausgedehnten Berliner Magistralen gewichen. Josias brauchte einige Tage, die Weitläufigkeit der Plätze und Märkte der Friedrichstadt zu verdauen, das Gigantische des königlichen Schlosses am Lustgarten nicht mehr als Bedrohung zu empfinden, die junge Lindenallee in Richtung Charlottenburg anzunehmen. Dennoch – es war die Stadt des großen Friedrich, die ihn vom ersten Tage, ja von der ersten Stunde an in den Bann zog!
Zeichner: Daniel Chodowiecki
Schnell hatte Josias das Netzeknüpfen begriffen: Semler kannte Teller, Teller war eng befreundet mit Propst und Oberkonsistorialrat Spalding, Spalding hatte über Minister von Zedlitz und dessen Staatssekretär Biester Zugang zur Majestät, letztlich entschied der König persönlich – die besten Hallenser Absolventen waren begehrt in Berlin, als Privatlehrer, als Prediger, als Juristen, als Ärzte, auch als Feldprediger im Heer.
Josias erkannte, dass insbesondere der Oberkonsistorialrat Johann Joachim Spalding ihn beobachtete. Man traf sich bei den Predigten in den altehrwürdigen Hallen von St. Nikolai und St. Marien, in den Bibliotheken, bei den gutbetuchten Eltern der Privatschüler, die vor allem in den antiken Sprachen und der Kirchengeschichte durch die jungen Hallenser Absolventen eine Erweiterung des Schulstoffes erfuhren.
Noch in Halle hatten seine beiden Mentoren Semler und Nösselt dem Absolventen Löffler wärmstens den Ratschlag ins Reisegepäck gesteckt, sich in Berlin an den Oberkonsistorialräten Wilhelm Abraham Teller und Johann Joachim Spalding zu orientieren, wenn ihm an einem Fortkommen in der Residenz gelegen sei. Josias entnahm den ausführlichen Erzählungen, dass e seine sehr enge, freundschaftliche, ja fast intime Bekanntschaft der Hallischen Professoren mit den führenden Berliner Kirchenleuten bis in die höchsten ministeriellen Kreise gab – bis in die Vorzimmer des Königs.
So hatte ihm in einem vertraulichen Gespräch Nösselt lachend und in aller Ausführlichkeit und Breite erzählt, wie er als junger Student im Jahre 1754 gemeinsam mit dem jetzigen Minister von Zedlitz in einer auf Spezialorder des Königs in höchster Eile kompilierten Vorlesung des bedächtigen und trockenen Philosophieprofessors Meier gesessen habe und sich beim Anhören des offensichtlich nur angelesenen und nicht verarbeiteten Sammelsuriums der erkenntnistheoretischen Ansichten von John Locke verstohlen vertrauliche Blicke der Missbilligung mit Zedlitz ausgetauscht habe. Noch Tage später hätten Zedlitz und er ihr Unbehagen und ihre scharfe Kritik an einer solchen Prozedur privat ausgetauscht und darüber hinaus mannigfaltige Berührungspunkte in ihren weltanschaulichen Positionen gefunden.
Nösselt hatte bewusst darauf verzichtet, seinem Lieblingsstudenten und Privat-Assistenten Löffler moralisierend eine „Lehre fürs Leben“ mitzugeben – den Weg zum jetzigen Minister von Zedlitz in Berlin müsste Löffler schon selbst finden. Lächelnd hatte er aber noch ergänzt, dass insgesamt nur vier Studenten die auf königliche Order zustande gekommene Vorlesung von Meier besucht hatten und Professor Meier dieses Thema niemals wieder berührt habe.
Johann Erich Biester
In den Ostertagen des Jahres 1774 – wir wissen es aus einem nachgelassenen Brief Johann Erich Biesters an seine Lübecker Freundin Luise Haake vom 27. Juli 1776 aus Berlin, der durch einen der nicht seltenen Zufälle in unserem Archiv gelandet war – war es auch zu einem Gespräch Löfflers mit dem frisch promovierten Dr. jur. Biester im Gasthaus Zum Schwarzen Adler in der Berliner Poststraße gekommen, vermittelt durch den Vater eines Löffler anvertrauten Privatschülers. Ich suche den Brief nochmals heraus und bitte Edda, ihn vorzulesen, um mich konzentriert mit nunmehr geschultem Blick für das Berliner „Geflecht“ der jungen Akademiker Löffler und Biester der historischen Situation widmen zu können:
„Luise, mein geliebtes Täubchen, die elende Warterey hat ein Ende!!! Noch ist es nicht offiziell, aber du bist die erste, die vom angehenden Geheimsekretär des Ministers die geheime Nachricht von seiner geheimen Bestallung im geheimen Büro erhält – bitte aber geheim zu betrachten bis auf Weiteres!!! Offiziell wird es Staats Secretair heißen, aber der alte Fuchs von Zedlitz, der mich mit dem geschulten Blick des Kenners persönlich aus der Gruppe der Männer mit großen Ohren, geschlossenen Mäulern und unersättlicher Wissensbegierde erwählte, machte mich zum Anwärter für Höheres, läßt mich aber vorerst nur Probestückchen meines Talents abliefern, die hoffentlich der Majestät zusagen werden.
In Berlin weiß es bisher nur mein alter Freund Josias Löffler, mit dem ich am Ostersonntag 1774 auf einer Bank am Spreeufer gegenüber dem königlichen Schloß Zukunftspläne schmiedete. Er war aus Halle herübergekommen, um sich nach einer Stelle als Privatlehrer umzusehen, war auch glücklich gelandet, so daß wir gemeinsam den Tintenkleksern der Residenz an beiden Ufern der Spree tüchtig einheizen können. Das Schloß fand er übrigens gar nicht so beeindruckend – es sei Gigantomanie, aufgeblasen, wirke kalt und tot. Er, Josias Löffler, habe nach kurzer Wartezeit in den privaten Schulräumen bei Bankiers und Handelsleuten eine königliche Predigerstelle erhalten, ich aber, wie du weißt, hatte weniger Glück, reiste im Mecklenburgischen herum, unterrichtete um des Broterwerbs willen störrische Adelssprosse, antichambrierte wieder in Berlin. Zwei schlimme Jahre, aber doch gefüllt mit Erfahrungen und endlich der Bekanntschaft des lieben Nicolai, dessen Bibliothek und Befreundetsein mit einflußreichen Hofbeamten nun Gottseidank Früchte trägt …“
In der Geschichte versunken, bitte ich Edda um etwas Geduld, bevor wir uns an Biester und Zedlitz heranmachen. Ich würde sie, die inzwischen eng Vertraute meiner Recherchen, gern in jene Gedanken einführen, die mir nach dem Durchblättern anderer Briefe Löfflers an Bekannte in Halle gekommen waren und die doch ein authentisches Bild der „Anfängerjahre“ des jungen Theologen Josias in der königlichen Residenz vermitteln:
An einem noch warmen, trockenen Oktoberabend 1776 bittet der Probst der Berliner Marienkirche Spalding – weißhaarig, mir einem goldbelegten Stock in der Linken, den rechten Arm auf gute schottische Art hinter den Rücken gelegt – den jungen Löffler zu einem Spaziergang in den Tiergarten. Er lässt sich von Josias über die Fortschritte bei dessen Studium der Kirchenväter berichten, zu dem er ihm ernsthaft vor zwei Jahren für die freien Abendstunden nach dem doch nicht allzu anstrengenden Unterricht mit den Privat-Zöglingen geraten hatte, verfällt dabei wie in Gedanken versunken ins Latein, freut sich im Stillen über die glänzende Parade des Zöglings, schlägt sich an die Stirn: „Ach mein Lieber, nun bin ich gar ins Antikische abgerutscht, bitte verzeihen Sie die Altersschwachheit! – Aber da wir nun schon mal vom Pfade abgekommen sind, auf die Wege des Herrn gelangt sind – Was halten sie denn, junger Freund, von einer Predigerstelle in Berlin? Es wird Zeit dafür, ansonsten ersaufen Sie im Sumpf des alltäglichen Trotts in den Familien der Wohlhabenden und kleinkarierten Hofbeamten !
Da wird zu Weihnachten eine Stelle frei, für die ich Sie wärmstens beim Minister empfehlen möchte – vorausgesetzt sie machen mir keine Schande und eine Schande wäre schon nach reiflicher Überlegung eine Ablehnung. Im Übrigen – der Minister erwartet von mir derartige Gefälligkeiten. Vergeben sie mir die Offenheit. Aber so ist das Leben, so ist das Leben im Oberkonsistorium; solche Sachen werden ja nicht lange hin und hergeschoben, solche Sachen werden in kürzester Zeit entschieden! Sie, Josias Löffler, gelahrter Absolvent bei Semler und Nösselt in Halle, stehen bei mir ganz oben auf der Liste.“ Er nimmt Löffler vertraulich am Arm: „ Lassen sie uns in einer Woche am selben Ort wieder darüber sprechen, da kann ich Ihnen mehr sagen. Vorher verlangt es die Geheimniskrämerei in diesem Konsistorium, dass ich Ihnen nichts genaues sagen möchte. Aber es ist in Berlin, es ist eine schöne interessante Tätigkeit als Prediger, nicht an einer Schule und nicht privat, sondern öffentlich und sehr nah am Hofe – das kann ich hier und heute schon sagen. Mehr noch nicht – schlagen Sie in den nächsten Tagen mal bei Christian Wolff nach, Sie wissen schon – Vollkommenheit und ähnliche Sujets!“
Als sie sich getrennt hatten, ist Josias Löffler hin und her gerissen. Das war nicht sein Lebensplan, die trockene Theologie, das Predigen in den Kirchen, die Seelsorge. Lehrer wollte er werden, Kinder und Jugendliche erziehen, ihnen Bildung für das ganze Leben vermitteln. Aber er wusste, wenn er Spaldings Angebot ausschlug, war seines Bleibens in Berlin nicht mehr sicher. Ohne feste Stellung, ohne Zuspruch und Föderung durch Spalding und seinen Kreis landete er in der Mittelmäßigkeit – und er könnte vor allem – was er ihm für die Laufbahn noch fehlte – nicht publizieren. Er hat gerade ein neues französisches Buch auf seinem Tisch über die Kritik an der Orthodoxie, über das Verhältnis der Kirchenväter zur griechischen Philosophie, zu Platon, das reizte ihn ungeheuer. Vielleicht findet er einen Verleger, Berlin hat unendliche Mengen an Verlagen. Über seine Freunde könnte er vielleicht an den bekannten Friedrich Nicolai herankommen.
Ihm sind die Worte Nösselts und der anderen der väterlichen Freunde in Halle im Ohr und leuchtend vor Augen: Spalding ist unsere Speerspitze in Berlin und unser Schirm! Seine Stellung verdankt er seinem Fleiß, seiner Weltsicht und seinem literarischen Vermögen! Wenn du etwas erreichen willst, übe dich unter seiner Anleitung im Ausdruck, schriftlich wie mündlich, beeindrucke die gelehrte Welt schon in deiner Jugend durch Veröffentlichungen, über die man spricht so wie es Spalding durch seine „Bestimmung des Menschen“ schaffte.
Ihm wurde während der Studienjahre ebenfalls schon früh klar, wie dicht und fest die Verbindungen der führenden theologischen Vordenker der Aufklärung, der so genannten Neologen, in Berlin, Halle, Magdeburg geknüpft sind. Obwohl er nicht hinter alle Kulissen schauen konnte, erkannte er, dass sie nicht als einsame Gründerfiguren, Universitätsprofessoren oder Schulhäupter auftraten, sondern als Persönlichkeiten einer immer mehr um sich greifenden Bewegung, die die Stärkung individueller religiöser Mündigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte – unter dem Schutz mächtiger Fürsten, ab 1740 sogar unter dem Schutzschirm des preußischen Königs Friedrich II. Alle Erwägungen überzeugen jetzt den jungen Josias Löffler, dass er sich durch Zögern oder gar Ablehnung des Angebots der führenden preußischen Kirchenoberen seine Zukunft verbauen würde. Er lässt sich die Einzelheiten des Angebots erklären und erklärt offiziell seine Bereitschaft, mit sofortiger Wirkung in den Dienst des Oberkonsistoriums in Berlin treten. Im Stillen glaubt er nur an eine zeitlich begrenzte Tätigkeit, die ihn in die Nähe des Hofes bringt. Er könne weiterhin seine privaten Unterrichtsstunden bei den Reichen und Mächtigen ableisten, er könne privat historischen Studien betreiben und größere Veröffentlichungen vorbereiten.
Zu Hause angekommen in seiner kleinen Dachstube machte er sich sofort an die Übersetzungsarbeit dieses Franzosen und es ging ihm zügig von der Hand.
Morgen würde er versuchen an Nicolai heranzukommen, der hatte ihn schon mal angesprochen wegen einer Arbeit von Moses Mendelssohn, für die er einen Bearbeiter suchte. Vielleicht reizt den Nicolai diese Übersetzung. Und den Wolff und nebenbei den Leibniz hatte er nicht vernachlässigt – da war Einiges, das er seit den ersten Hallischen Tagen mit sich unerledigt herumschleppte.
Publikation Löfflers bei Frommann in Züllichau (Neumark)
Die Woche verging im Fluge. Auch das Wetter spielte mit, die Linden verloren im Abendwind ihre Blätter, gelb und braun mit leichtem rötlichen Schimmer wirbelten sie um ihre Füße.
Ohne gefragt zu werden entwickelt Josias Löffler beim nächsten Spaziergang Spalding gegenüber seine Bedenken; er glaubt das sei die beste Taktik. Er weiß, dass Spalding keine Jasager und Duckmäuser liebt; Spalding liebt Leute mit Verstand und mit eigenem Kopf und wenn ein junger Mann ihm auf ein so glänzendes Angebot mit Bedenken kam, dann reizt ihn das auch zum Widerstand. Der Herr Oberkonsistorialrat sollte erkennen, dass der Widerstand Löfflers nicht gespielt ist und er müsse schon das gesamte Repertoire der erfolgversprechenden Überzeugungsinstrumente auspacken: die Hoffnung auf eine glänzende Zukunft, eine interessante Tätigkeit und auf viele Kontakte und Bekanntschaften vielleicht auch Reisen, vielleicht auch eine Professur an der Universität – vielleicht Halle, vielleicht Frankfurt – denn was ist ein Universitätsprofessor anders als die höchste Form des Lehrens, des Bildens, des Unterrichts.
Mitten in meine kunstvoll gestrickten Darlegungen platzt ein fremdes Geräusch – Edda war zusammengezuckt und rot geworden, ihr Täschlein war vom Tisch gefallen, Zeichen der Langeweile oder Müdigkeit? Also Pause, keine Überforderung !
Dr. Dieter Weigert 25. Juli 2023
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Folge 4: An des buckligen Königs Universität und unterm Dach der Halloren
König Friedrich I., Gemälde von Samuel Gericke 1701
Der Kurprinz Friedrich:
„War er wirklich bucklig, der erste preußische König?“ Edda hat vor sich einen miserablen Schwarz-Weiß-Druck des bekannten Gemäldes von Hofmaler Samuel Theodor Gericke aus den Jahren unmittelbar nach der Krönung in Königsberg. „Lies‘ doch mal bei Vehse nach!“ – Ich hätte mir auf die Zunge beißen mögen, wie konnte ich der lieben Edda aus dem Vorzimmer des Landrates so unverblümt ihre historischen Bildungslücken vorhalten. Ich nahm den Ersten Band des alten Kumpels Eduard Vehse aus dem Regal hinter mir, schlug die Seite über die Nachkommen des Großen Kurfürsten auf und bat Edda, die entsprechenden Zeilen laut zu lesen: „Kurfürst Friedrich III., der spätere König Friedrich I., war 1757 zu Königsberg geboren. Er war von Person schwächlich, und man glaubte nicht, daß er ein hohes Alter erreichen werde; auch litt er sein ganzes Leben lang an Engbrüstigkeit. Seine Amme hatte ihn als Kind rücklings vom Arme fallen lassen, davon war er verwachsen; er trug, um seinen krummen Rücken zu verbergen, eine sehr große Perücke.“ Edda betrachtet die Kopie – schüttelt den Kopf. Ich greife nochmals hinter mich, bekomme den richtigen Band aus der meiner privaten Reihe „Berlin-Archiv“ zu fassen und legen einen guten Farbdruck des Gericke-Gemäldes auf den Tisch – der König auf dem Thron im Jahr 1701 ! Und da ist auch das andere Gemälde – von eben diesem Gericke, das den Friedrich, den Buckligen, als Kurprinzen zeigt, also vor 1688. „Nun kann ich den schiefen Rücken fast fühlen, welch‘ ein chickes brünettes Gelöck und wie der weiße Pelz die Schultern gerade zieht!“, Edda hatte ein mitleidiges Gesicht. „Aber was ist mit der Hallenser Universität? Deshalb fesselt der krumme Friedrich uns noch!“ – Ich blättere einige Seiten weiter bei Vehse: „Darf ich es diesmal selbst, in jener poetischen Sprache des leidenschaftlichen Historikers vorlesen? – Edda nickt – „Mit vier Schöpfungen hat Friedrich, wenn auch gleichsam nur instinktiv vorbildend, die nachfolgende Größe des preußischen Hauses gegründet … die Königswürde, die Akademie der Wissenschaften, die Universität Halle und der prächtige Schloßbau zu Berlin.“ – „Du erkennst liebe Edda, fünfzig Prozent der Leistungen – nach Vehse – haben die Prüfungen der 300 Jahre Geschichte bestanden und strahlen noch heute an unserem Himmel.“ – „Mehr Worte hat er nicht, dein Idol Vehse, zur Hallenser Universität, die doch unseren Josias Löffler so prächtig geprägt hat?“
Am nächsten Morgen das kaum versteckte triumphale Lächeln Eddas – „es gab doch einmal in der fast unendlichen Geschichte der Fürsten unserer nördlichen Breiten einen Fast-König mit dem Beinamen „der Bucklige“, einen außerehelichen Sohn Karls des Großen mit Namen Pippin, der aber schon vor der möglichen Krönung als fränkischer König verstorben war! Pépin le Bossu nannten ihn die französischen Karolinger.“ Neidlos küsste ich Edda auf die kluge Stirn, ihr kühler Blick zwang uns aber zur nüchternen Arbeit …
Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgangen sein – aus der Reise an die Oder ist leider noch nichts geworden. Halle an der Saale hat den Vorzug.
Aber Frankfurt brennt in mir. Die Beschäftigung mit den Pastoren an der Marienkirche und dem Schicksal des Nonnenwinkels lässt mich nicht los. Seit mehr als zwei Jahrhunderten verbindet nun der mystische Nonnenwinkel am westlichen Ufer der Oder, sein steinernes Zentrum, die Marienkirche, die Namen dreier lutherischer Pastoren Frankfurts mit dem Schicksal des Dichters Heinrich von Kleist – Josias Löffler, Christoph Plothe und Carl Samuel Protzen.
Kleist und Löffler wirken über die Grenzen der Oderregion hinaus – Plothe und Protzen jedoch verlassen ihre angestammte Heimat nicht, so verwundert es mich nicht, dass bis auf eine Ausnahme aus den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts beide Frankfurter Pastoren der Marienkirche in den professoralen biographischen Kleist-Abhandlungen nicht erwähnt werden. Die Ausnahme – der in Potsdam und Brandenburg bekannte Klaus Günzel nennt 1984 in seinem Kleist-Lebensbild (Verlag der Nation, Berlin) Carl Samuel Protzen als Feldprediger, der Kleist in der Frankfurter Garnisonkirche taufte.
Die doppelbändige Gesamtausgabe von dtv aus dem Jahre 2001 „Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe“ verweist im Personenregister auf C. S. Protzen und die damit verbundene Quelle (Teil II, S. 471) – den Brief Kleists an Schwester Ulrike vom 25. Februar 1795: „Und nun noch ein paar Worte: ein Auftrag, mich der gnädigen Tante, der Fr. und Frl. v. Gloger, dem Protzenschen Haus, der Bonne, Martinin, Gustchen, mit deren Brief ich für diesmal nicht ganz zufrieden bin, und allen meinen Geschwistern zu empfehlen …“ Soweit ich erkennen kann, hat sich bisher keiner der Kleistforscher ernsthaft mit dieser Briefsequenz beschäftigt. Der 17-jährige Kleist läßt die Familie Protzen grüßen – also gab es doch enge persönliche Bezüge zum Pastor, der inzwischen Nachfolger des nach Gotha gewechselten Josias Löffler im Amt des Oberpfarrers an St. Marien geworden ist. Obwohl Protzen nach der Rückkehr aus dem Feldzug 1778/79 den Dienst im königl.-preuß. Infanterie-Regiment Nr.24 quittiert hatte und 1781 das Angebot in Züllichau als Pfarrer der Zivilgemeinde der Kreuzkirche und Inspektor mit der Zusage der Ernennung zum „Wirklichen Neumärkischen Consistorialrath“ angenommen hatte, war anscheinend der persönliche Umgang des Pfarrers mit seinem Taufkind und dessen Familie erhalten geblieben zu sein. Die ist umso wahrscheinlicher, als ein Blick auf die Landkarte und die damalige kulturelle Situation der preußischen Neumark östlich der Oder zeigt, wie eng die Verflechtungen der bedeutenden Städte Frankfurt und Züllichau waren. Züllichau, nahe der Grenze zu Schlesien und Polen gelegen, hatte sich in Erwartung eines Krieges um Schlesien zu einer starken Garnisonstadt entwickelt, war ein intellektuelles Zentrum mit Verlagen, Druckereien, einem berühmten Waisenhaus, Pädagogikum und Gymnasium.
Ich sollte mir den Spieker noch einmal vornehmen – zur Biographie des Pastors Protzen und zu der ausführliche Biographie des Pastors Plothe.
Ich schrecke auf, Edda fragt nach dem Brief Kleists vom Frühjahr 1793 an die Tante, in dem er über seinen Besuch bei Löffler in Gotha berichtet und Kleists Grüße an Protzen 1795 – da gäbe es noch Arbeit für die Forscher! Ich freue mich im Stillen, kann es aber nicht so zeigen – Edda hat nicht nur angebissen, sie steckt schon tief in der chose drin! Sie meint, es seien „Protzen-Bezüge“ zu finden in Kleists Anekdote „Mutwille des Himmels“, die er für die Berliner Abendblätter, 10. Oktober 1810 verfasst habe.
Die Pastoren, fast gleichaltrig, lässt sie wie beiläufig fallen, seien der Aufklärertradition der mittel- und ostdeutschen Theologen und Philosophen an den Universitäten, Akademien und Fürstenhöfen verbunden, was gewiß nicht ohne Wirkung auf den Frankfurter Poeten geblieben sei.
Ich werfe die Decke über das hellauf lodernde Feuer: So fruchtbar und emotional stimulierend die Debatten mit Edda sind, wir müssen diese Themen verschieben !
Denn: Ich spüre es fast schmerzhaft, körperlich und geistig, wie nötig der Anschluss der weiteren Studien der Papiere aus der Hallenser Zeit zum Verständnis der theologischen und philosophischen Entwicklung des jungen Josias geworden ist.
Mein obligatorischer Blick aus dem Fenster: Der Sommer verabschiedet sich allmählich vom Schlosspark und See, die Kinder dürfen nur noch die Füße ins Wasser tauchen, kein Vollbad mehr nehmen. Für die größeren Mädchen und Jungen steht das neue Schuljahr mit interessanten Büchern und manchen neuen Lehrerinnen vor der Tür.
Doch zurück in die Lebensgeschichte unseres Josias, zurück in das 18. Jahrhundert, zu den Halloren. Der junge Löffler, im allgemeinen Geschichts- und Erdkundewissen und mit einer Menge Neugierde für sein Alter überdurchschnittlich ausgerüstet durch Oma Margarete, erweist sich in der Salzstadt Halle als bemerkenswert guter Latein-Schüler.
Der Junge ist sich im Jahre des Herrn 1769 der Tragweite der ihm durch die beiden akademischen Lehrer Semler und Nösselt angetragenen Entscheidung für ein Studium an der preußischen „Fridericiana“ durchaus bewußt – die „Friedrichs-Universität“ Halle an der Saale war eine der beiden „Räthe-Schmieden“ des Königreiches Preußen, gegründet unmittelbar nach dem Anschluss Halles an das Kurfürstentum Brandenburg Ende des 17. Jahrhunderts durch Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, den Namensgeber, der sich im Jahre 1701 mit Billigung des Habsburger Kaisers zum preußischen König krönt.
Aus heutiger Sicht gehörte die Universität Halle zu den bedeutendsten mitteldeutschen Universitäten, hatte herausragende Politiker, Verwaltungsbeamte, Theologen und Künstler hervorgebracht wie den Komponisten Georg Friedrich Händel, die Ärztin Dorothea Christiane Erxleben, die Dichter Clemens Brentano und Freiherr von Eichendorff, den Prediger und „Patriarchen der lutherischen Kirche in Nordamerika“ Henry Melchior Muhlenberg, den Theologen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Pottendorf, den Anatomen Johann Friedrich Meckel den Jüngeren, die preußischen Minister Karl Abraham von Zedlitz und Carl August von Struensee.
Die Theologen und Bildungspolitiker und väterlichen Freunde Semler und Nösselt verstehen es, dem heranwachsenden Schüler und Studenten Löffler aus dem thüringischen, kleinstädtischen Saalfeld verständlich zu machen, dass diese ihre Hochschule im Wirtschaftszentrum und militärischen Standort Halle an der Saale neben den Lehraufträgen und Forschungsthemen ein politisches Schwergewicht im Ringen des Königreiches Preußen um europäische Geltung besitzt.
Sie soll den beiden benachbarten traditionellen sächsischen Institutionen, der kurfürstlichen Universität von Wittenberg im Norden und der bürgerlich-patrizischen Universität Leipzig im Osten den Rang ablaufen!
Junge Leute mit schneller Auffassungsgabe sind gefragt: eine Generation des Aufbruchs, mit klarem Blick für die Herrschaftsstrukturen und ihrem künftigen Platz in der Ordnung des Staates, für die Zusammenhänge von lutherischer Theologie und den Umwälzungen in Gesellschaft, Familie und den Bildungseinrichtungen seit dem Ende des Mittelalters, mit einem neuen, antidogmatischen Geschichtsdenken, mit dem Bedürfnis nach moderner pädagogischer Praxis und der persönlichen Bereitschaft, alles für den König, für dessen Staatsraison, für die erstrebte Größe Preußens zu geben. Ich glaube, dass Josias sich dieser Herausforderung bewusst ist, dass er schon in sehr jungen Jahren die kostbaren Privat-Bibliotheken seiner Lehrer nach Lebensmaximen durchwühlt, sich nach anspruchsvollen Lehraufträgen drängt, nach historischen Persönlichkeiten sucht, an denen er sich reiben kann, bei deren kritischer Auseinandersetzung er geistig wachsen kann. Die jüdischen Propheten, die Kirchenväter, der heilige Bonifacius mitsamt seinen päpstlichen und klerikalen Zeitgenossen, die Fürsten der Franken der vorkarolinischen Periode werden den Studenten, den Theologen und Pädagogen Josias Löffler lebenslang begleiten und herausfordern, in Halle, in Berlin, in Frankfurt an der Oder und am Ende des Weges wieder in Thüringen, in Gotha.
Aber – wie bei so vielen Persönlichkeiten dieser Zeit der großen Umwälzungen anzutreffen – Josias Löfflers Loyalität, seine politische und geistige Leidenschaft ist an eine bestimmte, historisch konkrete Person gebunden, an die des jeweiligen Herrschers, des Fürsten, dem er Treue schwört und dessen Willen er sich unterwirft. Es ist der preußische König Friedrich II., dem er sich seit seiner Studentenzeit bis 1786, dem Todesjahr des großen Strategen von Potsdam, mit Haut und Haar verschreibt. Und es ist der Aufklärer Herzog Ernst im Schloss auf dem Friedenstein von Gotha, dessen Ruf er 1788 bereitwillig folgt und dessen Programm er mitträgt. Neben diesen beiden Herrscherfiguren ist es ein dritter deutscher Fürst, dem er in seiner Frankfurter Zeit persönlich verbunden ist, jener Braunschweiger Prinz Leopold, gleichaltrig mit Josias, der Bruder der Weimarer Herzogin Anna Amalia, zu dessen Vertrauten Lessing gehört, der seine kulturelle und geistig-theologische Bildung und Erziehung in den Kinder- und Jugendjahren durch den bekannten Abt Jerusalem erhielt. Gehe ich fehl – störe ich Edda in ihren Studien – wenn ich den Prinzen und den Theologen, in ihrer charakterlichen Ausprägung und ihren Zielen, zu „Stürmern und Drängern“ erhebe?
Der Prinz, ranghöchster Militär der preußischen Garnison Frankfurt an der Oder ist nicht nur Haus-Nachbar des Generalsuperintendenten Löffler, des obersten Verantwortlichen für das Kirchen- und Bildungswesen der Stadt Frankfurt, den er gern und oft zu seinen geselligen Abenden im Salon des Kommandantenhauses im „Nonnenwinkel“ einlädt. Er ist mit ihm auch eng verbunden im Ringen um die Durchsetzung seines Lieblingsprojektes, einer Regiments-Schule für die Kinder seiner Soldaten.
Edda, die sich durch die wiederholten Störungen zum wilden Gestikulieren heausgefordet fühlt, ruft mich zur Ordnung:
Wäre ich schon wieder von der geraden Linie des Biographischen bei Josias abgewichen ? Warum dränge sich immer wieder das Anliegen der großen Romanciers der Neuzeit in meine streng begrenze Historiographie hinein, in dem ein junger Mann aus der Provinz sich aufmacht, sein Glück in der Metropole zu machen, in Paris, London, St.Petersburg ?
Edda meint, ich verkenne doch die Besonderheit der deutschen geistigen und politischen Situation im Vergleich zu den anderen europäischen Nationen – es gäbe doch keine Metropole! Es gäbe München, Frankfurt am Main, Hamburg, Braunschweig und Hannover, später kommend Berlin und Potsdam – aber es gäbe keinen deutschen kulturellen strahlenden Mittelpunkt, zu dem sich Dichter, Professoren, Musiker hingezogen fühlten! Und kein deutscher Dichter könne sich deshalb diesem Thema widmen, wie ich es in meiner Saalfelder Naivität erträumte!
Der junge Josias Löffler also erhofft sich sein Glück in Halle an der Saale, nicht in Göttingen, München oder Köln. Sein Übergang von der Lateinschule zur Universität verläuft 1768/69 ohne Reibungsverluste, nachdem er den Winter bei der Mutter und den Geschwistern in der Heimatstadt verbracht hatte. Schon am Ende des zweiten Semesters ließ ihn Professor Nösselt in seinem Haus wohnen mit dem Vorzug der Benutzung der privaten Bibliothek und Teilnahme an bedeutenden wissenschaftlichen Konferenzen – wie er auch in den engeren studentischen Mitarbeiterkreis von Professor Semler als Mitglied und später Senior des „theologischen Seminariums“ aufgenommen wurde – Voraussetzungen einer erfolgversprechenden wissenschaftlichen Laufbahn. Damit ist Josias Löffler schon als Student in die Auseinandersetzungen um theoretische und politische Weichenstellungen an den preußischen Universitäten unter der Regentschaft König Friedrichs II. einbezogen.
Was begeisterte Josias an seinen akademischen Vorbildern? Konnte der 18-jährige Student die neuen theoretischen und methodischen Ansätze erkennen, durch die sich Semler und Nösselt aus der Masse der Kollegen an den deutschen Universitäten heraushoben? Vermutlich nicht in allen Einzelheiten der Dogmatik, der Interpretation des Neuen Testaments, der Homiletik, der Auseinandersetzung mit den Schriften der französischen, holländischen und englischen Theologen, aber doch in jener Grundfrage, die man auch in den frühen Schriften Löfflers wiederfindet: wie halten wir es mit der Geschichte? Können wir die christlichen Glaubensgrundsätze der Bibel und der Kirchenväter dem strengen Urteil der Geschichtswissenschaft unterwerfen? In jenen Jahren gehört ohne Zweifel das aufsehenerregende Buch des französischen Theologen Matthieu Souverain „Platonismus devoilé“ in seiner französischen Urfassung zu seiner bevorzugten Lektüre, reift der Gedanke an eine Übersetzung ins Deutsche in ihm, wohl auch der Plan, für diese Übersetzung einen Verleger zu finden. Auf der Suche nach einem Verleger spielt der Züllichauer Pädagoge und Theologe Steinbart schon in jenen Jahren eine entscheidende Rolle. Die Verbindungen Steinbarts zur Universität und zum Waisenhaus von Halle führen zu der engeren Zusammenarbeit schon des jungen Löffler mit dem Züllichauer Verleger Frommann.
Leider habe ich die Quelle jener Bemerkung des jungen Josias nicht mehr zur Verfügung, in der sich unser vielversprechender Theologe über die Liebe der Hallenser Wissenschaftler zu den Ideen der französischen Aufklärung, zu der frischen Luft, die über den Rhein ins verstaubte orthodoxe Deutschland herüberwehte, zu den bewundernswerten Beiträgen der Frauen in Frankreich in den Wogen der neuen Literatur und Philosophie des neuen Europa sich ausbreitet.
Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass Semmler und auch Nösselt von den intellektuellen Fähigkeiten ihres Schützlings schon beim Umzug von Saalfeld nach Halle überzeugt waren, so dass sie ihn sofort in der Lateinschule beziehungsweise dem Pädagogikum anmeldeten. Man kann gewiss davon ausgehen, dass insbesondere Nösselt in dem Jungen ein Ebenbild seiner Person und seiner eigenen Charakterzüge (intellektuelle Neugier, Liebe zur Geschichte, zu antiken und modernen Sprachen, kritische Einstellung zum angebotenen Lehrstoff) erkannte und alles zur Förderung dieses Talents tat.
Auch wenn wir bisher nur wenige schriftliche Belege aus diesen ersten Hallenser Schuljahren von Josias Löffler besitzen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er in engem Kontakt zu diesen beiden Professoren und deren Familien stand:
1762, am Ende des Siebenjährigen Krieges stirbt der Vater. Semler holt den vielversprechenden Jungen nach Halle, um der Mutter die Kosten für die Schule in Saalfeld zu ersparen. Dieses Geld kommt dem ältesten Sohn der Familie zugute, wie es Sitte ist in jenen Jahren. Fünf Wochen später, mit 11 Jahren, 1763, wird Josias in das Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen aufgenommen.
Unter den Papieren finde ich ein Blatt mit Löfflers Handschrift, das in wenigen Zeilen Hinweise auf die Lateinschule und den Übergang zur Universität in Halle enthält. Das Blatt war versehentlich in die Tagebuchnotizen während des Feldzugs von 1778/79 geraten:
… schließlich war ich von dieser Versuchung erlöst – der Professor Semler, dessen Eltern in der Nachbarschaft unseres ehemaligen Hauses am Markt von Saalfeld wohnten, ein guter Freund meines verstorbenen Vaters, war von der Universität Halle heruntergekommen, um mich einer Prüfung zu unterziehen, von deren Ausgang es abhing, ob ich als Freischüler in die berühmte Franckesche Stiftung aufgenommen werden durfte. Professor Semler fand mich gut geeignet, die Lehrer an der Saalfelder Schule hatten mich gut präpariert, mein Griechisch und Latein fand Semler passabel und auch die Anfänge des Hebräischen gefielen ihm ausnehmend gut. Ich bezog zu Michaelis die Hallesche Schule, ich war elf Jahre, war glücklich und bedauerte keineswegs den Verlust des reizenden Mädchenleibes im nunmehr verlassenen Kinderbett. An der Franckeschen Schule herrschte ein strenger Wind, nur Jungs, harte, fast militärische Disziplin – eben Preußen! Ende September, Anfang Oktober war es schon empfindlich kühl in jenem Jahr, der Herbst vertrieb nun mit Macht die süßen Gefühle, die der warme Körper meiner blonden Cousine hinterlassen hatte.“
Hier endet abrupt die Beschreibung des Josias Löffler – er hat den Rest vermutlich verbrannt, zu gewagt der Text für einen lutherischen Feldprediger.
Der Unterricht machte ihm am Beginn zu schaffen, alles war anders als in Saalfeld. Ihm fehlte die Mutter und Oma Margarete, ihm fehlte die Zuneigung der Lehrer in der Schule, ihm fehlten die Thüringer Berge. Den ersten Lehrer, den Hochwürdigen Herrn Doktor Gotthilf August Francke, konnte er nicht ausstehen, der war der Sohn des berühmten Stiftungsgründers August Hermann Franke, und ließ die Schüler die Ehrwürdigkeit und Unnahbarkeit des Vaters in jedem Augenblick spüren.
Es war nicht nur kühl, es war bitterlich kalt in der Halleschen Anstalt! Doch dann erkrankte der ehrwürdige Herr Doktor, mehrere jüngere Aushilfs-Lehrer – noch Studenten der Universität – nahmen sich Josias und seiner Mitschüler an, der trockene historische Stoff lebte in ihren Geschichten auf, das Latein, das Griechische gewann Farbigkeit, die Landkarten des Heiligen Landes ließen ihnen die Burgen der Kreuzritter und der Muselmanen, die Heldengestalten des Richard Löwenherz, des Kaisers Barbarossa und des großen arabischen Sultans Saladin auferstehen.
Die Autorität der jungen Lehrer hatte durch diese angenehme Art und Weise des Unterrichts nicht etwa gelitten – im Gegenteil, die Bewunderung für die Hilfslehrer hatte ihre Wissbegierde gestärkt, die Schüler wurden munterer, neugieriger, konnten kaum den Beginn der Stunden erwarten. Kurz vor Weihnachten genaß der Doktor von seiner Influenza, zu ihrer Verblüffung aber kam er am Morgen mit einem der Hilfslehrer in die Klasse, setzte sich in die letzte Reihe und beobachtete den Unterricht, ohne ein Wort zusagen. Man erholte sich schnell von der Überraschung, der Unterricht verlief wie gewohnt – die Hilfslehrer blieben dann bis Ostern.
Glücklicherweise hat sich ein weiterer Brief Löfflers erhalten, der auch Aufschluss gibt über jene Jahre in Halle – ein Brief, den er aus Gotha an seine noch in Frankfurt geblieben Ehefrau Dorothea im Jahre 1789 schrieb, mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten:
„Wer war es aus den Reihen der Lehrer an der Universität, der auf mich aufmerksam wurde? Ich spürte die besonderen Aufgaben, die mir bei dem Eindringen in die Religionsgeschichte, in das Studium der verzwickten Geheimnisse der hebräischen Sprache gestellt wurden, die mich zwangen, gründlicher als an der Schule die Originaltexte zu lesen, die hebräischen, griechischen und lateinischen Fassungen der Bibeltexte und Briefe miteinander zu vergleichen, die offensichtlichen Widersprüche in den Erklärungen der Kirchenväter zu erkennen. Es war besonders die wissenschaftliche Herausforderung, die in Hebräisch überlieferten Texte ohne die Zwischenstufe des Griechischen ins Deutsche zu übersetzen, die mir Jahre später die Zuversicht gab, mich in Zusammenarbeit mit dem Verleger Friedrich Nicolai an dem Projekt des großen Moses Mendelssohn zu beteiligen, die fünf Bücher Moses in einer neuen Fassung ins Deutsche zu übertragen.
Semler und auch Nösselt waren mir von allen die Vertrautesten, die mich geistig nicht ruhen ließen, die mir alles abverlangten, was ich zu leisten imstande war. Sie glaubten an mich, an meine Berufung. Ich hatte unbegrenzten Zugang zu ihren Häusern, zu ihren Bibliotheken. Ihre Geduld war unerschöpflich, selbst in brenzligen Situationen, die das rauhe, aber auch oft romantische Dorfleben so mit sich bringen, die nächtlichen Spaziergänge, die Tänze auf der Tenne und manchmal auch etwa mehr Bier als der junge Körper vertrug. Semler hatte mich einmal im Diesseits eingefangen wie ich glaubte für die Ewigkeit, hinter den Grenzen aller theologischen oder philosophischen jenseitigen Offenbarungen, mich, der ich einmal sogar die Universität verlassen wollte. Er nahm mich am nächsten Morgen nach dem Seminar beiseite, wanderte mit mir zum Giebichenstein. Sein scharfer Blick hatte meine Seelenlage durchdrungen, die Nöte des jungen Einzelgängers erkannt. Er drohte nicht, er lockte nicht, er erzählte seine ureigenste Version der biblischen Geschichte von Josef, dem Hebräer in Ägypten, so wie ich sie noch nie gelesen, noch nie gehört hatte. Unsere Blicke folgten der ruhig fließenden Saale, den Weiten der Hügelkette, den Feldern und Wäldern am anderen Ufer, ohne Worte nahm mich Semler bei den Händen, führte mich zur Bank unter einer Birke. Während er von Joseph erzählte, kritzelte er mit einem Zweig Zeichen in den Sand zu unseren Füßen, Kreise, Ellipsen, allerlei zufällig sich berührende und wieder auseinanderstrebende gekrümmte Linien. Ich war verwirrt – ich konnte weder aufmerksam auf die Erzählung achten noch gleichermaßen die Spitze des Zweiges im Sand verfolgen. Schließlich gab Semler das Spiel auf – er hatte sein Ziel erreicht, er hatte mich in eine Sackgasse geführt, aus der ich mit eigener Kraft nicht mehr herauskommen würde.
Auf dem Rückweg kamen wir an einer Tischlerwerkstatt vorbei; da Semler den Meister gut kannte, ließ er unserem jungen Freund einen Blick in das geheimnisvolle Innere der beiden Arbeitsräume werfen. In der ersten, größeren Kammer lagerten die Rohhölzer in ihren unterschiedlichen Farben, ihren Gerüchen. Die großen, frisch aus dem Wald geschnittenen Bretter und Bohlen lagerten gestapelt auf Querhölzern, damit sich die Luft dazwischen bewegen kann. Deshalb waren auch die großen Fenster tagsüber geöffnet und deshalb herrschte hier auch eine angenehme Kühle, auch im Sommer. … Im zweiten Saal standen die Arbeitsbänke der Gesellen und Lehrlinge – insgesamt acht Menschen waren beschäftigt. Die Mitte des Raumes nahm der heiße Ofen ein, er diente dem Warmhalten des Leimes, dem Vorwärmen des zum Zusammenkleben vorgesehenen Holzes und natürlich auch der Schaffung einer wohligen Atmosphäre für die Arbeiter in den kalten Wintertagen …
Du fragtest im letzten Brief nach den Halloren, liebste Dörte. Während meiner etlichen Erzählungen über die Hallischen Jugendjahre war es mir nie in den Sinn gekommen, diese Eigentümlichkeit der Hallischen Gegend zu beschreiben – sie war für mich nach dem langen Aufenthalt dort so selbstverständlich wie der Holzhandel für den Oberlauf der Saale, meiner Heimat. In Berlin legen die braven Bürger, die Professoren, die Hofbeamten ihre Einnahmen und ihr Erspartes im Handel mit Tuchen, Porzellan, Büchern, Waffen, Schmuck an, in Halle an der Saale seit Urväter Zeiten in Salz! Die Familien der Professoren, das konnte ich in den Häusern von Semler und Nösselt selbst hautnah täglich spüren, lebten von den Einkünften aus den Salinen, den Salzköthen, an denen sie Beteiligungen hatten. So waren auch sie Entrepreneurs und konnten es sich leisten, manchem Bedürftigen ein Zimmer unter ihrem Dach anzubieten – zu einem geringeren Zinssatz als der nicht mir der Universität verbundene Bürger der Stadt. Du weißt, auch ich als Halbwaise habe davon profitiert.“
Es war Zeit, für den heutigen Nachmittag die Papiere beiseitezulegen. Edda versuchte noch einige Fragen, ich konnte sie nur auf die nächsten Tage vertrösten. Noch in der Tür gab sie mir auf den Weg: Und wie war er denn als Absolvent, hatte er Prüfungsangst? Wie haben sie sich auf die Examen vorbereitet, damals. Und wie schaffte er es, eine der begehrten Stellen in der Residenz Berlin zu ergattern?
Dr. Dieter Weigert 24. Juli 2023 Berlin Prenzlauer Berg
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)