Folge 5: Willkommen in der Residenz

Es ist Anfang November – später Herbst – geworden, wir müssen schon in unserem Dachkämmerchen die Heizung voll aufdrehen. Edda war es gelungen, mir die Zusage abzuringen – trotz starker Brandschutzbedenken –, einige echte Kerzen aufzustellen, so dass eine freundlichere Arbeitsatmosphäre entstanden war.
Aus den unterschiedlichsten Belegstellen der Dokumente des Konvoluts, an den Rand mancher Papiere und Briefe mit fremder Hand gekritzelten Bemerkungen, offiziell angeforderter Anlagen zu Aktenstücken, im Nachhinein geschriebener Erinnerungen aus der Feder von Josias Löffler selbst konnte ich mir in den Wochen in Zusammenarbeit mit Edda ein Bild machen von jener Situation, in die der junge Absolvent der Universität Halle an der Saale hineingeworfen wurde bei seinen ersten Begegnungen mit der königlich-preußischen Residenz Berlin Mitte der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts.

Friedrich II.
Die Hallischen Überväter Semler und Nösselt hatten es geschafft, den ungestümen Saalfelder Jungen für den Ernst des studentischen Lebens hinzubiegen, so dass Josias mit 22 Jahren, zu Johannis 1774, in unserem heutigen Kalenderverständnis im Juni, die Universität beenden konnte. Vorher, zu Ostern, war er auf Anraten Semlers mit einigen Adressen, die er ihm in die Manteltasche gesteckt hatte, nach Berlin gereist. Schon die erste Adresse war ein Erfolg: im Haus von Oberkonsistorialrat Teller gab es nicht nur eine Übernachtung und gutes Frühstück, sondern auch das nicht auszuschlagende Angebot einer Hauslehrerstelle bei einem reichen Kaufmann, beginnend im September.
Die Bekanntschaft mit der preußischen Residenz war für den provinziellen Thüringer in den ersten Wochen ein kulturelles Erdbeben – das Betuliche, Behagliche des Saalfelder Lebens; das Abgehobene, in der Gottesgelahrtheit Schwebende der Universität Halle war über Nacht dem lauten Treiben der ausgedehnten Berliner Magistralen gewichen. Josias brauchte einige Tage, die Weitläufigkeit der Plätze und Märkte der Friedrichstadt zu verdauen, das Gigantische des königlichen Schlosses am Lustgarten nicht mehr als Bedrohung zu empfinden, die junge Lindenallee in Richtung Charlottenburg anzunehmen. Dennoch – es war die Stadt des großen Friedrich, die ihn vom ersten Tage, ja von der ersten Stunde an in den Bann zog!

Schnell hatte Josias das Netzeknüpfen begriffen: Semler kannte Teller, Teller war eng befreundet mit Propst und Oberkonsistorialrat Spalding, Spalding hatte über Minister von Zedlitz und dessen Staatssekretär Biester Zugang zur Majestät, letztlich entschied der König persönlich – die besten Hallenser Absolventen waren begehrt in Berlin, als Privatlehrer, als Prediger, als Juristen, als Ärzte, auch als Feldprediger im Heer.

Josias erkannte, dass insbesondere der Oberkonsistorialrat Johann Joachim Spalding ihn beobachtete. Man traf sich bei den Predigten in den altehrwürdigen Hallen von St. Nikolai und St. Marien, in den Bibliotheken, bei den gutbetuchten Eltern der Privatschüler, die vor allem in den antiken Sprachen und der Kirchengeschichte durch die jungen Hallenser Absolventen eine Erweiterung des Schulstoffes erfuhren.
Noch in Halle hatten seine beiden Mentoren Semler und Nösselt dem Absolventen Löffler wärmstens den Ratschlag ins Reisegepäck gesteckt, sich in Berlin an den Oberkonsistorialräten Wilhelm Abraham Teller und Johann Joachim Spalding zu orientieren, wenn ihm an einem Fortkommen in der Residenz gelegen sei. Josias entnahm den ausführlichen Erzählungen, dass e seine sehr enge, freundschaftliche, ja fast intime Bekanntschaft der Hallischen Professoren mit den führenden Berliner Kirchenleuten bis in die höchsten ministeriellen Kreise gab – bis in die Vorzimmer des Königs.
So hatte ihm in einem vertraulichen Gespräch Nösselt lachend und in aller Ausführlichkeit und Breite erzählt, wie er als junger Student im Jahre 1754 gemeinsam mit dem jetzigen Minister von Zedlitz in einer auf Spezialorder des Königs in höchster Eile kompilierten Vorlesung des bedächtigen und trockenen Philosophieprofessors Meier gesessen habe und sich beim Anhören des offensichtlich nur angelesenen und nicht verarbeiteten Sammelsuriums der erkenntnistheoretischen Ansichten von John Locke verstohlen vertrauliche Blicke der Missbilligung mit Zedlitz ausgetauscht habe. Noch Tage später hätten Zedlitz und er ihr Unbehagen und ihre scharfe Kritik an einer solchen Prozedur privat ausgetauscht und darüber hinaus mannigfaltige Berührungspunkte in ihren weltanschaulichen Positionen gefunden.
Nösselt hatte bewusst darauf verzichtet, seinem Lieblingsstudenten und Privat-Assistenten Löffler moralisierend eine „Lehre fürs Leben“ mitzugeben – den Weg zum jetzigen Minister von Zedlitz in Berlin müsste Löffler schon selbst finden. Lächelnd hatte er aber noch ergänzt, dass insgesamt nur vier Studenten die auf königliche Order zustande gekommene Vorlesung von Meier besucht hatten und Professor Meier dieses Thema niemals wieder berührt habe.

Johann Erich Biester
In den Ostertagen des Jahres 1774 – wir wissen es aus einem nachgelassenen Brief Johann Erich Biesters an seine Lübecker Freundin Luise Haake vom 27. Juli 1776 aus Berlin, der durch einen der nicht seltenen Zufälle in unserem Archiv gelandet war – war es auch zu einem Gespräch Löfflers mit dem frisch promovierten Dr. jur. Biester im Gasthaus Zum Schwarzen Adler in der Berliner Poststraße gekommen, vermittelt durch den Vater eines Löffler anvertrauten Privatschülers. Ich suche den Brief nochmals heraus und bitte Edda, ihn vorzulesen, um mich konzentriert mit nunmehr geschultem Blick für das Berliner „Geflecht“ der jungen Akademiker Löffler und Biester der historischen Situation widmen zu können:
„Luise, mein geliebtes Täubchen, die elende Warterey hat ein Ende!!! Noch ist es nicht offiziell, aber du bist die erste, die vom angehenden Geheimsekretär des Ministers die geheime Nachricht von seiner geheimen Bestallung im geheimen Büro erhält – bitte aber geheim zu betrachten bis auf Weiteres!!! Offiziell wird es Staats Secretair heißen, aber der alte Fuchs von Zedlitz, der mich mit dem geschulten Blick des Kenners persönlich aus der Gruppe der Männer mit großen Ohren, geschlossenen Mäulern und unersättlicher Wissensbegierde erwählte, machte mich zum Anwärter für Höheres, läßt mich aber vorerst nur Probestückchen meines Talents abliefern, die hoffentlich der Majestät zusagen werden.
In Berlin weiß es bisher nur mein alter Freund Josias Löffler, mit dem ich am Ostersonntag 1774 auf einer Bank am Spreeufer gegenüber dem königlichen Schloß Zukunftspläne schmiedete. Er war aus Halle herübergekommen, um sich nach einer Stelle als Privatlehrer umzusehen, war auch glücklich gelandet, so daß wir gemeinsam den Tintenkleksern der Residenz an beiden Ufern der Spree tüchtig einheizen können. Das Schloß fand er übrigens gar nicht so beeindruckend – es sei Gigantomanie, aufgeblasen, wirke kalt und tot. Er, Josias Löffler, habe nach kurzer Wartezeit in den privaten Schulräumen bei Bankiers und Handelsleuten eine königliche Predigerstelle erhalten, ich aber, wie du weißt, hatte weniger Glück, reiste im Mecklenburgischen herum, unterrichtete um des Broterwerbs willen störrische Adelssprosse, antichambrierte wieder in Berlin. Zwei schlimme Jahre, aber doch gefüllt mit Erfahrungen und endlich der Bekanntschaft des lieben Nicolai, dessen Bibliothek und Befreundetsein mit einflußreichen Hofbeamten nun Gottseidank Früchte trägt …“
In der Geschichte versunken, bitte ich Edda um etwas Geduld, bevor wir uns an Biester und Zedlitz heranmachen. Ich würde sie, die inzwischen eng Vertraute meiner Recherchen, gern in jene Gedanken einführen, die mir nach dem Durchblättern anderer Briefe Löfflers an Bekannte in Halle gekommen waren und die doch ein authentisches Bild der „Anfängerjahre“ des jungen Theologen Josias in der königlichen Residenz vermitteln:
An einem noch warmen, trockenen Oktoberabend 1776 bittet der Probst der Berliner Marienkirche Spalding – weißhaarig, mir einem goldbelegten Stock in der Linken, den rechten Arm auf gute schottische Art hinter den Rücken gelegt – den jungen Löffler zu einem Spaziergang in den Tiergarten. Er lässt sich von Josias über die Fortschritte bei dessen Studium der Kirchenväter berichten, zu dem er ihm ernsthaft vor zwei Jahren für die freien Abendstunden nach dem doch nicht allzu anstrengenden Unterricht mit den Privat-Zöglingen geraten hatte, verfällt dabei wie in Gedanken versunken ins Latein, freut sich im Stillen über die glänzende Parade des Zöglings, schlägt sich an die Stirn: „Ach mein Lieber, nun bin ich gar ins Antikische abgerutscht, bitte verzeihen Sie die Altersschwachheit! – Aber da wir nun schon mal vom Pfade abgekommen sind, auf die Wege des Herrn gelangt sind – Was halten sie denn, junger Freund, von einer Predigerstelle in Berlin? Es wird Zeit dafür, ansonsten ersaufen Sie im Sumpf des alltäglichen Trotts in den Familien der Wohlhabenden und kleinkarierten Hofbeamten !
Da wird zu Weihnachten eine Stelle frei, für die ich Sie wärmstens beim Minister empfehlen möchte – vorausgesetzt sie machen mir keine Schande und eine Schande wäre schon nach reiflicher Überlegung eine Ablehnung. Im Übrigen – der Minister erwartet von mir derartige Gefälligkeiten. Vergeben sie mir die Offenheit. Aber so ist das Leben, so ist das Leben im Oberkonsistorium; solche Sachen werden ja nicht lange hin und hergeschoben, solche Sachen werden in kürzester Zeit entschieden! Sie, Josias Löffler, gelahrter Absolvent bei Semler und Nösselt in Halle, stehen bei mir ganz oben auf der Liste.“ Er nimmt Löffler vertraulich am Arm: „ Lassen sie uns in einer Woche am selben Ort wieder darüber sprechen, da kann ich Ihnen mehr sagen. Vorher verlangt es die Geheimniskrämerei in diesem Konsistorium, dass ich Ihnen nichts genaues sagen möchte. Aber es ist in Berlin, es ist eine schöne interessante Tätigkeit als Prediger, nicht an einer Schule und nicht privat, sondern öffentlich und sehr nah am Hofe – das kann ich hier und heute schon sagen. Mehr noch nicht – schlagen Sie in den nächsten Tagen mal bei Christian Wolff nach, Sie wissen schon – Vollkommenheit und ähnliche Sujets!“
Als sie sich getrennt hatten, ist Josias Löffler hin und her gerissen. Das war nicht sein Lebensplan, die trockene Theologie, das Predigen in den Kirchen, die Seelsorge. Lehrer wollte er werden, Kinder und Jugendliche erziehen, ihnen Bildung für das ganze Leben vermitteln. Aber er wusste, wenn er Spaldings Angebot ausschlug, war seines Bleibens in Berlin nicht mehr sicher. Ohne feste Stellung, ohne Zuspruch und Föderung durch Spalding und seinen Kreis landete er in der Mittelmäßigkeit – und er könnte vor allem – was er ihm für die Laufbahn noch fehlte – nicht publizieren. Er hat gerade ein neues französisches Buch auf seinem Tisch über die Kritik an der Orthodoxie, über das Verhältnis der Kirchenväter zur griechischen Philosophie, zu Platon, das reizte ihn ungeheuer. Vielleicht findet er einen Verleger, Berlin hat unendliche Mengen an Verlagen. Über seine Freunde könnte er vielleicht an den bekannten Friedrich Nicolai herankommen.
Ihm sind die Worte Nösselts und der anderen der väterlichen Freunde in Halle im Ohr und leuchtend vor Augen: Spalding ist unsere Speerspitze in Berlin und unser Schirm! Seine Stellung verdankt er seinem Fleiß, seiner Weltsicht und seinem literarischen Vermögen! Wenn du etwas erreichen willst, übe dich unter seiner Anleitung im Ausdruck, schriftlich wie mündlich, beeindrucke die gelehrte Welt schon in deiner Jugend durch Veröffentlichungen, über die man spricht so wie es Spalding durch seine „Bestimmung des Menschen“ schaffte.

Ihm wurde während der Studienjahre ebenfalls schon früh klar, wie dicht und fest die Verbindungen der führenden theologischen Vordenker der Aufklärung, der so genannten Neologen, in Berlin, Halle, Magdeburg geknüpft sind. Obwohl er nicht hinter alle Kulissen schauen konnte, erkannte er, dass sie nicht als einsame Gründerfiguren, Universitätsprofessoren oder Schulhäupter auftraten, sondern als Persönlichkeiten einer immer mehr um sich greifenden Bewegung, die die Stärkung individueller religiöser Mündigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte – unter dem Schutz mächtiger Fürsten, ab 1740 sogar unter dem Schutzschirm des preußischen Königs Friedrich II.
Alle Erwägungen überzeugen jetzt den jungen Josias Löffler, dass er sich durch Zögern oder gar Ablehnung des Angebots der führenden preußischen Kirchenoberen seine Zukunft verbauen würde. Er lässt sich die Einzelheiten des Angebots erklären und erklärt offiziell seine Bereitschaft, mit sofortiger Wirkung in den Dienst des Oberkonsistoriums in Berlin treten. Im Stillen glaubt er nur an eine zeitlich begrenzte Tätigkeit, die ihn in die Nähe des Hofes bringt. Er könne weiterhin seine privaten Unterrichtsstunden bei den Reichen und Mächtigen ableisten, er könne privat historischen Studien betreiben und größere Veröffentlichungen vorbereiten.
Zu Hause angekommen in seiner kleinen Dachstube machte er sich sofort an die Übersetzungsarbeit dieses Franzosen und es ging ihm zügig von der Hand.

Morgen würde er versuchen an Nicolai heranzukommen, der hatte ihn schon mal angesprochen wegen einer Arbeit von Moses Mendelssohn, für die er einen Bearbeiter suchte. Vielleicht reizt den Nicolai diese Übersetzung. Und den Wolff und nebenbei den Leibniz hatte er nicht vernachlässigt – da war Einiges, das er seit den ersten Hallischen Tagen mit sich unerledigt herumschleppte.

Die Woche verging im Fluge. Auch das Wetter spielte mit, die Linden verloren im Abendwind ihre Blätter, gelb und braun mit leichtem rötlichen Schimmer wirbelten sie um ihre Füße.
Ohne gefragt zu werden entwickelt Josias Löffler beim nächsten Spaziergang Spalding gegenüber seine Bedenken; er glaubt das sei die beste Taktik. Er weiß, dass Spalding keine Jasager und Duckmäuser liebt; Spalding liebt Leute mit Verstand und mit eigenem Kopf und wenn ein junger Mann ihm auf ein so glänzendes Angebot mit Bedenken kam, dann reizt ihn das auch zum Widerstand. Der Herr Oberkonsistorialrat sollte erkennen, dass der Widerstand Löfflers nicht gespielt ist und er müsse schon das gesamte Repertoire der erfolgversprechenden Überzeugungsinstrumente auspacken: die Hoffnung auf eine glänzende Zukunft, eine interessante Tätigkeit und auf viele Kontakte und Bekanntschaften vielleicht auch Reisen, vielleicht auch eine Professur an der Universität – vielleicht Halle, vielleicht Frankfurt – denn was ist ein Universitätsprofessor anders als die höchste Form des Lehrens, des Bildens, des Unterrichts.
Mitten in meine kunstvoll gestrickten Darlegungen platzt ein fremdes Geräusch – Edda war zusammengezuckt und rot geworden, ihr Täschlein war vom Tisch gefallen, Zeichen der Langeweile oder Müdigkeit? Also Pause, keine Überforderung !

Dr. Dieter Weigert 25. Juli 2023
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663
LINK zu Folge 2: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33899
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