Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz -oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 20 von Schlotheim

Endlich – ein milder Märzmorgen – der leichte Aufwind vor meinem Fenster wirbelt vom Park zwischen den Schneeflocken ein froststarres, hellgelbes Lindenblatt auf meinen Schreibtisch hoch, die Erinnerung daran, wie lange ich nun schon an Josias Löfflers „Erbe“ sitze. Die immer noch fahle Wintersonne scheint mir zuzurufen: Ab in die Wälder, es ist Zeit für die Suche nach den Schneeglöckchen!

Da schiebt der Wirbelwind ein einsames Blatt aus dem Konvolut auf den Boden unterm Fenster, gerad noch kann ich es greifen, bevor es den Weg zum Schloßteich wählt. Auf den ersten Blick ziemlich fremd für unseren Theologen – gezeichnete Fossilien. Ein Anruf in Gotha beim Kollegen im Staatsarchiv – er konnte sofort helfen – ich möge doch in den Annalen des großen Schlotheim das Jahr 1823 aufschlagen, da seien die Vorarbeiten aus der Frühzeit des Mineralien- und Fossilien-Forschers abgedruckt – und schon könne ich mich glücklich über diese Entdeckung schätzen. Also zwischen 1810 und 1812, noch zu Lebzeiten von Josias, er müsse ja den großen Meister gekannt haben und er habe ihm vermutlich die Vorab-Skizze geschenkt – Beipiel für Gottes Schöpferkraft in Mutter Natur!

Ich entscheide mich für eine Woche Auszeit: eine Reise durch die partnerschaftlichen historischen Archive Thüringens. Sie sollte mich zuerst nach Weimar und Gotha führen. Das Ergebnis war gemischt. Obwohl die Person Löfflers nicht unbekannt war, zählte sein Nachlass nicht zu den gesuchtesten der Forschergemeinden außerhalb Thüringens. Überraschend für mich war, dass die Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt an der Oder und in den kirchlichen Einrichtungen Berlins Josias Löffler wenig Interesse entgegenbrachten. Ja, den Namen kannte man, aber er sei doch nur ein Mann der zweiten Reihe gewesen! Die Beziehung zu Kleist war auch in Frankfurt nur für Wenige des Nachdenkens wert. Selbst mein Hinweis auf die Nachbarschaft der Familie Kleist zu Löfflers „Hauskirche“ St. Marien im Nonnenwinkel schien sie nicht vom Hocker zu reißen – es gäbe nichts Neues zu suchen, alles sei schon geschrieben. Also zurück in den selbst gesetzten Rahmen der im Konvolut überkommenen Papiere und zum Vergleich mit den Schätzen in Weimar und Gotha, den ich Edda in einer ruhigen Stunde vortrage:

Anhand der überkommenen und im Goethe-Schiller-Archiv  aufbewahrten Briefwechsel Löfflers mit Herzog Ernst und der Herzogin kann man ohne Übertreibung sagen, dass zwischen dem Herrscherpaar und ihrem obersten Kirchen- und Schulpolitiker ein echtes Vertrauensverhältnis, wenn nicht gar eine sehr enge Bindung bestand, deren Grundlage gegenseitige Achtung und wohl auch Sympathie füreinander gewesen sein muss.

Mit dem erzwungenen Weggang aus dem königlich-preußischen Frankfurt verliert Josias Löffler seine Professur, damit seinen unmittelbaren Einfluss auf Studenten, aber die Stellung als Generalsuperintendent in Gotha bringt ihm den Gewinn des direkten Kontaktes zum Souverän – ohne Vermittlung eines Ministers und einer ihm nicht immer wohlgesinnten Bürokratie und Zensur. In Frankfurt hinterlässt er Freunde und Vertraute, Plothe berichtet ihm regelmäßig über die neusten politischen, kirchlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen. Er verliert den familiären Kontakt  zu den Kleists im Nachbarhaus, er gewinnt in Gotha neue Freunde – den Literaten  Friedrich Wilhelm Gotter und dessen Ehefrau Luise, seit Kindstagen eine Vertraute der Göttinger Professorentochter Caroline Michaelis, spätere Böhmer, Schlegel, Schelling. 

Zurückgekehrt in meine Dachstube: Da liege nun die Mengen an Papieren, Fotos, Scans – beginnen wir mit den Jahren nach 1806!

Ich zwinge mich zur sachlichen Niederschrift: Das Herzogtum und die Residenz beginnen sich von den Schrecken des Krieges zu erholen, ein geregelter Alltag zieht ein in die Tätigkeit des Generalsuperintendenten, auch die Post hat zu ihrem Vorkriegsrhythmus gefunden. Am Montag nach dem vierten Advent des Jahres 1811 sitzt Josias Löffler am Schreibtisch vor dem Fenster zum verschneiten Schlosshof. Morgen ist Heiligabend, da wird er den Schlitten vom Boden holen, mit den Kindern im Park unterhalb des Friedenstein einen Schneemann bauen und am Nachmittag Lieder singen.

Jetzt aber noch vor ihm der übliche Stapel Briefe, sorgsam sortiert durch den emsigen Secretarius. Da fällt sein Blick auf zwei abseits liegende Schreiben, die Siegel noch nicht erbrochen – der Sekretarius hatte respektvoll den Schriftzug „Persönlich“ beachtet; die Briefe waren auch nicht mit der regulären Post gekommen, sondern ein Freund hatte sie aus Berlin privat befördert – die beamteten Schnüffler der Post mussten ja nicht alles erfahren, was man sich so unter Freunden austauschte.

In den versiegelten Umschlägen lagen jeweils ebenfalls versiegelte Schreiben – beide aus Frankfurt, einer vom Professor Wünsch und der andere vom Pfarrer Carl Samuel Protzen, seinem Nachfolger im Amt an der Marienkirche.

Carl Protzens Umschlag, etwas umfänglicher als der des Kollegen Wünsch,  trug auf der Rückseite das Datum vom 7. Dezember, dessen Siegel brach er zuerst. Die Nachricht – schon im ersten Satz schonungslos mitgeteilt – traf ihn hart: Plothe war gestorben. Josias Löffler zwang sich zum Weiterlesen: Johann Christoph Plothe, derjenige unter den Kirchenmännern in Frankfurt, dem er am meisten vertraute und dessen politische Einschätzungen er in den monatlichen Briefen seit dem Weggang aus Frankfurt vor über zwanzig Jahren sehr schätzte, war lange krank gewesen. Den „treuen und rechtschaffenen Plothe“ hatten ihn die Frankfurter genannt, ein Märker aus Lagow auf der Ostseite des Oderlandes, der Neumark, ausgebildet an der Viadrina, verströmte auch im reifen Alter noch die Gefühle der heimischen Wälder und Seen, man meinte in seiner Gegenwart das Rauschen der Blätter von Birken, Pappeln und Linden zu hören, das Tschirpen der Spatzen auf der Dorfstraße, das Quaken der Frösche an den Bächen.

Plothe war vier Jahre jünger als Löffler, in ihren Gesprächen spürten beide diese Differenz kaum, von Anfang an waren sie offen im Umgang – wie leibliche Brüder, Löffler ließ den Jüngeren das Untergebenenverhältnis nicht anmerken. Sie waren einander so ähnlich, auch in ihrer Neigung zum Lehrerberuf. Plothe hatte den Vorteil, dass er die praktische Arbeit in der Schule kannte – er war schon mit 21 Jahren Subrektor an der Oberschule, hatte neben der Lehrtätigkeit wegen der zusätzlichen Thaler Privatunterricht gegeben, bei dieser Gelegenheit hatten sie sich schon getroffen als beide das Berliner Brüderpaar Humboldt in den antiken Sprachen Griechisch und Latein unterrichteten.

Josias hatte Mühe, sich in die Gegenwart zurückzuholen. Gedankenlos kramte er in den von Pfarrer Protzen beigelegten Papieren – Briefe, Briefentwürfe, Namenslisten, Notizen über Gespräche in Frankfurt und Züllichau. Der gute Protzen hatte vermutlich beim Ausräumen von Plothes Arbeitszimmer den Inhalt einer Schreibtischschublade unsortiert eingepackt, da obenauf ein an ihn, Josias, gerichtetes Schreiben von Plothe auf blauem Papier lag, die Tinte begann schon zu verblassen. Das Wort Teufelsfratzen schon auf der ersten Seite ließ ihn stutzig werden – das war kein Alltagskram, warum sollte Plothe ihn auch mit Nichtigkeiten behelligen? Josias sucht nach einem Datum, da war es, zierlich unten rechts plazirt – Frankfurth, Samstag, d. 23. November 1799  – warum hatte Plothe den Brief nicht abgeschickt?

Aber sehen wir uns den Text an, vielleicht erledigen sich ein einige Fragen beim Lesen von selbst:

Mein lieber ferner Freund, verehrter herzoglicher Generalsuperintendent! Außer der Reihe und auch per nichtöffentlicher Sendung durch einen Vertrauten schreibe ich mir etwas von der Seele, was ein Erdbeben in mir ausgelöst hat – die Teufelsfratzen erschienen mir mehrfach im Traum! Erinnern Sie sich an jenen Brief aus dem Jahre 93, als Sie mir den Besuch des Soldaten-Knaben von Kleist in Gotha beschrieben? Aus dem Knaben ist nun ein Mann geworden, reife Gesichtszüge, körperlich gerundet, kaum aber an Höhe gewonnen. Er hat nun den Armeedienst als Gardeleutnant quittiert und ist – Student an der VIADRINA !!!! Retour in die Heimat, in das Haus im Nonnenwinkel !!!

Da ich nur sehr wenig mit der Universität in contact bin und auch kaum Gelegenheit und Not hatte, das Kleistsche Haus nebenan zu besuchen, war mir die Rückkehr des Nachbarsohnes entgangen. Doch er selbst fand zu mir, kam eines Morgens in unsre Oberkirche. Ich sah ihn versunken in Gedanken vor dem Altarbild sitzend – in unscheinbarer Civilkleidung, ein Heft in der Linken, den Stift in der Rechten. Ihn nur aus den Augenwinkeln wahrnehmend, wollte ich unerkannt vorübergehen, da sprach er mich an und bat um Hilfe beim Verständnis der dargestellten Personen. Nun erkannten wir einander wieder – es waren ja sechs Jahre vergangen seit der letzten Begegnung, seit jenem denkwürdigen Gespräch über die Teufelsfratzen in den Chorfenstern. Heute aber war sein Interesse auf die beiden Heiligenfiguren neben der Gottesmutter im zentralen Altarbild gerichtet – links der Märtyrer Adalbert, den die Heiden in Preußen vor 700 Jahren erschlagen hatten und rechts Hedwig mit dem Modell einer Kirche auf dem linken Arm.

Während er die Namen in ein Heft notierte, beschrieb mir der nunmehr erwachsene Kleist in kurzen Worten die Stationen seines Lebens der letzten Jahre und auch den Grund seiner Rückkehr in die Vaterstadt – die Aufnahme eines Studiums an der Viadrina.
Er nahm mich schließlich am Ärmel und zog mich zu den wohlbekannten Chorfenstern – da würde ich ihn wohl besser verstehn!

Er zeigte mir im rechten Fenster eine Szene, die er „brennendes Fleisch“ nannte – Flammen schlagen aus dem weit aufgerissenen Rachen eines Ungeheuers, in den nackte Menschen an einer grünen Kette hineingezerrt werden durch teuflische Gestalten. Die Menschen versuchen sich zu schützen, indem sie die Hände vor ihr entsetztes Gesicht heben.

Er habe das gesehen im Krieg! In einem Dorf in der Nähe von Mainz, Bäuerinnen waren zwischen die Artilleriefeuer geraten und in einer Scheune schreiend verbrannt, den Geruch brennenden Menschenfleisches werde er wohl niemals los werden. Vor Erregung stotternd wies er mit der Hand auf eine Szene im gleichen Fenster, in der zwei freundlich erscheinende Männer dargestellt sind, die einen Jüngling  mit einer dicken Stange mitleidlos in ein loderndes Feuer stoßen.

Mich zum nun mittleren Fenster ziehend, erklärte er unter Thränen, hier fände ich den endgültigen Beweggrund dafür, weshalb der dem König weiterhin den Dienst im bunten Offiziersrock verweigere: Mitten im tiefsten Frieden habe er als Gardeleutnant seinen Leuten die erbarmungslose Verprügelung von zwei Grenadieren befehligen müssen, denen bei der Alarmierung auf dem Kasernenhof ein Knopf an der Uniform gefehlt habe!

Hier nun sehe er in zwei religiösen Geißelungsszenen, dabei zeigte er nach oben auf die drastisch dargestellte Auspeitschung des Heilands und des Jeremias, die Unmenschlichkeit des preußischen Militärwesens. Die seelischen Schmerzen könne er nicht mehr aushalten!

Verehrtester Freund, Sie können ermeßen, wie aufgewühlt ich nach dieser Confeßion unseres Studiosus war. Er hatte mir mein seelisches Gleichgewicht gestört, dass ich brauche in Ansehen all des Elends in unseren Straßen,  des Leids der Frauen und Mädchen unter der Schwere der familiären Lasten, der drückenden Armut in den Dörfern, des jämmerlichen Zustands unsere Schulen. Seither verbringe ich jede freie Minute vor den Fenstern, dringe ein in die Gefühlswelt jener Künstler des Mittelalters, die den Schrecken ihrer Zeit, den Kriegen, der Pest, dem Ausgeliefertsein der Willkür der Herrschaften, nur Beten entgegensetzen konnten. Selbst das Beten, das keine Grundlage in den Texten der Bibel fand, da die Massen nicht lesen konnten, brachte keine Erlösung.

Gestern nun fand ich eine Szene im rechten Fenster, die über das hinausging, was den Studiosus so sehr ergriffen hatte: ein Mann, der kopfüber an den Beinen aufgehängt ist, wird von einem Jüngling, der durch ein freundliches Gesicht, fast kindlich noch, characterisirt ist, mit einem Rutenbündel gnadenlos ausgepeitscht.

Hinter dem peitschenden Jüngling steht eine Person, die ihm Befehle gibt, von einer zweiten Figur hinter ihm sind nur die Teufelshörner, die Kuhgehörn ähneln, zu sehen. Es war die biblische Umsetzung der täglichen Erfahrung des preußischen Leutnants – hunderte Jahre zuvor durch einen Künstler in unserer Kirche gestaltet!!! Ein nochmaliger Blick zeigt ein weiteres biblisches Thema – der Befehlsgeber mache sich nicht die Hände schmutzig, er schaut gelassen auf die brutale Szene, so wie es der preußische König von seinen Offiziers verlangt!

Als der Studiosus zum nächsten Gespräch kam, hatte ich nicht die Kraft, ihm diese Szene zu zeigen, sondern orientierte ihn auf ein mehr „friedliches“ Geschehen – die Macht des Goldes. Im rechten Fenster gibt es dazu drei Bildnisse, in denen besonders deutlich auch Teufelsfratzen gestaltet sind: die teuflische, dämonische Macht der Verführung der Menschen durch das Gold.

Er meinte dazu trocken, daß ihm diese Illustrationen helfen würden, die finanz-ökonomischen Lehrsätze des Professors Wünsch zu verstehen.

Lieber treuer Freund, bester verehrter herzoglicher Generalsuperintendent! Unser Herrgott beschert uns doch manchmal mehr Überraschungen als wir menschliche Wesen verkraften können – meinen wir. So geschehen gestern morgen gegen 9 Uhr, gerade hatte ich im Amtszimmer die Diakons-Angelegenheiten auf dem Tisch ausgebreitet, da stürzt polternd ohne zu klopfen unser Herr Studiosus herein, zerzaust, wilden Blickes, nahm mich am Arm und führte mich Zaudernden kraftvoll in das Kirchenschiff, vorbei am bronzenen Leuchter hin zum Hochaltar. Ich konnte ihn kraftvoll davon abhalten, auf das Podest zu steigen und mit Fingern auf jenen Bildausschnitt zu zeigen, der die heilige Hedwig – barfuß – mit den blau-weißen halbhohen Schuhen in der rechten Hand dargestellt war. Er meinte, ich solle mir das Bild gut einprägen, denn er würde in einigen Minuten ein Ratespiel mit mir veranstalten. Dann zog er mich zu den uns inzwischen wohlvertrauten gläsernen biblischen Szenen und wies im linken Fenster auf die Wiedergabe eines sehr weltlichen Themas hin – drei junge Männer bei der Feldarbeit, mit eisernen Hacken, angebracht an langen Holzstielen, bearbeiten sie den steinigen Boden!

Soweit er die alttestamentarische Erzählungswelt kenne, meinte unser Studiosus, müsse es sich um die Söhne von Noah handeln, denn in den benachbarten Szenen sei die Trunkenheit Noahs wie auch In den vorangegangenen Bildern der Bau der Arche und die Rettung von Mensch und Getier vor den Wellen der Sintflut dargestellt.

Was ich davon halte? Das sei nun das Rätsel für mich. Und was ich davon halte, wenn man diese drei jungen Bauern im Zusammenhang mit der barfüßigen Heiligen vom Altarbild betrachte. Das sei das Ratespiel, das er mit mir vorhabe. Er lachte hämisch und ich war verwirrt. Was soll ich darauf antworten? Ich hatte mich mit diesem Bilde und auch mit der Heiligen Hedwig nun nicht so im Detail beschäftigt, dass ich sofort eine Antwort darauf hatte. Unser Studiosus war richtig erfreut und stolz, dass er mich bei einer Unkenntnis ertappt hatte. Und begann eine, wie er meinte, sehr wissenschaftliche Erklärung., die er bei der nächsten Disputation dem Professor Wünsch präsentieren wolle. Ich nickte zum Zeichen des Einverständnisses und lauschte aufmerksam. Wir seien nun also nach den Kriegszeiten zurück in eine friedliche Welt gekommen. Da brauche man keine Schuhe – wie Hedwig demonstriere – und da müsse man sich durch harte Arbeit sein täglich Brot verdienen. Die Gesichter der drei Noah-Söhne zeigten keine Unzufriedenheit, sie haben sich mit Gott versöhnt, die Arbeit schein für sie sogar eine Art Befreiung, eine Art menschlicher Schöpfungsakt zu sein. Hedwig zeige aber auch noch eine andere Tugend, die der leidenschaftlichen Liebe! Ob ich das auch an der Figur erkenne? Erkennen Sie die Verzückung, die Leidenschaft in den Gesichtszügen, das Stürmische im Faltenwurf des blauen und goldenen Gewandes?

Die Sinnlichkeit selbst im nackten Fuß, der erregt unter dem Saum des Kleides sich nach draußen wagt? Kräftig zog er mich am Rock zum linken Chorfenster, streckte wie ein Ertrinkender beide Arme nach oben zum nackten Bauch der Eva in der Verlobungsszene, unterdrückte mit Mühe einen Schrei der Verzückung – lieber Plothe, verehrungswürdiger Lehrer, fühlen Sie nicht die Leidenschaft, die uns Männer hin zu diesem Angebot der Hingabe zieht? Ist es nicht der Quell alles Lebens, der Drang zur innigen körperlichen Vereinigung, den Bauch und Schenkel der Eva uns darbieten? –

Im Innersten erschreckt wage ich einen Blick in das Gesicht des jungen Studenten: wie von Sinnen gestikuliert er, schreit er die Worte laut in den leeren Kirchgenraum, die Augen geweitet, das Wams geöffnet, die Haut krankhaft gerötet, die Mütze vom Haupt gerissen. Lieber Plothe, fleht er mich an, verstehen Sie, warum der Künstler den Busen der Frau hinter den schützenden Armen versteckt? Die Sinnlichkeit der Brüste soll uns nicht ablenken vom eigentlichen Mittelpunkt des Menschlichen, vom Schoß des Weibes, dem Brunnen, aus dem Alles kommt und zu dem Alles strebt.
Der Studiosus fällt auf die Knie, schlägt mehrmals mit der Stirn auf den Boden, rollt zur Seite, erhebt sich schwankend und stürzt zum Portal. Einige Wochen ließ er sich nicht blicken, dann bat er um ein ausführliches Gespräch, wenn es mein Zeitplan erlaube, um mit einem – wie er meinte – erfahrenen Pädagogen und Theologen seinen „Lebensplan“, den Weg zur Vollkommenheit“ zu beraten. Mit Professor Wünsch habe er es versucht, der sei aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Bevor ich zusage, suche ich eine Schrift heraus, die Sie, bester Freund und Lehrer, mir vor Jahren zugeschickt hatten mit der Bitte um eine Meinungsäußerung und deren Thema die bildliche Vorstellung der Schöpfung und der Geschichte des Falles der ersten Menschen ist. Ich glaube, Sie waren damals dem ehrenwerten Dr. Teller verpflichtet, der an einer längerdauernden Arbeit zu einigen alttestamentarischen Fragen saß und gern auf Ihre Erfahrungen als Pädagoge und Kanzelredner zurückgreifen würde.“
Der Text bricht unvermittelt ab, vermutlich ist ein Blatt verloren gegangen. Da Edda inzwischen an ihren Platz zurückgekehrt ist, führen wir eine Debatte über die Schwierigkeiten, die Jahre nach der Demission des Leutnants von Kleist und seine Versuche des „Heimischwerdens“ als Ziviler an der Viadrina zu verstehen. Kleist ist nun Student, beginnt nach der Sommerreise im Riesengebirge ernsthaft bei Professor Wünsch u.a zu studieren, sucht innere Ruhe auch bei St. Marien, seiner „Heimatkirche“ – dort kam es wahrscheinlich zu mehreren Zusammentreffen mit dem Theologen Plothe.
Plothe hofft auf weitere Gespräche, deshalb sind die Notizen und Briefentwürfe unvollendet, abgebrochen – Kleist jedoch ist verunsichert, geht auf Reisen, bricht das Studium ab, es kommt zu keinen weiteren Treffen.
Edda bemüht sich um eine psychologische Erklärung – Plothe registriere beim Zivilisten, beim Studenten Kleist eine erhöhte Verletzlichkeit, eine tiefe seelische Verwundung durch die Kriegserlebnisse und die emotionalen Qualen des regulären Militärdienstes. Er läßt die dargestellten Qualen in den Szenen der Chorfenster lange auf sich wirken, er saugt sie ein, er wendet sich nicht ab, sondern wendet sich ihnen zu! Sie sprechen darüber – der Diakon und der junge Student. Und zur Überraschung Plothes spricht Kleist vom Erlebnis des Überirdischen auf den Gipfeln der schlesischen Berge. Plothe wußte nichts von den Ausflügen, Kleist berichtete davon.

Edda bringt uns in das heute zurück. Es sei Freitagnachmittag im Amt, wir sollten uns dem wöchentlichen Aufräumen widmen, das ich so gut beherrsche, wie sie aus meinen Jugendbeichten wisse. Nichts sei mir doch so sehr verhasst wie Chaos am Montagmorgen; sie glaube dieser Charakterzug sei mir von den Handwerksgesellen in der Reihe meiner Ahnen in die Gene gepresst und während meiner eigenen dreijährigen Lehrzeit (nicht das Technokraten-Wort-Ungetüm AZUBI !, sondern stolzer, aktiver, sehr neugieriger Lehrling !) in der gediegenen Möbeltischler-Werkstatt von Meister Pfeiffer in Unterwellenborn veredelt worden. Das Werkzeug musste Freitagnachmittag geschärft, auf der Hobelbank durfte kein Span oder gar Sägemehl liegen geblieben sein, die Schürze nicht hingeschmissen, sondern säuberlich am Haken angehängt. Mein Schreibtisch eine Hobelbank – ein schöner schöpferischer Gedanke. Daher mein anerzogener i8nnerer Drang zum Sortieren der Ergebnisse der letzten Tage, um am Montagmorgen mit Freude und frischer Neugierde die Woche beginnen zu können. Wir nehmen uns die verschiedenen Stapel der Papiere vor und gruppieren nach Fertigem, Halbfertigem und noch nicht Angesehenem.

Das letzte Häuflein nehme ich mir vor – es war auf ein Drittel seiner ursprünglichen Höhe abgeschmolzen, ich rücke es gerade, sauber die Blätter an der unteren und linken Kante ausgerichtet. Ein Blatt etwa in der Mitte sperrte sich meinen Bemühungen, kein rechter Winkel! Instinktiv sehe ich nach, denn so mit der chaotischen Montagmorgen-Perspektive konnte ich nicht aus dem Büro gehen. Der Störfaktor erweist sich als ein einzelnes Kunstblatt, es war mir bisher noch nicht aufgefallen.


Ein colorierter Steindruck, die Farben hell und teilweise leuchtend, der Titel unter dem Bild zweisprachig, links Französisch, rechts Deutsch; Künstler- und Druckerhinweise winzig klein, aber mit der Lupe lesbar: A. Adam, Augsburg und v. Schlotheim, Gotha! Ich zucke zusammen – ein jedem Thüringer wohlbekannter Name: SCHLOTHEIM! Nach ihm war das monumentale Museum in Gotha unterhalb des Schlossparks benannt.   Vermutlich war das Blatt in der Museumsdruckerei entstanden – oder auch nicht. Denn in Fachkreisen munkelt man schon eine Ewigkeit, dass es innerhalb der weitverzweigten Schlotheim-Familie noch andere gebildete Männer gegeben haben soll, denen man durchaus derartige Fabrikate zutrauen durfte.

Ich suche nach einem verwertbaren Datum – da springt es schon ins Auge – 1809! Mit dem Text des Titels kann ich nicht viel anfangen, ich lasse die Worte einzeln auf der Zunge zergehen: „Treffen bei Ebersberg d. 3. May 1809. Nachdem die K. K.  französische Armee bis an die Traun vorgedrungen war, setzte sich derselben bei Ebersberg das Corps des Kayserlich Oesterreichischen Generals von Hiller entgegen und vertheidigte diesen wichtigen Posten auf das Tapferste, so dass es dem Kayserlich Königlich französischen General Claparede nur mit der größten Anstrengung gelang sich der Brücke zu bemächtigen. Drey muthvolle Angriffe wurden zurück gewiesen und nur durch die angestrengteste Tapferkeit der Schützen vom Po konnte endlich diese Position von der französischen Armee genommen werden.“

Nun hatte es mich auf dem falschen Fuße erwischt – da war ich nicht zu Hause: Napoleonische Kriege zwischen 1806 und 1813, also zwischen dem unrühmlichen Tod des Prinzen Louis Ferdinand bei Saalfeld und der Völkerschlacht von Leipzig! Dunkel beginnen sich Fetzen des historischen Erinnerns unter der Schädeldecke aneinander zu fügen – im Jahre 1809 gab es da nicht Aspern und Wagram? – jedem Franzosen ein Begriff. Was tun? Anstelle eines ruhigen gemächlichen Wochenendes mit Hund, Kindern und Frau heißt es nun den bis oben hin zu packenden Rucksack mit militärgeschichtlicher Literatur durchzuarbeiten – Orte, Offiziere, Künstler – ich kenne meine spontane Natur: die Neugierde hat mich voll an der Leine.

Zu Hause schlage ich zuerst im Band 1 meines geliebten Konversationslexikon von Meyer aus dem Jahre 1904 unter „Aspern“ nach und werde fündig: eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse vom Sommer 1809 samt „Textkärtchen“, also eine vereinfachte kleine Karte in den Text gesetzt! Tausendfach lebendiger beschrieben als die übliche leidenschaftslose, langweilige Texterei bei WIKIPEDIA. Der Hinweis auf das Dorf Wagram lässt mich im Band 20 unter „Wagram“ suchen – auch hier voller Erfolg, ebenfalls mit „Kärtchen“. Aber die Daten verwirren mich: der Schlacht beim Dorf Aspern wird der 21. Mai 1809, der bei Wagram das Datum 5./6. Juli zugeordnet. Was sagt mein ebenfalls geliebter „Petit Larousse“? Schließlich waren es für den Franzosen Napoleon bedeutende „batailles“! Fehlmeldung unter Aspern, aber Erfolg bei Wagram: „Wagram, bataille de, (6 juillet 1809), victoire de Napoléon sur l’archiduc Charles, en Autriche, au N.E. de Vienne.“ Die Fehlmeldung erklärt sich: Aspern war kein victoire der Franzosen, sondern ein taktischer Sieg der Österreicher. Strategisch war Aspern ein Remis, das Erzherzog Karl aber nicht zu nutzen verstand und deshalb 6 Wochen später mit dem Debakel von Wagram bezahlen musste – und mit 24 000 Toten und Verwundeten. Soweit so klar – aber was hat das mit Ebersberg und dem „Treffen“ vom 3. Mai zu tun? Der Ort ist so winzig, dass er weder bei Meyer noch im Petit Larousse einer Erwähnung wert ist. Aber vielleicht sollte ich unter dem Namen des französischen Generals CLAPAREDE nachsehen, der im Titel des Druckes genannt wird? Weder im Larousse nach bei Meyer die kleinste Notiz. Hatte der Maler oder Drucker sich wichtig machen wollen?

Nach einer sehr unruhigen Nacht kam die Erleuchtung beim Frühstück mit Hund und Familie im Garten – da hatte doch vor Jahren ein Kollege aus Chalons-sur-Marne nach einer wissenschaftlichen Konferenz mir eine Publikation geschickt, die noch ungeöffnet im privaten Bücherschrank im Wohnzimmer stehen musste. Da ist sie schon, leicht angestaubt, aber die Seiten noch bogenweise verklebt, wie es die Franzosen heute noch gern tun: „Les Amis du Patrimoine Napoléonien – Premier & Second Empire – Association culturelle, historique et apolitique, créée en 1993“! Der Divisonsgeneral Michel-Marie Claparede, 1772 – 1842, mit Porträt und Wappen und ausführlichem Lebenslauf, darin detailliert die Darstellung der Ereignisse vom Mai 1809: 

„Dans la matinée du 3 mai 1809, marchant à la tête du corps d’armée du maréchal Oudinot, le général Claparède rencontra l’arrière-garde autrichienne en avant d’Ebersberg, et la fit attaquer par la brigade du général Coehorn, qui aborda hardiment l’ennemi, au moment où celui-ci s’avançait sur le pont qui traverse la Traun pour gagner la rive droite de cette rivière. Le mouvement des Autrichiens étant protégé par une nombreuse artillerie, la brigade Coehorn, qui s’était élancée plusieurs fois avec impétuosité, avait été arrêtée par la violence du feu des batteries ennemies. Le général Claparède s’avança alors avec le reste de sa division, et appuya les bataillons des tirailleurs du Pô et des voltigeurs Corses de la brigade Coehorn, qui continuaient à faire des prodiges de valeur. Bientôt cette masse serrée, s’avançant sur le pont qui était d’une largeur considérable, parvint à culbuter dans la Traun, canons, caissons, chariots et soldats autrichiens. Déjà une partie de la division Claparède était arrivée aux portes d’Ebersberg, lorsque les premières arches du pont, du côté de cette ville, furent coupées par le feu qui s’y était communiqué de quelques maisons incendiées. Par cet événement les troupes de la division se trouvèrent séparées au moment où elles avaient à lutter contre 30000 Autrichiens, que le général Hiller avait formés en bataille sur les hauteurs en arrière de la ville. Cependant la division Claparède, forte seulement d’environ 7000 combattants, soutint un engagement, aussi inégal qu’il fut long, avec une résolution et une intrépidité au-dessus de toute éloge. Une poignée de braves, qui était au-delà du pont, aurait infailliblement succombé, si les communications n’avaient été rétablies par les autres divisions de la Grande Armée, qui accourut au secours de celle du général Claparède. La division Claparède perdit dans cette occasion plus de 300 hommes tués et près de 700 grièvement blessés. La perte des Autrichiens s’éleva à 4500 hommes tués, 6 à 7000 prisonniers, la prise de 4 canons et de 2 drapeaux.


Le 5e bulletin de la Grande Armée, inséré dans le Moniteur du 13 mai 1809, s’exprime en ces termes : « La division Claparède, seule, et n’ayant que 4 pièces de canon, lutta pendant 3 heures contre 30.000 ennemis, et se couvrit de gloire. Cette action d’Ebersberg est un des plus beaux faits d’armes que l’histoire puisse conserver le souvenir. »

Le général Claparède se trouva ensuite aux batailles d’Essling (21 et 22 mai 1809), et de Wagram (6 juillet 1809)

Als Zivilist verstehe ich nun diesen Text in seiner politischen Bedeutung insoweit, dass General Claparedes Männer an der Spitze des Armeekorps Oudinot mit nur 3 Geschützen ihrem Kaiser durch das dreistündige erfolgreiche Gefecht an der Brücke von Ebersberg bei Linz den Weg nach Wien freigekämpft hatte – acht Wochen vor Aspern!

Erleichtert nehme ich unseren Hund an die Leine, wandere mit ihm durch die Gärten und versuche mich in jene Zeit zu versetzen, in der nicht nur die Zahlen der Toten und Verwundeten im Heeresbericht dem Publikum kund getan werden, sondern auch die Zahl der erbeuteten Fahnen!

Der Hund erschrickt über den plötzlichen Tempowechsel meiner Schritte – ich erkenne, dass ich zwei wichtigere Fragen noch beantworten muss: welcher der Herren von Schlotheim hat dieses Bild des Zeichners A. Adam gedruckt und wie kommt dieses Blatt in den Nachlass des Gothaischen Generalsuperintendenten Josias Löffler?

Der Montagmorgen sieht mich beschwingt die steilen Treppen zu meinem Arbeitszimmer unterm Dach hetzen.  Frau Oberthür von der Poststelle am Fuße der großen Freitreppe drückt mir noch einige kleine Pakete in die Hand, vermutlich frisch eingegangene Bücher, dann bin ich oben in meinem Refugium angelangt.

Edda erkennt an meinem Blick und den unwirschen Gesten, daß ich nicht gestört werden möchte.

Ich schiebe die drei vorbereiteten Häuflein Papiere beiseite, nutze nun die gesamte Fläche des Tisches für die Ausbreitung des Materials, das ich mir im Kopf schon zurechtgelegt habe: die Künstlerlexika, die Personalverzeichnisse des Herzogtums Gotha, die veröffentlichten Familiengeschichten der verzweigten Familie von Schlotheim.

Die Logik verlangt, mit den Schlotheims zu beginnen. 

Archivare sind für ihre Macken bekannt – die jahrzehntelange Beschäftigung mit wunderlichen historischen Papieren, mit den verrücktesten Titeln, mit den ausgefallensten Charakteren, kaum lesbaren Schriften und seltsamen Namen müssen selbstverständlich Spuren hinterlassen – daher übernahm zum Beispiel ich die alt-preußische Sitte, also vor 1806, Armee-Regimentern bei Namensgleichheit, entstanden durch brüderliche oder Vater-Sohn-Beziehung des Chefs, das Attribut „Alt“ oder „Jung“ anzukleben und ich verwendete diese Methode  zur privaten Unterscheidung namensgleicher Aktenstücke.

Verständlich also, dass der ältere der Brüder Schlotheim, um die es jetzt geht, zum „Alt-Schlotheim“ avanciert, zum „großen Schlotheim“, der Perle der Geschichte der Wissenschaften im Herzogtum Gotha, deshalb existiert auch ein Porträt von ihm, in den guten Katalogen abgedruckt:

Ich fasse die Ergebnisse des dreitägigen Recherchierens zusammen:  Die Herren von Schlotheim sind urkundlich bis in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts nachweisbar. Ihren Stammsitz hatte die Familie über mehrere Jahrhunderte in Allmenhausen im nordthüringischen Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen.  Dort wurde am 2. April 1764 Ernst Friedrich von Schlotheim, also unser Alt-Schlotheim, geboren. Sein Vater Ernst Ludwig (1736-1797) hatte in Jena Jura studiert und stand seit 1757 als Assessor und seit 1759 als Regierungsrat in den Diensten der Herzoglichen Landesregierung. Vielleicht sollte ich ihn für den Privatgebrauch „Ur-Alt-Schlotheim“ nennen.

Der Jurist und Historiker Johann Georg August Galetti, Absolvent der berühmten Göttinger Universität, auch dieser Name in Gotha nicht unbekannt,  wurde 1772 von der Familie von Schlotheim als Hauslehrer angestellt. Der Vater, Ur-Alt-Schlotheim, legte besonderen Wert auf die Vermittlung von Geschichtskenntnissen, später wurde Galetti Lehrer am Gymnasium Ernestinum in Gotha.

(- Ein sauberer Kupferstich, meint Edda, mir doch neugierig über die Schultern blickend!)
Neben Galettis Bemühungen stand den Kindern auch eine umfangreiche geschichtliche Bibliothek im Hause zur Verfügung. 1776 ernannte der Herzog den Vater zum Amtshauptmann der Herrschaft Tonna (heute  Gräfentonna), wohin die Familie übersiedelte. Die Umgebung des Dorfes bot ein reiches  Betätigungsfeld für naturwissenschaftliche Studien.  Die Travertingruben in der Umgebung von Burgtonna, in denen bereits 1695 die Skelettreste eines pleistozänen Waldelefanten geborgen wurden, dienten dem Schüler als Anregung zur Anlage einer eigenen Fossil- und Mineraliensammlung.

Von 1778 bis 1779 lag die Erziehung des Jungen in den Händen des Geologen und Mineralogen Johann Christian Credner. Ab 1779 begann seine weitere Ausbildung  am Gymnasium Ernestinum. Während seines Gothaer Aufenthaltes vermehrte er eifrig seine Sammlung von Versteinerungen und Mineralen. Nach dem Gymnasialabschluss nahm er 1782 das Jurastudium an der Universität Göttingen auf. Seine Lehrer waren u.a. Professor Meister, Professor Feder, Professor Beckmann und der in Gotha geborene Naturwissenschaftler Professor Johann Friedrich Blumenbach. So entsprach der Student einerseits dem Wunsche des Vaters nach einer juristischen Laufbahn des Sohnes, andererseits nutzte er den Göttinger Aufenthalt zur Vervollständigung seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse. 

Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums kehrte Schlotheim zurück nach Gräfentonna. Hier beschäftigte er sich mit geologischen, paläontologischen und mineralogischen Studien, unternahm zahlreiche Wanderungen in die Umgebung. Bereits mit 23 Jahren verfasste er seinen ersten wissenschaftlichen Beitrag: Er beschreibt darin einen Fund aus dem Gips-Keuper des thüringischen Ortes Niedertopfstädt, den er als organischen Rest deutet. Die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Wanderungen in der Umgebung fasste er in der regional-geologischen Arbeit: „Mineralogische Beschreibung der unteren Herrschaft Tonna“. zusammen, die in Voigts Mineralogischer und Bergmännischer Abhandlung im Jahre 1791 erschien. Zur Vorbereitung seiner Tätigkeit als Bergbeamter am Herzoglichen Hause studierte „Alt-Schlotheim“ 1791/92 an der Bergakademie zu Freiberg, dessen Gebühren der Herzog von Sachsen-Gotha aufbrachte.

Der bedeutendste Professor der Bergakademie Freiberg war seit 1775 der schlesische Bergrat Abraham Gottlob Werner (1749 – 1817), dessen Ruhm zahlreiche Interessenten der  Geologie und des Bergbaus nach Freiberg zog. Zur gleichen Zeit wie Schlotheim studierten in Freiberg auch Alexander von Humboldt, Johann  Carl Freiesleben und Leopold von Buch. Bald entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Werner, Schlotheim, Humboldt, Freiesleben und Buch.  Während des Aufenthaltes in Freiberg wird Schlotheim 1791 zum Assessor, 1792 zum Hofjunker, 1794 zum Kammerrat ernannt und stand seitdem im Dienste des Gothaer Herzogs.
1792 unternahm Schlotheim eine Fußreise in den Harz und besuchte die bedeutenden Bergbau- und Hüttenorte Clausthal und Andreasberg. Auf einer Reise nach München unterrichtete er sich über neue Methoden der Drucktechnik, die er bei der Vervielfältigung der zahlreichen Zeichnungen für seine paläontologischen Werke nutzte.
Den  endgültigen wissenschaftlichen Höhepunkt erreichte er im Jahre 1820 mit  der Herausgabe seiner umfangreichen Monographie: „Die Petrefaktenkunde auf ihrem jetzigen  Standpunkt durch die Beschreibung seiner Sammlung versteinerter und fossiler Überreste des  Thier- und Pflanzenreichs der Vorwelt erläutert“
Durch die erstmalige grundlegende Anwendung der binären  Nomenklatur auf fossile Pflanzenreste erhielt die  Paläobotanik schließlich den Charakter einer Wissenschaft. Zahlreiche pflanzliche und tierische Fossilien wurden erstmals beschrieben. Noch heute führen ihre lateinischen  Namen den Autor Schlotheim als Beweis für  die Gründlichkeit seiner Artbeschreibungen von 1820 bis 1823.

lm Staatsdienst wurde Schlotheim 1817 Kammerpräsident und 1818 Geheimer Rat am Herzoglichen Hause zu Gotha. Am 15. Juli 1822 übertrug  man ihm die Oberaufsicht über die Herzogliche  Kunst- und Naturalienkammer, die Bibliotheken  und das Münzkabinett. Zur gleichen Zeit ist er Direktor der Herzoglichen Bau- und Gartenkunst, Chef der Herzoglichen Oberpostinspektion, des hiesigen Bergwesens und des  Schmelz-und Hüttenwesens von Luisenthal. Den Höhepunkt seiner Laufbahn im Staatsdienst erreicht er Anfang 1828 als Mitglied des  Ministeriums und Oberhofmarschall. Seine letzte wissenschaftliche Publikation erschien 1826. Die wissenschaftlich wertvolle Sammlung wurde auf Anraten Alexander von Humboldts vom Preußischen Staat gekauft und befindet sich noch heute im Museum für Naturkunde Berlin.  

Enttäuscht lehne ich mich am Abend der dreitägigen Recherchen zur Person von Alt-Schlotheim in meinem antiken Schreibtischstuhl zurück: trotz allen Fleißes und allen Schnüffelns – mit kräftiger Unterstützung Eddas – in den entferntesten Winkeln unseres Archivs belegen die Resultate keinen Bezug zu einer Gothaer Steindruck-Anstalt in Verbindung mit Schlotheims Namen.

Um mich abzulenken, öffne ich die Pakete mit den Neuerwerbungen, nichts Aufregendes – aber das letzte Buch, einen Nachdruck der Autobiographie des bekannten Gothaer hohen Beamten und Geologen von Hoff, blättere ich spontan durch, lasse die Blätter mit den Abbildungen vorbeiziehen, da bleiben meine Finger wie magnetisiert am Namen Schlotheim auf Seite 174 hängen: unter dem Datum des 26. Dezember 1806 berichtet von Hoff über einen Besuch in Berlin bei – Schlotheim ! Also gab es doch einen anderen, einen „Jung-Schlotheim“! 

Wörtlich heißt es, nachdem von Hoff in der Gruft der Domkirche die Prunksärge der Hohenzollern bewundert hatte: „Von da ging ich zu Schlotheim, mit dem ich mich viel über seine Beschäftigung mit den polyautographischen Zeichnungen unterhielt …“ Schenkt man von Hoff Glauben, hatte sich „Jung-Schlotheim“ im Herbst und Winter 1806 bei dem bekannten Lithographen Wilhelm Reuter in Berlin aufgehalten und vermutlich in dessen Werkstatt experimentiert. Mehr gibt das Buch nicht her, auch keine Abbildungen, kein Porträt des jungen Schlotheim, also kann ich mich nur dem Stapel der nur noch technisch zu bearbeitenden Publikationen zuwenden.

Am nächsten Morgen gehe ich nochmals die gestrigen Ergebnisse durch, besser gesagt, ich versuche mich dem fehlenden Mosaikstein zu nähern. –  Ich tröste mich: auch Rückschläge muss man verkraften können. Resigniert räumte ich die Familienpapiere der Schlotheims zusammen, da rutschte aus einem der Folianten ein Papier, das mir bisher entgangen war, da es zwischen Bucheinband und Schutzdeckel gelegen hatte.

Es ist der mehrseitige Brief eines gewissen Wilhelm Reuter aus Berlin – „an H. v. S., abzugeben im Büro des Vizepräsidenten v. Schlotheim“. Weshalb diese umständlichen Zeilen, wenn es doch ein Schreiben an den Vizepräsidenten ist? Jetzt plötzlich erkenne ich, dass es sich vermutlich um einen Schlotheim mit Vornamen H. als Adressaten handelt. Also alles zurück – gab es einen H. von S.? Der Briefinhalt gibt für mich auf den ersten Blick keinen Anhaltspunkt – finanzielle Fragen, offene Rechnungen für gelieferte und nichtgelieferte Bücher und andere Druckerzeugnisse. Ich zwinge mich zum gründlichen Durchgehen des vierseitigen Papiers – da ist es, das gesuchte Indiz: H. v. S. wird ein Honorar von einigen Reichstalern angekündigt für das Anfertigen eines Berichts mit gezeichnetem „Plan der Schlacht auf dem Marchfeld“ im Jahre 1809, angefertigt im Februar 1810 ! Reuter bittet um Verständnis, dass er erst im nächsten Jahr die Schuld begleichen kann und führt einige Gründe an. Ein Blick auf die Landkarte verrät – Aspern und Wagram liegen auf dem Marchfeld östlich von Wien !!! Hurra ! Was sagen die Künstlerlexika über Reuter ?

In Berlin lebte und arbeitete ein gewisser Wilhelm Reuter, Kammerherr der Königin Luise, Druckereibesitzer, einer der Erfinder des Steindrucks, der Lithographie. Die wichtigste Meldung der Kunsthistoriker: Die Wiener Albertina besitzt eine Lithographie von ihm mit der Jahreszahl 1794 – also vier Jahre, bevor der bekannte Senefelder die lithographische Technik in München im Jahre 1798 erfunden haben soll. 

Mehrere Berliner Experten des Kupferstichkabinetts, die ich per e-mail befragte, bestätigten meine These, dass Wilhelm Reuter in Berlin wie Senefelder in Süddeutschland den entscheidenden Schritt vom Hochdruck  zum Flachdruck vollzog, wobei es ihm vor allem darauf ankam,  die Technik, deren reiche Möglichkeiten für  die Kunst er als erster erkannt hatte, zu verbessern und allen Künstlern bekanntzumachen. Die Berliner Kollegen machten mir eine Freunde – sie legten einige Kopien von Arbeiten Reuters bei –

Seine Bemühungen waren mit derartig hohen Kosten verbunden, dass er sein  Vermögen aufbrauchte und einen  Kampf um die Existenz seiner Familie, um  das Fortbestehen seiner Druckerei und schließlich um seine Gesundheit führen musste. Er erblindete zeitweilig fast völlig, was nicht zuletzt auf die etwa 60.000 chemischen Versuche zurückgehen mochte, die er angestellt hatte.  Dass sich die Lithographie in Berlin durchsetzte, ist ausschließlich sein Verdienst und dass sie nicht in erster Linie zu industriellen Zwecken verwendet wurde, ist ebenfalls nur seiner aufklärenden Tätigkeit bei Hofe und der Akademie, deren Widerstand zu brechen nicht leicht war, zu  danken.

Nachzureichen sind einige Details seiner künstlerischen und geschäftlichen Laufbahn, um das Verhältnis zum Gothaer H. v. Schlotheim zu verstehen.

Wilhelm Reuter, 1768 geboren, entstammte einer alten angesehenen Hildesheimer Familie, die für seine Bildung sorgte und ihm auch in seiner Heimatstadt Kunstunterricht zukommen ließ. 1790 verließ er seine Vaterstadt in Richtung Berlin, besuchte die Kunstakademie und wurde schon 1796 als Hofmaler der Königin Luise mit einem festen Gehalt angestellt.

1799 vermählte er sich mit einer ihrer Kammerfrauen und reiste im Auftrag der Königin im Jahre 1803 nach Paris, um dort Bilder zu kopieren.

Sie beklagte sich später, dass er diesen Auftrag mangelhaft durchgeführt hätte, weil er sich mehr für die Polyautographie (d. i. Lithographie) und deren Förderung interessierte. Nach Berlin zurückgekehrt, widmete er sich in der Folge mit ganzer Kraft der Verbreitung und Verbesserung der Polyautographie, wie Reuter das Verfahren beharrlich weiter bezeichnete, trotz des sich immer mehr einbürgernden Namens Lithographie, der in München schon seit 1805 festgelegt worden war. Reuter wollte mit der Bezeichnung Polyautographie, die auch in England geläufig war, ausdrücken, dass diese Technik für ihn einzig das wertvolle Mittel war, eigene Zeichnungen unter Beibehaltung ihres Originalcharakters zu vervielfältigen.

Wilhelm Reuter wollte die Lithographie als künstlerische Originaltechnik einführen und warb in diesem Sinne auch unter den zeitgenössischen Berliner Künstlern, denen er das Material übersandte und den Druck für sie übernahm. Er inserierte auch seine inzwischen eingerichtete Druckerei in den Zeitungen und der Widerhall war sehr bald da. Zu den Künstlerpersönlichkeiten, die ihr Interesse bekundeten, zählte auch Johann Gottfried Schadow, der wohl das beste Blatt in der ersten Mappe von Lithographien, die Reuter herausgab, zeichnete. Reuter hatte nämlich, da seine verschiedenen Werbegesuche bei Hofe und der Akademie nicht den von ihm gewünschten Erfolg zeitigten, schon 1804 zum Beweis für die künstlerische Eignung der Lithographie einen Konvolut Künstlerlithographien editiert, den er „Poylautographische Zeichnungen vorzüglicher Berliner Künstler“ nannte und mit einem entsprechenden Begleitschreiben dem König widmete.

Reuters Kreidezeichnungen auf Stein erzielten bisher ungekannte schöne Schwärzen, die den Münchner Blättern noch lange fehlten.  Er erhielt auch endlich vom König als Anerkennung die erbetenen Räumlichkeiten in dem Anspachschen Palais, wo er seine Druckerei unterbringen und eine verlegerische und Drucktätigkeit neben seinem Beruf als Hofmaler und Lehrer ausüben konnte. In diese Periode fällt vermutlich die Kontaktaufnahme zum Gothaer Schlotheim und seinen Experimenten mit den Steinen aus dessen Mineraliensammlung.

Die ungünstigen Zeitverhältnisse, Krieg und Besetzung Berlins wirkten sich sehr hinderlich auf Reuters lithographische Tätigkeit aus. Besonders die Jahre 1808 – 1817 waren arm an datierten Werken.  Hernach setzte wieder ein reiches Oeuvre ein, das teilweise erhebliche Fortschritte und vor allem eine größere Reife zeigt, bis die letzten Jahre abermals Dunkelheit über das weitere Schicksal der Reuterschen Lithographierkunst breiteten. Inzwischen waren aber in Berlin neue lithographische Anstalten entstanden, die mehr Erfolg hatten, weil sie nicht nur künstlerischen  Interessen dienten, sondern auch wirtschaftliche  Aufgaben übernahmen. So 1809 die des Georg Decker, eine Weitere 1816 des Majors L. v.  Reiche, eines Schülers Senefelders, die 1820 in das Königlich lithographische Institut am Kriegsministerium überging.

Im zweiten Weltkrieg sind größere Bestände von deutschen Lithographie-Inkunabeln in den Kunsthandel gekommen und auf diesem Wege ist auch jenes Blatt von 1794 für die Wiener Albertina erworben worden – Reuters ältestes datiertes Steindruckblatt, eine Kopfstudie, im Profil dargestellt, ein erster Versuch eines geschickten Zeichners auf einem ungewohnten Material, dem Künstler jedoch wertvoll genug, das Datum der Entstehung darauf zu vermerken. Reuter pflegte die meisten seiner Drucke zu bezeichnen. Entweder setzte er den vollen Namen hin oder nur ein Monogramm, manchmal schrieb er Ort und Datum, meistens aber die bloße Jahreszahl.

 Ich spüre, ich bin vom Thema abgewichen, ich werde also zu Jung-Schlotheim zurückkehren.

Es steht für mich fest – nach dem detaillierten Studium der Kunsthistoriker Berlins und Wiens des 19. Jahrhunderts – dass die psychologische Quelle des Weges von „Jung-Schlotheim“ zur Kunst und letztlich zur Lithographie in seiner Laufbahn als preußischer Elite-Offizier liegt. Ich bin vor allem dem Zufall dankbar, der mir sozusagen als Zweitlektüre zur Vorbereitung auf die Aufführung von Kleists Käthchen von Heilbronn im Weimarer Nationaltheater Sigismund Rahmers „Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter“ aus dem Jahre 1909 in die Manteltasche gesteckt hatte. Der Kulturhistoriker, Arzt und Kleistforscher Rahmer hatte das Glück, im den preußischen Militärarchiven biographische Unterlagen zu „Jung-Schlotheim“  einsehen zu können, die als Folge der Kriegswirren heute nicht mehr existieren.

Jener Schlotheim ist Jahrgang 1772, heißt Hartmann mit Vornamen und ist der jüngere Bruder des berühmteren  Ernst Friedrich.  S. Rahmer entwickelt die Laufbahn des Offiziers von Schlotheim im engen Zusammenhang mit der des Dichters und Offiziers Heinrich von Kleist – ich werde dieser Idee folgen.

Rahmer bezeichnet Schwarzburg als Stammsitz der Familie, während der Kulturhistoriker Paul Hoffmann (1927/S. 74) als Geburtsort Allmenhausen im Fürstentum Schwarzburg nennt, nur einen einstündigen Fußmarsch entfernt vom Gutsdorf Schlotheim entfernt, das der Familie ihren Namen gab und etwas über 30 km nördlich von Gotha liegt.

Als Kleist 1793 als Fähnrich ins Potsdamer Regiment eintritt, ist Hartmann von Schlotheim schon ein 21jähriger erfahrener Seconde-Leutnant. Sie finden sich sofort sympathisch, haben auch gemeinsame Interessen, zum Beispiel die Musik. Der Biograph des späteren Generals Rühle von Lilienstern schreibt im „Militair-Wochenblatt“ (Beiheft zur Ausgabe Oktober-Dezember 1847) zur musischen Stimmung der freundschaftlich verbundenen jungen Potsdamer Garde-Offiziere : „Über das musikalische Treiben aber hören wir endlich, daß es derselbe (Rühle von Lilienstern – D. W.) mit geringen Naturanlagen durch unermüdlichen Fleiß auf seinem Instrument, dem Fagott, dennoch erreicht, in öffentlichen Konzerten die schwierigsten Solopartien übernehmen zu können und sogar eine Zeitlang dem Gedanken Raum gab, sich ausschließlich der Musik zu widmen. Hierbei ist noch des wichtigen Einflusses zu gedenken, der auf die Geistes- und Charakterentwicklung desselben von bestimmten Persönlichkeiten ausging. In dieser Hinsicht ist von den jüngeren Kameraden, welche ähnliche Bestrebungen und Geistesrichtungen wie Rühle verfolgten und mit demselben durch enge Freundschaftsbande verknüpft waren, besonders Heinrich von Kleist, der dramatische Dichter, früher Leutnant im Garderegiment, und Ernst von Pfuhl, Leutnant im Königsregiment, … zu nennen. Es lässt sich von selbst erwarten, das höhere geistige Bestrebungen diese Vereinigung der Freunde befestigten und veredelten. Wissenschaften, Dichtkunst und Musik waren der Stoff, welcher die Zusammenkünfte dieser jungen Offiziere belebte. Die von allen Mitgliedern periodisch eingereichten Arbeiten und Produktionen wurden hier gehört und verhandelt. Das ausgezeichnete Quartett, welches von Kleist (der Dichter), von Schlotheim (Generalstabsoffizier und nachheriger Gouverneur des Herzogs Carl von Mecklenburg), von Gleisenberg (Leutnant im Regiment Garde , später Gouverneur in der Militärakademie) und Rühle bildeten, ist den Zuhörern noch heute lebendig im Gedächtnis. (S. 159f)

Noch konnte der Seconde-Leutnant von Schlotheim jedoch nicht mit eigenen Kriegserlebnissen aufwarten, denn am Feldzug von 1792 gegen das revolutionäre Frankeich hatte sein Regiment nicht teilgenommen, auch die epochemachende Kanonade von Valmy vom September 1792 und der chaotische Rückzug zum Rhein blieben ihm erspart.

Nach S. Rahmer (S. 21), der noch das Glück hatte, in den Akten der später zerstörten Geheimen Kriegskanzlei des königlich-preußischen Kriegsministeriums zu forschen, vollzog sich die militärische Laufbahn Hartmanns von Schlotheim in folgenden Etappen: Juli 1788 Eintritt in das Infanterie-Regiment No. 18 (Regiment Kronprinz, später Regiment König), das ebenfalls in Potsdam in Garnison lag.  Obwohl Kleist und Schlotheim nicht im gleichen Regiment dienten, hatten sie aber vermutlich als Offiziere in der Stadt Potsdam regelmäßigen engen Kontakt. Schlotheim wurde am 4. Juni 1790 zum Fähnrich und am 9. August 1793, dem Jahr in dem Kleist als Fähnrich in Frankfurt am Main zum Garderegiment stößt, zum Sekondeleutnant befördert. 1801 ist er Gouverneur des Prinzen Carl von Mecklenburg-Strelitz (1785 – 1837, Stiefbruder von Königin Luise, ebenfalls als Garde-Offizier in preußischen Diensten in Potsdam stationiert), 1803 Stabskapitän und 1804 „Wirklicher Kapitän“ und Quartiermeister-Leutnant, also Generalstabsoffizier.

Interpretiert man Sigismund Rahmers knappe Beschreibung, ergibt sich ein farbiges Bild jener Potsdamer Jahre: der aus niedrigen, aber alten thüringischen Adelskreisen stammende Hartmann von Schlotheim gelangt durch einen der beim Militär nicht unüblichen Beförderungs- oder Berufungszufälle in die höchsten Kreise des preußischen Adels. Was Heinrich von Kleist in die Wiege gelegt wurde, die Nähe zum Königshaus der Hohenzollern, wird ihm, dem Nicht-Märker, vermutlich ohne sein aktives Betreiben, 1799 von ganz oben befohlen:  das 16jährige Stief-Brüderchen der Königin zu beschützen, zu lenken, abzuschirmen und nebenbei zu erziehen und zu bilden – eben sein Gouverneur zu sein. Ein archivalischer Glücksfall wäre es, wenn ich in Potsdam, Neustrelitz, Berlin-Dahlem oder sonstwo die königlich preußische Instruktion für den Stabskapitän von Schlotheim ausfindig machen könnte, in der minutiös jene Aufgaben aufgelistet sind, die ihm der königliche Hof bezüglich des Prinzen von Mecklenburg-Strelitz aufgetragen hat. Mit der Position des Gouverneurs hängt selbstverständlich auch die Außer-der-Reihe-Beförderung zum Hauptmann -Stabskapitän zusammen, denn in Gegenwart eines Königin-Bruders ist wohl ein einfacher Leutnant undenkbar. Warum dann wohl der Herr Stabskapitän im Frühjahr 1805 einen Selbstmord-Versuch unternimmt, ist nirgends aufgeschrieben. Er schießt sich mit der Dienstpistole in den Mund, überlebt aber glücklicherweise. – Die üblichen Erklärungsmuster versagen aus meiner Sicht – Schulden, unglückliche Liebschaften, Minderwertigkeitsgefühle in der Karriere-Warteschleife.

Die Frauen, die ihn am Krankenbett nach dem missglückten Pistolenschuss hingebungsvoll pflegen, u.a. Caroline von Briest, die Ehefrau des romantischen Dichters Friedrich de la Motte Fouqué, lassen in ihren Briefen nichts Derartiges verlauten.

Meine demokratisch-republikanische Weltanschauung aber lässt Raum für die folgende Spekulation – ein nur 11 Jahre älterer Offizier, der selbst mit nur 16 Jahren in eines der vornehmsten preußischen Garderegimenter, das IR „Kronprinz“ mit Standort Potsdam, eingetreten war,  erlebt rund um die Uhr die Torheiten seines halbwüchsigen Schutzbefohlenen, erträgt mit Mühe die Hohlheit, Leere, das Spießertum und die Oberflächlichkeit des Hoflebens, den billigen Populismus rund um die provinzielle junge Königin und ihren Verehrer, den Prinzen Louis Ferdinand, die Sprachlosigkeit des Königs, die offene Korruption.

Nach dem missglückten Selbstmordversuch vom April 1805 scheidet Jung-Schlotheim aus dem preußischen Heer aus, erhält eine Pension von 300 Reichsthalern, und zieht sich nach Gotha zurück. Dieser Pistolenschuss in den Mund führt aber zu einer dauerhaften Missgestaltung des Gesichts des Offiziers Hartmann von Schlotheim, so dass er menschenscheu im Hause seines Bruders zurückgezogen lebt, sich in die Kunstgeschichte vertieft und mit den Steinfunden der Sammlung seines Bruders künstlerisch experimentiert. Der Zufall führt ihn zum Steindruck, damit auch zur Bekanntschaft und dauerhaften Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstler Wilhelm Reuter – die künstlerischen Erfolge helfen ihm schrittweise über seine Resignation hinweg. Von seinen erfolgreichen Bemühungen zeugt auch ein Brief, den mir die Berliner Rxperten nachträglich zu schickten – in Handschrift und Transkription. Vom ehemaligen preußischen Garde-Hauptmann v. Schlotheim an Reuter:

Hier die durch den Kleist-Forscher Paul Hoffmann besorgte und veröffentlichte Transkription:

Ich gehe davon aus, dass der Bericht seines älteren Bruders über dessen Reise nach München zwischen 1792 und 1795 und die Besichtigung der dortigen technischen Neuheiten des Steindrucks unseren „Jung-Schlotheim“ bei seinen Experimenten und den Versuchen ihrer Vermarktung bestärkt haben.

Er unternimmt nun auch kürzere Reisen, Wanderungen in der Natur, in den Bergen, vermeidet aber die Teilnahme am sozialen Leben der Gothaer Gesellschaft. Daher ist sein Name in Gotha in Unterschied zu dem seines älteren Bruders kaum bekannt. 

Vermutlich tritt er über briefliche Angebote zur Zusammenarbeit mit Zeichnern und Malern in Kontakt, nachdem er die ersten praktischen Erfolge im Druck unter Verwendung von geschliffenen Marmorplatten, die ihm aus der brüderlichen Sammlung zur Verfügung stehen, nachweisen kann. Seinen Namen als Lithograph und seine erfolgreichen Experimente kennt man auch inzwischen in Weimar, Minister Goethe schlägt ihn für ein Austauschpraktikum mit dem Münchener Museum vor. Das Projekt scheitert jedoch an der Kostenfrage.

Goethes Begeisterung für die neue Drucktechnik findet sich auch rückblickend in einem Brief an den Münchner  Botaniker und Ethnographen Carl Friedrich Philipp von Martius (1794-1868) von 1826: „Seit zwanzig Jahren sehe ich der neuen deutschen Kunstentwickelung zu, und wage noch  nicht, mich darüber auszusprechen. Lassen Sie mir es an Kenntniß der neusten Thätigkeiten künftig nicht fehlen; die Lithographie erleichtert solche Communicationen. Sollten die  Gemälde der Clyptothek nachgebildet werden, so bitte mich damit zu erfreuen“.

Angesichts dieser weiträumigen Kontakte ist es durchaus denkbar, dass „Jung-Schlotheim“  auch mit dem Augsburger Schlachtenmaler Adam in Beziehung tritt und für ihn eine Platte mit dem Sujet des Gefechts bei Ebersberg herstellt. Leider konnte ich bisher keine schriftlichen Belege, keinen Auftrag oder Rechnung finden.

Ich fasse einen kühnen Plan. Für die nächsten Tage steht keine Beratung in meinem Kalender, meine Anwesenheit in Saalfeld ist nicht erforderlich, also kann ich in Gotha, Erfurt und Arnstadt die mir wohlbekannten Antiquariate abklappern, diesmal aber nicht auf der Suche nach politischen, militärischen, landeskundlichen Publikationen und Karten, sondern nach Kunst, was etwas Verwunderung bei meinen Bekannten und den befreundeten professionellen Sammlern und Verkäufern hervorruft. Steindruck, Lithographie zwischen 1790 und 1820 steht auf der Wunschliste, Namen nenne ich nicht, das könnte die Preise hochtreiben.

Nach drei Tagen bekomme ich Hustenanfälle, so sehr hat mich der Staub der entlegensten Ecken in den alten Stuben auf und neben der Erfurter Krämerbrücke, in den Gassen zu Füßen des Friedensteins und in den Winkeln rund um die Bachkirche im altehrwürdigen Arnstadt angegriffen.

Aber es hat sich gelohnt: nichts ließ ich mir anmerken, als ich mit dem etwas schläfrigen alten Herrn am Erfurter Fischmarkt um den Preis für eine Kunstmappe von 1809 feilschte. Er war vermutlich froh, dass sich jemand für den Ladenhüter interessierte, konnte ganz sicher mit dem Namen Hartmann S. auf dem Titel nichts anfangen. Mir aber schlug das Herz bis hoch in den Hals hinein: „Skizzen zur besseren Ausführung für Künstler und zur Nachahmung für Schüler; als Versuche des chemischen Steindrucks in Gotha herausgegeben von Hartmann S: 1809“ – ein Foliant mit zehn Blättern, Querformat, 50 mal 35 Zentimeter! „Da wird sich meine Frau zum Geburtstag aber freuen“ konnte ich gerade noch stottern, als ich dem netten, bedauernswert unbedarften Herrn die ausgehandelten 25 Euro auf den Tisch legte.

Zur Freude über den Fund gesellte sich die Überraschung zu Hause, als einer der Drucke den älteren Bruder „E.S. del Gotha“, also Ernst von Schlotheim auswiesen!

Offen bleibt der Bezug zu Löffler in Gotha – warum befindet sich jenes Blatt mit dem Gefecht von Ebersberg unter seinen Papieren? Hatte Löffler es gekauft? Warum? War er ein Kunst-Sammler? Gab es eine persönliche Erinnerung an die Napoleonischen Feldzüge oder war es einfach nur an eine seiner Reisen in die Gegend von Wien?  Es kann auch ein Geschenk der Brüder v. Schlotheim an ihn gewesen sein, dagegen spricht aber das Fehlen der üblichen Widmung auf der Rückseite. Oder habe ich etwas übersehen? Im Büro untersuche ich gründlich das Blatt – das ist er doch, der Schlüssel: das Blatt ist auf ein Doppel aufgeklebt, fast unsichtbar, aber doch mit etwas Mühe kann ich die beiden Schichten voneinander lösen. Wie erhofft: auf der Rückseite des Originals die Widmung – aber die Kette der glücklichen Zufälle reißt nicht ab: nicht nur dass beide Brüder die Widmung unterschrieben haben, sondern neben dem Namen Löffler als Empfänger des Geschenks steht ein Name, der so unglaubhaft scheint, dass ich zuerst an eine Fälschung denke – H. v. Kleist! Ich mache mich an die Dechiffrierung der drei Zeilen der Widmung: „Anl. d. Besuches H.v.Kleist beim Kam. H.v.S. in Gotha dem väterl. Freund GS. L. 13. Feb. 1810“ und komme zum Ergebnis: „Anlässlich des Besuches Heinrichs von Kleist beim Kameraden Hartmann von Schlotheim in Gotha dem väterlichen Freund Generalsuperintendent Löffler 13. Februar 1810.“ 

Zu überprüfen wäre das Datum – ist es vereinbar mit den akribischen Angaben, die sich aus dem veröffentlichten Briefwechsel und den Angaben der Freunde und Bekannten des Dichters zu den Aufenthalten Kleists in Berlin und seinen Reisen im ersten Halbjahr 1810 ergeben – nachzulesen in den „Lebensspuren“, herausgegeben von Helmut Sembner. Ich finde keinen Widerspruch – jener Aufenthalt Kleists in Gotha bei Hartmann von Schlotheim ist mehrfach dokumentiert, auch die finanziellen Transaktionen zwischen Kleist, Reuter und Hartmann von Schlotheim.  Aus der Widmung könnte man ein Treffen der Brüder Schlotheim, Löfflers und des Besuchers aus Berlin, Heinrich von Kleist, an jenem 13. Februar 1810 herauslesen, auch wenn es dafür – zum Ärger der „Kleistologen“ – keinen Beleg in den Briefen gibt. 

Es ist etwas mehr geworden als sonst – aber die Schlotheims verdienten eine ausgiebige Darstellung – in ihren mannigfaltigen Beziehungen zu Heinrich von Kleist.

Dr. Dieter Weigert 6. September 2023 Berlin Prenzlauer Berg

Weitere Folgen aus den Erinnerungen des Saalfelder Stadtarchivars finden Sie in unregelmäßigen Abständen an diesem Platze !
Bisher sind erschienen:

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Preußisch Blau und Lutherisch Schwarz – oder: Leutnant von Kleist und Generalsuperintendent Löffler Folge 10

Für den Theologen Josias Löffler bringt das Jahr 1779 den ersehnten Frieden, die Rückkehr vom „Kartoffelkrieg“, vom Elend der Opfer, von Trauer und Leid, aus Schlesien und Böhmen nach Berlin, aber nicht sofort die Befreiung vom Militärdienst.

Adolph Menzel, Zeichnung zur Biographie Friedrichs II.

Noch ist er Feldprediger im königl.-preuß. Kürassier-Regiment Nr. 10 der Gens d’armes, ich wiederhole die wenigen Worte aus seinem Tagebuch, mit denen er knapp die Zwitterstellung beschreibt, die Unterstellung als Militärgeistlicher und als ziviler Theologe auf der „Warteliste“ des Berliner lutherischen Oberkonsistoriums, doppelt also König Friedich II. verpflichtet:
„Hierauf kehrte er mit dem Regiment 1779 nach Berlin zurück. Hier widmete er sich, bey einem sehr leichten und geschäftsfreyen Amte, bey dem er oft bedauerte, daß es ihm nicht mehr bestimmte Arbeiten auflegte (weil es einem jungen Manne, zumal in der Hauptstadt, zu schwer sey, ohne äußerliche Veranlassungen und Nöthigungen, sich selbst auf eine befriedigende Art zu beschäftigen) theils dem Unterrichte junger Leute in der alten Litteratur, theils der Aufholung dessen, was er während des Jahres, in welchem er von der Litteratur ganz getrennt war, versäumt hatte; theils dem Umgang mit den Studierenden. Und nun kehrte bey ihm der Wunsch zurück, Lehrer der Wissenschaften, wenn möglich auch einer Universität zu seyn.“

Wir sind glücklich, in den nachgelassenen Papieren des Theologen Josias Löffler ein Blatt in seiner eigenen Handschrift gefunden zu haben, die Auskunft geben über seine Stimmung und Gefühle am Ende des Militäreinsatzes genau ein Jahr nach dem Ausmarsch aus Berlin:

Josias Löfflers Tagebuch 1778/79, Bl. 31

Die wichtigsten Passagen, mit kleineren Lücken transkripiert:

Den 21 ten April 1779 „Heute ist es gerade ein Jahr, daß ich meine Reise aus Berlin antrat, um in eine Lebensart zu treten, die voller Unruhe, Zerstreuungen und derjenigen ganz entgegengesetzt war, die ich bisher geführt hatte. So lehrreich dieses Jahr für mich gewesen, so mannigfaltig die Erfahrungen, die ich darin gemacht,  so wünschte ich doch einen ruhigeren Zeitpunkt und freue mich zu der Hoffnung des wiederkehrenden Friedens um wieder zu meiner vorigen Lebensart zurückzukehren, und mich wieder auf die Wissenschaften zu legen, die mich zur Führung meines Amtes geschickter und zu einem brauchbaren Menschen machen.
Wenn ich bedenke, daß der Werth des Menschen und die Zufriedenheit mit sich selbst lediglich oder größtentheils aus der regelmäßigen Thätigkeit entspringt, in der er seinen Geist erhält und durch die er der Welt nützlich wird, so wird dieser Wunsch um so lebhafter, je mehr ich bis jetzt in Zerstreuungen lebe, die den Geist allmählich von planvoller Geschäftigkeit entwöhnen, und ihm seine Festigkeit und gleichsam seine Consistenz rauben, daß er gleich dem Waßer über der Oberfläche der Dinge hin und her schwimmt.
Es scheint, daß mich diese Veränderung meiner Lebensart nicht weiter stört, so bald ich meinen Geist zu seiner Thätigkeit wiedergewöhne.
Aber ich muß mich grämen, wenn die Flüchtigkeit und Unruhe ihm eigen bleibt, die ihn bisher hin und her geworfen hat.
Der Honigsucher ist sich nur alsdann nützlich, wenn er gleich der Biene, die von einer Blume zur anderen fliegt, auch jene brauchbaren Säfte fängt und setzt ihrer Leistung und ihrer Lebensart getreu alles in Honig ansammelt – unter seinen Arten herumflattern von Städten zu Städten, und von Menschen zu Menschen, immer Nahrung für seinen Geist, für sein Herz, und für die Kunst sammelt, der sein Werk ist und wodurch er der Welt nützlich werden soll –  Ein Tageslauf in dem am Abend des Tages wenn er das was er gesehen, gehört, gedacht hat,  alles vor dem Auge seines Geistes vorüberziehen läßt, alle seine Mittel, Zweck und Vorteil nicht zu verlieren, den ihm diese neue Lebensart darbietet. „

Es sind Hilfeschreie, und es sind Reflektionen, die er seinen Freunden aus der Hallischen Zeit, Stuve und Lieberkühn, in Briefen mitteilt. In der Folge 8 dieser Serie erwähnte ich die beiden Freunde aus der Studienzeit, die nun als Pädogogen eine Stelle gefunden hatten, um die Josias Löffler sie beneidete – Philipp in Neuruppin, Johann in Breslau. Aus seiner Sicht waren seine beruflichen Voraussetzungen nicht schlechter als die der Freunde, sie hatten aber mehr Glück. Wir finden in den Papieren des Komvoluts Hinweise darauf, wie modern die pädogogischen Auffassungen der drei Hallischen Ansolvenen waren:
Für die moderne, den sachkundlichen Bedürfnissen des bürgerlichen Berufes der Schüler zugewandte Pädagogik der drei Freunde, spricht auch Löfflers Geschenk an die Schule in Neuruppin (siehe Philipp Julius Lieberkühns, gewesenen Rektor am Elisabethanischen Gymnasium zu Breslau Kleine Schriften …, herausgegeben von Ludwig Friedrich Gottlob Ernst Gedike, Züllichau und Freystadt 1791, S. 55) – „den Köhlerschen Atlas der alten Geographie“ (vermutlich handelte es sich um die wertvolle Edition aus dem Jahre 1720, erschienen bei Christoph Weigel in Nürnberg unter dem Titel „Descriptio orbis antiqui in XLIV tabulis exhibita. Atlas Manualis Scholasticus et itinerarius“)
In einem Begleitschreiben wird Josias geschichtsphilosophisch: der Atlas des Altdorffer Universitätsprofessors Johann David Köhler regt ihn an zum Träumen in globaler oder zumindest europäischer Tragweite.
Dieses Schreiben ist leider nicht erhalten, aber den Dankesbrief von Philipp Julius Lieberkühn und zwei weitere Briefe konnte ich im Archiv von Neuruppin ausfindig machen. Aus ihnen las ich zu meiner Verblüffung heraus, dass es eine weltanschauliche Debatte zwischen Philipp und Josias über das Thema China und Europa gegeben hat. 
Es stellt sich heraus, dass Lieberkühn ein glühender Bewunderer Köhlers war, der in seinen letzten 20 Lebensjahren eine Geschichtsprofessur in Göttingen innehatte und in Halle unter den Studenten wegen seiner gediegenen Kenntnisse in der Genealogie, der Heraldik und der Geschichte der Münzen beliebt war. Philipp Lieberkühn bezog sich in seinen Briefen auf die China-Beiträge in dem genannten Atlas, wandte sich aber kritisch gegen Köhler, weil er im populären Bilderatlas mit Hunderten von Kupferstichen zur Geschichte unter dem Titel „Gedächtnis-Hülfliche Bilder-Lust der Merkwürdigsten Welt-Geschichten Aller Zeiten“ von 1726 die asiatischen Länder östlich Persiens und Palästinas nicht behandelte.
Aber dafür finde ich unter den Papieren des Lieberkühn die 11-seitige Schrift: Joseph Moxon, Hamburg 1676, „kurtzer Diskours von Der Schiff-Fahrt bey dem Nord-Pol Nach Japan / China / und so weiter. Durch drey Erfahrungen dargethan und erwiesen/ nebenst Beantwortungen aller Einwürffe/ welche wieder die Fahrt auff diesem Weg können eingewendet worden; Als 1. Durch eine Schiffahrt von Amsterdam in den Nord-Pol. 2. Durch eine Schiffahrt von Japan / nach den Nors-Pol. 3. Durch einen Versuch den der Großfürst in der Moskau thun lassen/ wodurch erscheinet / daß gegen Norden von Nova Zembla eine frey und offene See ist biß nach Japan China und so weiter Sampt einer Land-Charte so alle Länder nechst dem Polo anweiset. Aus dem Englischen ins Hochdeutsche übersetzet.“ (mit Karten) Aber auch dieses schöne Stück der Sammlung zu orientalischen Themen leidet, wie die Freunde meinen, an „Schwindsucht“, wenn es um China geht.
Philipp kennt sich aus, er hatte sich auch intensiv mit Leibniz beschäftigt, seinen Briefwechsel mit den Jesuiten gelesen und war auf den Würzburger Jesuitenpater Kilian Stumpf gestoßen. Philipp war ein Leibnizianer, von den im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts erschienen Novissima Sinica hatte er gehört, sie aber leider nicht zu Gesicht bekommen.
Ich suche verbissen in dem Papierbündel nach weiteren Zeugnissen der Beschäftigung der beiden „Neuruppiner“, wie ich sie nenne, mit der chinesischen Philosophie und Theologie, – aber vergeblich. Keine weiteren Briefe. Aber als ich schon diese Spur verlassen wollte, geriet mir ein zusammengeheftetes dreiblättriges Stück mit verblassten Tintennotizen in die Finger – nach einem Handschriftenvergleich aus der Feder von Philipp Lieberkühn. Es waren nicht abgeschickte Briefentwürfe.
Soweit ich bisher verstand, hatten die drei Freunde zu ihrer Hallenser Zeit auch das Thema China ausführlich diskutiert, Leibniz‘ Briefwechsel mit den Jesuiten entdeckt und mit Bedauern festgestellt, dass es unter den europäischen protestantischen Fürsten kein Interesse gab   an der Unterstützung von Missionen nach China.  – Sie empfanden diese Haltung kleinkariert, borniert, suchten nach Wegen, wie sie als künftige Akademiker mithelfen könnten, die Überzeugungen der Fürsten zu verändern. Vermutlich stammten die gefundenen Notizen aus dieser Periode. Heute und morgen jedoch ist nicht die Gelegenheit, sich mit diesem anregenden Thema zu beschäftigen, die Aktivitäten unseres Theologen Josias nach seiner Rückkehr aus dem Kriege haben Vorrang.

Edda ist zurück , aus dem freien Vormittag ist eine halbe Woche geworden. Ihr Geschenk für mich: ein Sack voller Fragen und Anregungen, ein großer Umschlag mit Karten, Abbildungen, Zeichnungen. Zu meiner Verblüffung legt sie wortlos ein handgeschriebenes Blatt auf meinen Tisch, das nur eine Zeile enthält:

Wir sind sofort in einer heißen Debatte – war Josias Löffler ein Pazifist? Hat er sich grundsätzlich, philosophisch zu Krieg und Frieden, Gewalt und Toleranz geäußert? Edda bringt Heinrich von Kleist wieder ins Gespräch, auch wenn der Dichter und Leutnant in den Jahren des Kartoffelkrieges noch in den Armen der Amme des Nonnenwinkels lag. Es wäre dennoch von Nutzen, die Reflektionen des Feldpredigers mit den späteren Haltungen des Dramatikers z.B. im Arminius-Stück zu vergleichen.
Ich verberge meine Verwunderung darüber, mit welcher gedanklichen Tiefe, vermutlich durch nächtliches Studium erreicht, Edda aus Ihrer mehrtätigen „Büro-Diaspora“ zurückgekommen ist und versuche, durch geschicktes Fragen diese Hintergründe zu verstehen.
Sie verweist locker auf Wien, auf den Schriftsteller Collin. Den habe sie ohne großes Aufsehen nebenbei in den Tagen vor ihrem Privat-Rückzug in einem Regal entdeckt. Angriffslustig lenkte sie die Unterhaltung auf jene Passagen im Arminius-Stück, in denen Kleist dreißig Jahre nach den Kartoffelkriegs-Erfahrungen des väterlichen Freundes Josias Löffler die Lüge, die Tatsachen-Verdrehungen, die Fälschungen und das gesamte System der Propaganda zum legitimen Instrumentarium des Heerführers und seiner Offiziere erklärt.
– Und was hat jener Collin damit zu schaffen?
– Ohne Collin wäre das Stück nicht in dieser Gestalt entstanden! Edda macht es Freunde, mich auf dem falschen Fuß zu erwischen und tanzen zu lassen.

Ich lasse mich auf ein Gefecht mit den leichten Waffen ein, wähle das Florett, lehne Säbel und Degen ab:
– liebe Edda, darf ich auf jene mustergültige Predigten unseres Josias verweisen, in denen er Texte aus dem Alten und Neuen Testament als Belegstücke für die innere Widersprüchlichkeit der christlichen Religion in diesen Fragen anführt ? Wohin schlägt aus deiner Sicht das Pendel aus ?

Auch ich bin gut vorbereitet: Ich greife wie zufällig in die Buchreihe hinter mir, in den letzten Wochen sogfältig mit Drucken aus der Feder von Josias Löffler gefüllt, bitte Edda, Seite 153 des gut erhaltenen, goldbestückten Exemplars „Predigten Zweyter Band“ aufzuschlagen:

Die darin enthaltene Rede zum Gedächtnis Friedrich II.  vom 10. September 1786, S. 153 ff, springt und sofort in die Augen. Obwohl zu ihrem Verständnis eigentlich die Darstellung der professoralen Jahre des Theologen in Frankfurt an der Oder eine wichtige Voraussetzung wären, sollten und müssten wir sie schon heute studieren, d.h. uns den Positionen Löfflers zur christlichen Friedenslehre widmen – sozusagen als Nachlese zu den schmerzlichen Erfahrungen im sogenannten Kartoffelkrieg !

Der Text ist gruppiert um ein Zitat aus dem Alten Testament: 1. Chronik XVII, 8: „Ich habe dir einen Namen gemacht, wie die Großen auf Erden Namen haben“ (S. 157)  

Für Josias Löffler ist Friedrichs Name identisch mit der allgemein-menschlichen Friedenssehnsucht: Frieden: „… diese Aufopferung für das allgemeine Beste bewies er aber nicht bloß in diesem  oder jenem Theile der Staatsverwaltung, sondern überall; … bey der Beschützung und Vertheidigung seiner Länder, im Kriege nicht minder, als in der Ruhe des Friedens – … (S. 161)


„Er argumentiert mit den Zweiflern: „Es ist wahr, er führte drey Kriege – denn im vierten bewegte Er nur Sein Heer, um den Frieden zu erhalten – … Verheerende Kriege und blutige Schlachten konnten dem guten Könige keine Freude seyn, der so gern sein Land in blühenden Stand setzen und bevölkern wollte … Friede war sein höchster Wunsch, und ihn auf das festeste, selbst für die Zukunft zu gründen, eines der glorreichsten und letzten Geschäfte seine Lebens. Und so nimmt er dieser bewunderte König auch den Ruhm mit in das Grab, daß Er der große Beschützer und Vertheidiger seiner Länder, daß Er der Friedensstifter unseres ganzen deutschen Vaterlandes war.“ (162)

Das Resumé: „Nur unter dem gesegneten Einflusse des Friedens konnte Er sein angenehmstes Geschäft betreiben, und den erhabensten Zweck seiner Regierung erreichen, konnte er seine Länder beglücken und ihren Wohlstand mehren.“ (S. 163)


Ich schlage den Band zu, bin stolz auf die in meiner Regie – aber mit öffentlichen Geldern – erworbene Predigtsammlung des Josias Löffler, herausgegeben vom ehrwürdigen Frommann in Züllichau:

Darin findet sich – zu unserem aktuellen Thema passend – auch die Abschiedspredigt Regiment Berlin 16. Oktober 1782: (S. 1 ff), wobei ich schon wieder dem Gang der Gedanken vorauseile, mitgerissen vom goldbedruckten ledernen Buchrücken aus Züllichau.

Was packt mich sofort? In den meisten der abgedruckten und von Josias selbst ausgewählten Predigten die theologisch verpackte Friedenssehnsucht:   an erster Stelle jene Predigt im Bd. 3 aus dem Jahre 1793, (S. 397 ff) zu einer Stelle im Lukasevangelium (II, 22-32), der er den Titel gibt „Von der Verbindung der Vaterlandsliebe und der allgemeinen Menschenliebe“ – Josias Löffler propagiert den Zuhörern in Gotha seine Version des bekannten Lukas-Berichtes der Darbringung des Säuglings Jesus im Tempel:„Simeon,  der sich bei der Darstellung Jesu im Tempel einfand, erscheint uns von Seiten seines Verstandes und seines Herzens gleich ehrwürdig. Gleich jedem jüdischen Patrioten jenes Zeitalters wartete auch er auf den Trost, den Erretter und Heiland Israels; aber er hatte von ihm nicht die verkehrten Begriffe der Menge; …  Aber, was ihn weit ehrwürdiger zu machen verdient, das ist das gute wohlwollende Herz, welches aus jedem Zuge seiner Aeußerungen hervorleuchtet, …

Löffler predigt, „daß die Verbindung beyder nicht nur möglich, sondern selbst pflichtmäßig und leicht, sey.“ S. 403   und er definiert: „Dieses sind die Züge der Vaterlandsliebe: Gerechtigkeit gegen jedermann; Gehorsam gegen die Gesetze; Ehrfurcht gegen den Regenten; weise Regierung des Hauses, und Erziehung der Kinder; gewissenhafte Verwaltung anvertrauter Geschäfte; und Bereitwilligkeit, jede Anstalt zu unterstützen, wodurch Ruhe und Sicherheit, Wohlstand und Ordnung, Sittlichkeit und Tugend, befördert wird.“  (412)

„Menschenliebe– heiliger, ehrwürdiger oft entweiheter aber doch ehrwürdiger Name – Was ist sie? Der Name sagt; Sie ist die einfachste verständlichste Sache; Sie ist Liebe der Menschen, aber der Menschen als Menschen ohne Rücksicht des Hauses des Standes, des Volkes, der Religion, des Welttheils; sie ist Liebe jedes Hauses, jedes Standes jedes Volkes kurz des ganzen Geschlechts; sie ist der Wunsch, daß es allen Mitgliedern derselben wohlgehe, daß sie alle erleuchtet und sittlich werden; sie ist endlich das streben zu diesem Zwecke nach dem Vermögen dass Gott darreicht selbst beyzutragen.“ (413)

„So der fromme Simeon. Er freuete sich nicht bloß des Glücks und des Ruhms seines Volks, sondern auch der Erleuchtung der Heiden …

Edda zieht mich zurück in die gegenwärtigen Aufgaben, ich sträube mich – die alten Texte haben etwa Verführerisches ! Nochmals greife ich in das Regal hinter mir, fasse blind den Nachdruck der ersten Luther-Bibel, halte Edda die Seite mit dem Beginn des Lukas-Evangeliums vors Gesicht:


Edda schafft es, mich in die nüchterne Gegenwart zurück zu ziehen, denn ich bin auch etwas ermüdet von den Gedankenspielen über Leben und Tod auf den Schlachtfeldern Böhmens, Sachsens, Schlesiens. Um die chose zu Ende zu bringen, blättere ich die restlichen ungeordneten Zettel und Briefe durch, die sich in dem Umschlag „Feldzug 78/79“ befinden – und stutze. „Edda, ich habe Sie in den letzten Tagen kaum behelligt. Nun aber frage ich die Kennerin – wann ist denn die Textfassung der Kleistschen ‚Hermannsschlacht‘ in öffentlicher Form erschienen? Noch zu Lebzeiten des Dichters oder auch noch zu Lebzeiten Löfflers? Abgesehen von seinen eigenen kurzen Gefechtserfahrungen gegen die Truppen der französischen Republik konnte sich Leutnant a.D. Heinrich von Kleist beim Feldprediger a.D. Josias Löffler doch interessante Ratschläge für die Gestaltung des Felzuges des Cheruskers Arminius gegen die Römer einholen!“
Mein wandelndes Lexikon muss nicht lange nachdenken – „Erst lange nach dem Tode beider !“ – Ich hake nach – „Wieso aber gibt es hier eine handschriftliche Notiz Löfflers zur Thematik von ‚Lug und Trug‘, von Aufheizung der Völker in Kriegszeiten durch Zeitungen und Theaterstücken, die sich auf mehrere Passagen in Kleists Hermannsschlacht bezieht und in der Löffler den Namen Collin nennt?“- „Collin?“ zieht Edda nachdenklich am Pferdeschwanz, „war das nicht jener Mensch mit Adelstitel, der für das Wiener Burgtheater schmalzige Lieder und Postillen aus dem antiken Rom  für den Tagesgebrauch schrieb, unverdauliches Zeug?  Die  Kitschprodukte brachten nichts ein, aber dafür den hoch dotierten  Posten als Dramaturg!“ Vergnüglich spende ich der lieben Edda Beifall, auf meine fragenden Blicke setzte sie hinzu: „mein Zweitfach an der Uni war deutsche Literaturgeschichte, der Assistent beschäftigte uns zwei Jahre lang mit Brechts Vorliebe für das alte Rom, da ist etwas hängen geblieben, zum Beispiel der unvergessliche Coriolanus auf den deutschsprachigen Bühnen zu Klassiker Goethes Zeiten!“ – Ich bohre weiter: „wie aber kommt Löffler an einen Text von Kleist, der noch nicht veröffentlicht war?“
Edda vertröstet mich auf den Montag, sie wolle sich in ihren Nachschriften von damals umsehen, ob da nicht etwas über den Burgtheater-Menschen Collin zu finden sei, vielleicht über den Umweg Varus im Teutoburger Wald und  somit über Kleists Germanischen Helden Hermann! Den geheimnisumwitterten Notizzettel kopiert sie schon mal für das ruhige Weekend.

Am Montagmorgen ist großes Spectaculum angesagt – Edda bepflastert die Holzverkleidung meiner Fensterwand (sehr helle Zirbelkiefer mit lustigen kleinen Astzeichnungen) mit bunten Zettelchen und einigen Porträts und Theaterpapieren. Darüber befestigt sie ein Banner mit dem barock verzierten Schriftzug: Eddas Tableau! Burgtheater Wien und Kgl. Preuß. Schauspielhaus Berlin kann ich von meinem Platz in der ersten Zuschauerreihe erkennen. Edda hat eine Schwäche für graphische Darstellungen, für geometrische Figuren – also ist das Ganze kreisförmig angeordnet: im Zentrum ein einzelnes Blatt, von dort strahlen farbige Fäden in die vier Himmelsrichtungen. Zwischen dem Tableau und dem Kreis klebt sie nun eine Holzleiste mit einer Zahlenreihe, vor die Wand platziert sie ein Stehpult, darauf das Heft mit dem Text der Hermannschlacht: „Druck und Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1920; „Reclams Universal-Bibliothek“ Nr. 348; „Rosenranken-Umschlag“).

Auf einen Wink der Gestalterin trete ich näher, ihr rechter Zeigefinger weist auf drei rot unterlegten Zeilen des Blattes im Zentrum:  

Mein Blick muss Verständnislosigkeit ausstrahlen – Edda versucht es mit Stichworten: „Gotha?, Löffler?, der Kamerad aus Potsdam? Der Selbstmord-Versuch? Immer noch nichts ?“ Sie führt mich zu dem zugehörigen Brieftext in der unteren rechten Ecke ihres Tableaus und zitiert genüsslich die ersten Sätze, dann den gesamten Brief:   

157.Heinrich von Kleist an Heinrich Joseph von Collin

Teuerster Herr von Collin,

Kurz vor dem Ausbruch des Krieges erhielt ich ein Schreiben von Ihnen, worin Sie mir sagten, daß Sie das Drama: die Hermannsschlacht, das ich Ihnen zugeschickt hatte, der K. K. Theaterdirektion, zur Prüfung und höheren Entscheidung, vorgelegt hätten. Natürlich machten die Vorfälle, die bald darauf eintraten, unmöglich, daß es aufgeführt werden konnte. Jetzt aber, da sich die Verhältnisse wieder glücklich geändert haben, interessiert es mich, zu wissen: ob sich das Manuskript noch vorfindet ? ob daran zu denken ist, es auf die Bühne zu bringen? und wenn nicht, ob ich es nicht nach Berlin zurück erhalten kann? – Ebenso lebhaft interessiert mich das Käthchen von Heilbronn, das Sie die Güte hatten, für die Bühne zu bearbeiten. In demselben, schon erwähnten Briefe schrieben Sie: die Rollen seien ausgeteilt, und alles zur Aufführung bereit. Ist es aufgeführte Oder nicht? Und wird es noch werden? – Alle diese Fragen, die mir, wie Sie begreifen, nahe gehen, bitte ich, in einem freien Augenblick, wenn Sie ihn Ihren Geschäften abmüßigen können, freundschaftlich zu beantworten. – Wie herzlich haben uns Ihre schönen Kriegslieder erfreut; und wie herzlich erfreut uns der Dank, den der Kaiser, Ihr Herr, Ihnen kürzlich öffentlich dafür ausgedrückt hat! Nehmen Sie die Versicherung meiner innigsten Liebe und Hochachtung an, und erhalten Sie ferner Ihr Wohlwollen demjenigen,
der sich nennt                      Ihr ergebenster

Gotha, den 28.Jan. 1810       Heinrich v. Kleist.

N. S. Ich war nur auf kurze Zeit hier, und gehe morgen nach Berlin zurück, Wohin ich poste restante zu antworten bitte.“

Ich muss mich wieder setzen! Der Blitz hat eingeschlagen: „Edda, das ist die Antwort auf unsere Frage vom Freitag! Kleist hatte bei dem Besuch seines ehemaligen Potsdamer Regimentskameraden von Schlotheim selbstverständlich bei Löffler ‚vorbeigeschaut‘ und mit ihm über die Theatervorhaben, also auch über die ‚Hermannsschlacht‘ geplaudert, also über Themen, die – wie im Brief an Collin beschrieben – ‚mir nahe gehen‘. Ganz gewiß hatte er auch eine Arbeitskopie des bisher unveröffentlichten Stückes im Reisegepäck, daher die Textauszüge, die sich Löffler selbst anfertigte oder von einem der herzoglichen Schreiber anfertigen ließ. Das ist des Pudels Kern, wie Goethe formulieren würde. Und beim Schlotheim junior war er aufgekreuzt wegen der finanziellen Verbindungen, über die wir schon gesprochen haben!“

Edda hält das Heftchen hoch und nimmt die klassische Deklamierstellung ein – schon muss ich unterbrechen: -„Was hat es mit der hölzernen Zahlenleiste dort auf sich ?“ – „Das sind die Zeilen-Nummern einer modernen Ausgabe der ‚Hermannsschlacht‘, wo wir Bezüge zu unserer Ausgangsfrage – Propaganda in Kriegszeiten, Fanatismus und nationalistischer Haß, Massenmanipulation in zweitausend Jahren – finden! Ich komme darauf zurück, Chef.“
Ich notiere schon mal die Zahlen für mein geplantes nochmaliges Lesen des Textes am Abend: 894 – 955, 1473 – 1527, 1570 – 1627, 1720 – 1750, 2200 – 2225.
Aber Edda meint, wir sollten jetzt schon uns an den Kleistschen Text wagen und zu versuchen, uns der Kriegsstimmung und dem Propagandafeldzug, der „Lug- und- Trug“- Taktik zu stellen. Sie nimmt das Heftchen und deklamiert:

Akt III   Zweiter Auftritt

Drei Hauptleute treten eilig nach einander auf. – Die Vorigen.

DER ERSTE HAUPTMANN indem er auftritt.

Mein Fürst, die ungeheueren                    (894)

Unordnungen, die sich dies Römerheer erlaubt,

Beim Himmel! übersteigen allen Glauben.

Drei deiner blühndsten Plätze sind geplündert,

Entflohn die Horden, alle Hütten und Gezelte –

Die unerhörte Tat! – den Flammen preisgegeben!

HERMANN heimlich und freudig.

Geh, geh, Siegrest! Spreng aus, es wären sieben!  (900)

DER ERSTE HAUPTMANN.

Was? – Was gebeut mein König?

EGINHARDT. Hermann sagt –

Er nimmt ihn beiseite.

DER ERSTE ÄLTESTE. Dort kommt ein neuer Unglücksbote schon!

DER ZWEITE HAUPTMANN tritt auf.

Mein Fürst, man schickt von Herthakon mich her,

Dir eine gräßliche Begebenheit zu melden!

Ein Römer ist, in diesem armen Ort,

Mit einer Wöchnerin in Streit geraten,

Und hat, da sie den Vater rufen wollte,

Das Kind, das sie am Busen trug, ergriffen,

Des Kindes Schädel, die Hyäne, rasend

An seiner Mutter Schädel eingeschlagen.           (910)

Die Feldherrn, denen man die Greueltat gemeldet,

Die Achseln haben sie gezuckt, die Leichen

In eine Grube heimlich werfen lassen.

HERMANN ebenso. Geh! Fleuch! Verbreit es in dem Platz, Govin!

Versichere von mir, den Vater hätten sie

Lebendig, weil er zürnte, nachgeworfen!

DER ZWEITE HAUPTMANN.

Wie ? Mein erlauchter Herr!

EGINHARDT nimmt ihn beim Arm. Ich will dir sagen –

Er spricht heimlich mit ihm.

ERSTER ÄLTESTER. Beim Himmel! Da erscheint der dritte schon!

DER DRITTE HAUPTMANN tritt auf.

Mein Fürst, du mußt, wenn du die Gnade haben willst,

920            Verzuglos dich nach Helakon verfügen.

Die Römer fällten dort, man sagt mir, aus Versehen,

Der tausendjährgen Eichen eine,

Dem Wodan, in dem Hain der Zukunft, heilig.

Ganz Helakon hierauf, Thuiskon, Herthakon,

Und alles, was den Kreis bewohnt,

Mit Spieß und Schwert stand auf, die Götter zu verteidgen.

Den Aufruhr rasch zu dämpfen, steckten

Die Römer plötzlich alle Läger an:

¬ Das Volk, so schwer bestraft, zerstreute jammernd sich,

930         Und heult jetzt um die Asche seiner Hütten. –

Komm, bitt ich dich, und steure der Verwirrung.

HERMANN. Gleich, gleich! – Man hat mir hier gesagt,

Die Römer hätten die Gefangenen gezwungen,

Zeus, ihrem Greulgott, in den Staub zu knien ?

DER DRITTE HAUPTMANN.

Nein, mein Gebieter, davon weiß ich nichts.

HERMANN. Nicht ? Nicht ? – Ich hab es von dir selbst gehört!

DER DRITTE HAUPTMANN.

Wie ? Was ?

HERMANN in den Bart.

Wie! Was! Die deutschen Uren!

– Bedeut ihm, was die List sei, Eginhardt.

EGINHARDT. Versteh, Freund Ottokar! Der König meint –

Er nimmt ihn beim Arm und spricht heimlich mit ihm.

ERSTER ÄLTESTER.

940          Nun solche Zügellosigkeit, beim hohen Himmel,

In Freundes Land noch obenein,

Ward doch, seitdem die Welt steht, nicht erlebt!

ZWEITER ÄLTESTER.

Schickt Männer aus, zu löschen!

HERMANN der wieder in die Ferne gesehn. Hör, Eginhardt!

Was ich dir sagen wollte –

EGINHARDT. Mein Gebieter!

HERMANN heimlich. Hast du ein Häuflein wackrer Leute wohl,

Die man zu einer List gebrauchen könnte?

EGINHARDT. Mein Fürst, die War‘ ist selten, wie du weißt.

– Was wünschest du, sag an ?

HERMANN. Was ? Hast du sie ?

Nun hör, schick sie dem Varus, Freund,

Wenn er zur Weser morgen weiter rückt,               950

Schick sie in Römerkleidern doch vermummt ihm nach.

Laß sie, ich bitte dich, auf allen Straßen,

Die sie durchwandern, sengen, brennen, plündern:

Wenn sies geschickt vollziehn, will ich sie lohnen!

EGINHARDT. Du sollst die Leute haben. Laß mich machen.

Er mischt sich unter die Hauptleute.

Akt VI         Dritter Auftritt

Hermann und Eginhaırdt treten auf.

HERMANN. Tod  Verderben, sag ich, Eginhardt!                 1473

Woher die Ruh, Woher die Stille,

In diesem Standplatz römscher Kriegerhaufen ?

EGINHARDT. Mein bester Fürst, du weißt, Quintilius Varus zog

Heut mit des Heeres Masse ab.

Er ließ, zum Schutz in diesem Platz,

Nicht mehr, als drei Kohorten nur, zurück.

Die hält man ehr in Zaum, als so viel Legionen,              1480

Zumal, wenn sie so wohlgewählt, wie die.

HERMANN. Ich aber rechnete, bei allen Rachegöttern,

Auf Feuer, Raub, Gewalt und Mord,

Und alle Greul des fessellosen Krieges!

Was brauch ich Latier, die mir Gutes tun ?

Kann ich den Römerhaß, eh ich den Platz verlasse,

In der Cherusker Herzen nicht

Daß er durch ganz Germanien schlägt, entflammen:

So scheitert meine ganze Unternehmung!

EGINHARDT

1490        Du hättest Wolf, dünkt mich, und Thuskar und den andern

Doch dein Geheimnis wohl entdecken sollen.

Sie haben, als die Römer kamen,

Mit Flüchen, gleich die Teutoburg verlassen.

Wie gut, Wenn deine Sache siegt,

Hättst du in Deutschland sie gebrauchen können.

HERMANN. Die Schwätzer, die! Ich bitte dich;

Laß sie zu Hause gehn. –

Die schreiben, Deutschland zu befreien,

Mit Chiffern, schicken, mit Gefahr des Lebens,

1500          Einander Boten, die die Römer hängen,

Versammeln sich um Zwielicht – essen, trinken,

Und schlafen, kommt die Nacht, bei ihren Frauen. –

Wolf ist der einzge, der es redlich meint.

EGINHARDT. So Wirst du doch den Flambert mindestens,

Den Torst und Alarich und Singar,

Die Fürsten an des Maines Ufer,

Von deinem Wagstück staatsklug unterrichten?

HERMANN. Nichts, Liebster! Nenne mir die Namen nicht!

Meinst du, die ließen sich bewegen,

1510           Auf meinem Flug mir munter nachzuschwingen ?

Eh das von meinem Maultier würd ich hoffen.

Die Hoffnung: morgen stirbt Augustus!

Lockt sie, bedeckt mit Schmach und Schande,

Von einer Woche in die andere. –

Es braucht der Tat, nicht der Verschwörungen.

Den Widder laß sich zeigen, mit der Glocke,

So folgen, glaub mir, alle anderen.

EGINHARDT. So mög der Himmel dein Beginnen krönen!

HERMANN.

Horch! Still!

EGINHARDT. Was gibts?

HERMANN. Rief man nicht dort Gewalt ?

EGINHARDT. Nein, mein erlauchter Herr! Ich hörte nichts,         1520

Es war die Wache, die die Stunden rief.

HERMANN. Verflucht sei diese Zucht mir der Kohorten!

Ich stecke, Wenn sich niemand rührt,

Die ganze Teutoburg an allen Ecken an!

EGINHARDT. Nun, nun! Es wird sich wohl ein Frevel finden.

HERMANN. Komm, laß uns heimlich durch die Gassen schleichen,

Und sehn ob uns der Zufall etwas beut.

Beide ab.

Akt IV    Fünfter Autritt

…         DER ZWEITE VETTER.

1565      Wer die Person ist, fragt ihr ?

Er nimmt eine Fackel und beleuchtet ihre Füße.

TEUTHOLD. Gott im Himmel!

Hally, mein Einziges, was widerfuhr dir ?

Der Greis führt ihn auf die Seite und sagt ihm etwas ins Ohr.

Teuthold steht, wie vom Donner gerührt. Die Vettern, die ihm gefolgt waren,

erstarren gleichfalls. Pause.

DER ZWEITE CHERUSKER.

Genug! Die Fackeln weg! Führt sie ins Haus!

Ihr aber eilt den Hermann herzurufen!

TEUTHOLD indem er sich plötzlich wendet.

Halt dort!

DER ERSTE CHERUSKER.

Was gibts?

TEUTHOLD. Halt, sag ich, ihr Cherusker!

Ich will sie führen, Wo sie hingehört. Er zieht den Dolch.

– Kommt, meine Vettern, folgt mir!

DER ZWEITE CHERUSKER. Mann, was denkst du?           1570

TEUTHOLD zu den Vettern.

Rudolf, du nimmst die Rechte, Ralf, die Linke!

– Seid ihr bereit, sagt an ?

DIE VETTERN indem sie die Dolche ziehn.

Wir sinds! Brich auf!

TEUTHOLD bohrt sie nieder.

Stirb! Werde Staub! Und über deiner Gruft

Schlag ewige Vergessenheit zusammen!

Sie fällt, mit einem kurzen Laut, übern Haufen.

Das Volk. Ihr Götter!

DER ERSTE CHERUSKER fällt ihm in den Arm.

Ungeheuer! Was beginnst du ?

EINE STIMME aus dem Hintergrunde.

Was ist geschehn ?

EINE ANDERE. Sprecht!

EINE DRITTE. Was erschrickt das Volk ?

DAS VOLK durcheinander.

Weh! Weh! Der eigne Vater hat, mit Dolchen,

Die eignen Vettern, sie in Staub geworfen!

TEUTHOLD indem er sich über die Leiche wirft.

Hally! Mein Einzges! Hab ichs recht gemacht?

Sechster Auftritt

Hermann und Eginhardt treten auf. Die Vorigen.

DER ZWEITE CHERUSKER.

1580              Komm her, mein Fürst, schau diese Greuel an!

HERMANN.

Was gibts?

DER ERSTE CHERUSKER.

Was! Fragst du noch? Du weißt von nichts?

HERMANN. Nichts, meine Freund! ich komm aus meinem Zelte

EGINHART. Sagt, was erschreckt euch?

DER ZWEITE CHERUsKER halblaut. Eine ganze Meute

Von geilen Römern, die den Platz durchschweifte,

Hat bei der Dämmrung schamlos eben jetzt –

HERMANN indem er ihn vorführt.

Still, Selmar, still! Die Luft, du weißt, hat Ohren.

– Ein Römerhaufen ?

EGINHARDT. Ha! Was wird das werden?

Sie sprechen heimlich zusammen. Pause.

HERMANN mit Wehmut, halblaut.

Hally ? Was sagst du mir! Die junge Hally ?

DER ZWEITE CHERUSKER.

Hally, Teutholds, des Schmieds der Waffen, Tochter!

– Da liegt sie jetzt, schau her, mein Fürst,      1590

Von ihrem eignen Vater hingeopfert!

EGINHARDT vor der Leiche.

Ihr großen, heiligen und ewgen Götter!

DER ERSTE CHERUSKER.

Was wirst du nun, o Herr, darauf beschließen?

HERMANN zum Volke.

Kommt, ihr Cherusker! Kommt, ihr Wodankinder!

Kommt, sammelt euch um mich und hört mich an!

Das Volk umringt ihn ; er tritt vor Teuthold.

Teuthold, steh auf!

TEUTHOLD am Boden. Laß mich!

HERMANN. Steh auf, sag ich!

TEUTHOLD. Hinwegl Des Todes ist, wer sich mir naht.

HERMANN. – Hebt ihn empor, und sagt ihm, wer ich sei.

DER ZWEITE CHERUSKER. Steh auf, unsel’ger Alter!

DER ERSTE CHERUSKER. Fasse dich!

DER ZWEITE CHERUSKER.

Hermann, dein Rächer ists, der vor dir steht.                 1600

Sie heben ihn empor.

TEUTHOLD. Hermann, mein Rächer, sagt ihr ? – Kann er Rom,

Das Drachennest, vom Erdenrund vertilgen ?

HERMANN. Ich kanns und wills! Hör an, was ich dir sage.

TEUTHOLD sieht ihn an.

Was für ein Laut des Himmels traf mein Ohr?

DIE BEIDEN VETTERN.

Du kannsts und willsts ?

TEUTHOLD.          Gebeut! Sprich! Red, o Herr!

Was muß geschehn ? Wo muß die Keule fallen ?

HERMANN. Das hör jetzt, und erwidre nichts. –

Brich, Rabenvater, auf, und trage, mit den Vettern,

Die Jungfrau, die geschändete,

In einen Winkel deines Hauses hin!                  1610

Wir zählen funfzehn Stämme der Germaner;

In funfzehn Stücke, mit des Schwertes Schärfe,

Teil ihren Leib, und schick mit funfzehn Boten,

Ich will dir funfzehn Pferde dazu geben,

Den funfzehn Stämmen ihn Germaniens zu.

Der wird in Deutschland, dir zur Rache,

Bis auf die toten Elemente werben:

Der Sturmwind wird, die Waldungen durchsausend,

Empörung! rufen, und die See,

1620    Des Landes Ribben schlagend, Freiheit! brüllen.

DAS VOLK. Empörung! Rache! Freiheit!

TEUTHOLD. Auf! Greift an!

Bringt sie ins Haus, zerlegt in Stücken sie!

Sie tragen die Leiche fort.

HERMANN. Komm, Eginhardt! Jetzt hab ich nichts mehr

An diesem Ort zu tun! Germanien lodert:

Laß uns den Varus jetzt, den Stifter dieser Greuel,

Im Teutoburger Walde suchen!

Alle ab.

Akt IV, Neunter Auftritt  

…      THUSNELDA mit steigender Angst.

Du Unbarmherzger! Ungeheuerster!

– So hätt auch der Centurio,                  1709

Der, bei dem Brande in Thuiskon jüngst

Die Heldentat getan, dir kein Gefühl entlockt ?

HERMANN. Nein – Was für ein Centurio ?

THUSNELDA. Nicht ? Nicht ?

Der junge Held, der, mit Gefahr des Lebens,

Das Kind, auf seiner Mutter Ruf,

Dem Tod der Flammen mutig jüngst entrissene –

Er hätte kein Gefühl der Liebe dir entlockte

HERMANN glühend. Er sei verflucht, wemı er mir das getan!

Er hat, auf einen Augenblick,

Mein Herz veruntreut, zum Verräter                1720

An Deutschlands großer Sache mich gemacht!

Warum setzt‘ er Thuiskon mir in Brand?

Ich will die höhnische Dämonenbrut nicht lieben!

So lang sie in Germanien trotzt,

Ist Haß mein Amt und meine Tugend Rache!

THUSNELDA weinend. Mehı liebster, bester Herzens-Hermann,

Ich bitte dich um des Ventidius Leben!

Das eine Haupt nimmst du von deiner Rache aus!

Laß, ich beschwöre dich, laß mich ihm heimlich melden,

Was über Varus du verhängt:                     1730

Mag er ins Land der Väter rasch sich retten!

HERMANN. Ventidius? Nun gut. – Ventidius Carboa

Nun denn, es sei! – Weil es mein Thuschen ist,

Die für ihn bittet, mag er fliehn:

Sein Haupt soll meinem Schwert, so wahr ich lebe,

Um dieser schönen Regung heilig sein!

THUSNELDA sie küßt seine Hand.

O Hermann! Ist es wirklich wahr ? O Hermann!

Du schenkst sein Leben mir ?

HERMANN. Du hörst. Ich schenks ihm.

Sobald der Morgen angebrochen,

1740       Steckst du zwei Wort ihm heimlich zu,

Er möchte gleich sich übern Rheinstrom retten;

Du kannst ihm Pferd aus meinen Ställen schicken,

Daß er den Tagesstrahl nicht mehr erschaut.

THUSNELDA. O Liebster mein! Wie rührst du mich! O Liebster!

HERMANN. Doch eher nicht, hörst du, das bitt ich sehr,

Als bis der Morgen angebrochen!

Eh auch mit Mienen nicht verrätst du dich!

Denn alle andern müssen unerbittlich,

Die schändlichen Tyrannenknechte, sterben:

1750       Der Anschlag darf nicht etwa durch ihn scheitern!

Akt V, Dreizehnter Auftritt

…      SEPTIMIUS.     (2195)     So ist es wahr ? Arminius spielte falsch ?

Verriet die Freunde, die ihn schützen wollten?

HERMANN. Verriet euch, ja; was soll ich mit dir streiten ?

Wir sind verknüpft, Marbod und ich,

Und werden, wenn der Morgen tagt,

Den Varus, hier im Walde, überfallen.             2200

SEPTIMIUS. Die Götter werden ihre Söhne schützen!

– Hier ist mein Schwert!

HERMANN indem er das Schwert wieder weggibt.

Führt ihn hinweg,

Und laßt sein Blut, das erste, gleich

Des Vaterlandes dürren Boden trinken!

Zwei Cherusker ergreifen ihn.

SEPTIMIUS. Wie, du Barbar! Mein Blut ? Das wirst du nicht -!

HERMANN. Warum nicht ?

SEPTIMIUS mit Würde. – Weil ich dein Gefangner bin!

An deine Siegerpflicht erinnr‘ ich dich!

HERMANN auf sein Schwert gestützt.

An Pflicht und Recht! Sieh da, so wahr ich lebe!

Er hat das Buch vom Cicero gelesen.

Was müßt ich tun, sag an, nach diesem Werke       2210

SEPTIMIUS. Nach diesem Werke Armsel’ger Spötter, du!

Mein Haupt, das wehrlos vor dir steht,

Soll deiner Rache heilig sein;

Also gebeut dir das Gefühl des Rechts,

In deines Busens Blättern aufgeschrieben!

HERMANN indem er auf ihn einschreitet.

Du weißt was Recht ist, du verfluchter Bube,

Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt,

Um uns zu unterdrücken ?

Nehmt eine Keule doppelten Gewichts,

Und schlagt ihn tot!                              2220

SEPTIMUS. Führt mich hinweg! – hier unterlieg ich,

Weil ich mit Helden würdig nicht zu tun!

Der das Geschlecht der königlichen Menschen

Besiegt, in Ost und West, der ward                  2223

Von Hunden in Germanien zerrissen:

Das wird die Inschrift meines Grabmals sein!

Er geht ab; Wache folgt ihm.

DAS HEER in der Ferne. Hurrah! Hurrah! Der Nornentag bricht an!“

Erschöpft, aber glücklich sinkt Edda in den Stuhl zurück. – Ich nehme ihr das Reclam-Heft aus der Hand und lege es auf das Pult zurück: „Bewunderswert, wie du an einem Wochenende nur diesen sperrigen Text auseinander reißen konntest ! Hermann steht so nackt vor mir wie die Think Tanks der Gegenwart. Aber eine Frage bleibt : ob Josias Löffler wohl vor zweihundert Jahren diese Zusammenhänge verstanden hat?“ – „Warum hat er dann, liebe Edda, unser braver Theologe und gelegentlich auch Feldprediger, diese Zeugnisse von Lug und Trug der Herrscher in einer Zeit der europäischen Kriege aufbewahrt ? Gibt es denn in dem Briefwechsel Kleists mit dem Wiener Heinrich von Collin Anzeichen und Gründe dafür?“

„Gut Chef, dann zum zweiten Teil meiner Ergebnisse der Weekend-Studien: mit Collin war Kleist mindestens seit dem Jahre 1804 in Kontakt. Aber die Leidenschaft für das Hermann-Varus-Thema können wir bei Kleist bis auf die Jahre 1801/1802 zurückverfolgen, ohne dass wir dafür theatergeschichtliche schriftliche Belege finden: Klopstock, Arndt, Karl Heinz Venturini, Johannes von Müller … Ich fand aber im Briefwechsel mit Adolfine von Werdeck, der späteren Frau von dem Knesebeck, einen interessanten Bezug zum Teutoburger Wald – schon aus dem Jahre 1801: „An Adolfine von Werdeck  [Paris und Frankfurt am Main, November 1801] 
– Also an dem Arminiusberge standen Sie, an jener Wiege der  deutschen Freiheit, die nun ihr  Grab gefunden hat? Ach, wie  ungleich sind zwei Augenblicke, die ein Jahrtausend trennt!  Ordentlich ist heute die Welt; sagen Sie mir, ist sie noch schön ?  Die armen lechzenden Herzen! Schönes und Großes möchten sie  tun, aber niemand bedarf ihrer, alles geschieht jetzt ohne ihr Zutun. Denn seitdem man die Ordnung erfunden hat, sind alle großen Tugenden unnötig geworden. Wenn uns ein Armer um eine  Gabe anspricht, so befiehlt uns ein Polizeiedikt, daß wir ihn in ein  Arbeitshaus abliefern sollen. Wenn ein Ungeduldiger den Greis,  der an dem Fenster eines brennenden Hauses um Hilfe schreit,  retten will, so weiset ihn die Wache, die am Eingange steht, zurück, und bedeutet ihn, daß die gehörigen Verfügungen bereits  getroffen sind. Wenn ein Jüngling gegen den Feind, der sein Vaterland bedroht, mutig zu denWaffen greifen will, so belehrt man  ihn, daß der König ein Heer besolde, welches für Geld den Staat  beschützt. – Wohl dem Arminius, daß er einen großen Augenblick fand. Denn was bliebe ihm heutzutage übrig, als etwa  Lieutenant zu werden in einem preußischen Regiment ?.“   
Edda scheint gerührt. Ich wende mich wieder dem Tableau und der ihrer Erklärung zu – „Die Briefe Kleists an Collin habe ich in Richtung Südosten postiert – dort, wo Wien liegt. Gehen wir davon aus, dass sich Kleist sporadisch ab 1801, dann systematisch ab 1808 mit dem Thema beschäftigt, kommen folgende Briefe in Betracht: Dresden 14. Februar 1808, Dresden, 2. Oktober 1808, Dresden, 8. Dezember 1808, Dresden, 1. Januar 1809, Dresden. 22. Februar 1809, Dresden, 20. und 23. April 1809. Hier nun chronologisch die Belegstellen – beginnen wir mit dem Februar 1808, als sich Kleist nach seiner Rückkehr aus der französischen Gefangenschaft nun in Dresden aufhält und weitgefaßte Pläne schmiedet:

An Heinrich Joseph von Collin

EW. Wohlgeboren

uns, mit so vieler Herzlichkeit gegebene, Versicherung, unser Kunstjournal, einer eignen Unternehmung gleich, zu unterstützen, hat mir sowohl, als H. Adam Müller, die größte Freude gemacht. Es geschieht, Ihnen einen Beweis zu geben, wie sehr wir jetzt auf Sie rechnen, daß wir unser Gesuch, uns mit einem Beitrag zu beschenken, gleich nach Empfang Ihres Schreibens noch einmal wiederholen. Es könnte uns, bei dem Ziel, das wir uns gesteckt haben, keine Verbindung lieber sein, als mit Ihnen, und so wenig es uns an Manuskripten fehlt: es liegt uns daran, daß Ihr Name bald im Phöbus erscheine. Da das Institut vorzüglich auch dazu bestimmt ist, von großen dramatischen Arbeiten, die unter der Feder sind, Proben zu geben, so würden uns Szenen aus Werken, die unter der Ihrigen sind, ganz vorzüglich willkommen sein. Doch auch für alles andere, was Sie uns geben wollen, werden wir dankbar sein; schicken Sie es nur gradezu an die hiesige Kaisl. Königl. Gesandtschaft, welche alle unsere wechselseitige Mitteilungen zu besorgen die Güte haben wird. Ich bin, außer der Penthesilea, von welcher ein Fragment im ersten Hefte steht, im Besitz noch zweier Tragödien, von deren einen Sie eine Probe im dritten oder vierten Heft sehen werden. Diese Bestrebungen, ernsthaft gemeint, müssen dem Phöbus seinen Charakter geben, und auf der Welt ist niemand, der in diese Idee eingreifen kann, als Sie. Das erste Werk, womit ich wieder auftreten werde, ist Robert Guiskard, Herzog der Normänner. Der Stoff ist, mit den Leuten zu reden, noch ungeheurer; doch in der Kunst kommt es überall auf die Form an, und alles, was eine Gestalt hat, ist meine Sache. Außerdem habe ich noch ein Lustspiel liegen, wovon ich Ihnen eine, zum Behuf einer hiesigen Privatvorstellung (aus der nichts ward) genommene Abschrift schicke. H. v. Goethe läßt es in Weimar einstudieren. Ob es für das Wiener Publikum sein wird? weiß ich nicht; wenn der Erfolg nicht gewiß ist (wahrscheinlich, wir verstehen uns) so erbitte ich es mir lieber wieder zurück. Es ist durch den Baron v. Buol  K. Chargé d’Affaires) der es sehr in Affektion genommen hatte, mehreremal dem H. Grafen v. Palfy empfohlen worden (nicht zugeschickt), – aber niemals darauf eine entscheidende Antwort erfolgt. – Von der Penthesilea, die im Druck ist, sollen Sie ein Exemplar haben, sobald sie fertig sein wird. – Sagen Sie mir, ums Himmelswillen, ist denn das I. Phöbusheft bei Ihnen noch nicht erschienene und wenn nicht, warum nicht? Wir sind sehr betreten darüber, von dem Industriecomptoir in Wien, dem wir es in Kommission gegeben haben, gar nichts, diesen Gegenstand betreffend, erfahren zu haben. Würden Sie wohl einmal gelegentlich die Gefälligkeit haben, sich danach zu erkundigen? Das zweite Heft ist fertig; und noch nicht einmal die Ankündigung ist in Wien erschienen! –

Ich hätte noch dies und das andere, das ich Ihnen schreiben, und worum ich Sie bitten möchte, doch man muß seine Freunde nicht zu sehr quälen, leben Sie also wohl, und überzeugen Sie sich von der Liebe und Verehrung dessen, der sich nennt

Dresden, den 14. Feb. 1808 Ihr H. v. Kleist. Pirnsche Vorstadt, Nr. 123

An Heinrich Joseph von Collin

EW. Hochwohlgeboren

habe ich die Ehre, hiermit die Penthesilea, als ein Zeichen meiner innigsten und herzlichsten Verehrung, zu überschicken, und damit ein Versprechen zu lösen, das ich Denenselben zu Anfange des laufenden Jahres gegeben habe.

Herr Hofrat Müller sowohl, als ich, wiederholen die Bitte uns, wenn die öffentlichen Verhältnisse ruhig bleiben sollten, gefälligst mit einem Beitrag für den Phöbus zu versehen.

Das Käthchen von Heilbronn, das ich für die Bühne bearbeitet habe, lege ich Ew. Hochwohlgeb. hiermit ergebenst, zur Durchsicht und Prüfung, ob es zu diesem Zweck tauglich sei, bei.

Indem ich noch bitte, mir, wenn es Ihren Beifall haben, und die Bühne es an sich zu bringen wünschen sollte, diesen Umstand gefälligst bald anzuzeigen, damit mit dem Druck, in Tübingen bei Cotta, der das Werk in Verlag nimmt, nicht vorgegangen werde, habe ich die Ehre mit der vorzüglichsten Hochachtung zu sein,

EW. Hochwohlgeboren ergebenster

Dresden, den 2. Okt. 1808 Heinrich v. Kleist. Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123

An Herrn Heinrich von Collin Hochwohlgeboren zu Wien.

Teuerster Herr von Collin,

Das Käthchen von Heilbronn, das, wie ich selbst einsehe, notwendig verkürzt werden muß, konnte unter keine Hände fallen, denen ich dies Geschäft lieber anvertraute, als den Ihrigen. Verfahren Sie ganz damit, wie es der Zweck Ihrer Bühne erheischt.

Auch die Berliner Bühne, die es aufführt, verkürzt es; und ich selbst werde vielleicht noch, für andere Bühnen, ein Gleiches damit vornehmen. – Wie gern hätte ich das Wort von Ihnen gehört, das Ihnen, die Penthesilea betreffend, auf der Zunge zu schweben schien! Wäre es auch gleich ein Wenig streng gewesen!

Denn wer das Käthchen liebt, dem kann die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein, sie gehören ja wie das + und – der Algebra zusammen, und sind ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht. – Sagen Sie mir dreist, wenn Sie Zeit und Lust haben, was Sie darüber denken; gewiß! es kann mir nicht anders, als lehrreich und angenehm sein. – Hier erfolgt zugleich die Quittung an die K. K. Theaterkasse. Ich schicke sieIhnen, teuerster Herr von Collin, weil es mir an Bekanntschaften in Wien fehlt, und die Güte, die Sie für mich zeigen, mich zu dieser Freiheit aufmuntert. Besorgen Sie gefälligst die Einziehung des Honorars, umd senden Sie es mir, da es Papiere sind, nur mit der Post zu, wenn sich keine andre sichre und prompte Gelegenheit findet. – Schlagen Sie es doch in ein Kuvert ein, an den Baron v. Buol, hiesigen K. K. Chargé d’affaire, so ersparen wir das Postgeld. – Ich verharre mit der innigsten Hochachtung, Herr von Collin,

Ihr ergebenster

Dresden, den 8. Dezmbr. 1808 Heinrich von Kleist.

Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123

An Heinrich Joseph von Collin

An den H. von Collin Hochwohlgeb. zu Wien.

Verehrungswürdigster Herr von Collin,

Sie erhalten, in der Anlage, ein neues Drama, betitelt: die Hermannsschlacht, von dem ich wünsche, daß es Ihnen gleichfalls, wie das Käthchen von Heilbronn, ein wenig gefallen möge.

Schlagen Sie es gefälligst der K. K. Theaterdirektion zur Aufführung vor. Wenn dieselbe es annehmen sollte, so wünsche ich fast (falls dies nochmöglich wäre) daß es früher auf die Bühne käme, als das Käthchen; es ist um nichts besser, und doch scheint es mir seines Erfolges sichrer zu sein.

Ich hoffe, daß Sie den, das Käthchen betreffenden, Brief, in welchem auch die Quittung enthalten war, durch Hr. v. Gentz, der ihn, von Prag aus, dem Hr. Pr[inzen] von Rohan nach Wien

mitgegeben hat, empfangen haben werden.

ln Erwartung einer gütigen Antwort verharre ich mit der in-

nigsten und lebhaftesten Hochachtung,

Herr von Collin Ihr ergebenster

Dresden, den I. Januar 1809 Heinrich v. Kleist.

Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123

An Heinrich Joseph von Collin

An Herrn Heinrich von Collin, Hochwohlgeboren zu Wien, fr.

EW. Hochwohlgeboren

habe ich, zu Anfang Dezembrs. v. Jahres, durch eine Gelegenheit, die Quittung über die bewußten 300 Guld. Banknoten, für das Manuskript: das Käthchen von Heilbronn und bald darauf die Abschrift eines zweiten Dramas: die Hermannsschlacht, durch eine andere Gelegenheit, ergebenst zugesandt. Da ich nicht das Glückgehabt habe, seitdem mit einer Zuschrift EW. Hochwohlgeb. beehrt zu werden, so bitte ich Dieselben inständigst, mir, wenn es sein kann, mit nächster Post, gefälligst anzuzeigen, ob diese beiden Adressen richtig in Ihre Hände gekommen sind ? Es würde mir, besonders um dieser letzten willen, leid tun, wenn die Überlieferung derselben, durch irgend ein Versehn, vernachlässigt worden wäre, indem dies Stück mehr, als irgend ein anderes, für den Augenblick berechnet war, und ich fast wünschen muß, es ganz und gar wieder zurückzunelhmen, wenn die Verhältnisse, wie leicht möglich ist, nicht gestatten sollten, es im Laufe dieser Zeit aufzuführen.

Ich habe die Ehre, mit der vorzüglichsten Hochachtung zu sein,

EW. Hochwohlgeb. ergebenster

Dresden, den 22. Feb. 1809 Heinrich V. Kleist.

Rammsche Gasse, Pirnsche Vorst. Nr. 12.3

An Heinrich Joseph von Collin

Teuerster Herr von Collin,

Die 300 fl. Banknoten sind in Berlin angekommen. Ich habe sie zwar noch nicht erhalten; doch kann ich Ihnen die Quittung darüber, nebst meinem ergebensten Dank, zustellen.

Ihre mutigen Lieder östr. Wehrmänner haben wir auch hier gelesen. Meine Freude darüber, Ihren Namen auf dem Titel zu sehen (der Verleger hat es nicht gewagt, sich zu nennen), war unbeschreiblich. Ich auch finde, man muß sich mit seinem ganzen Gewicht, so schwer oder leicht es sein mag, in die Waage der Zeit werfen; Sie werden inliegend mein Scherflein dazu finden. Geben Sie die Gedichte, wenn sie Ihnen gefallen, Degen oder wem Sie Wollen, in öffentliche Blätter zu rücken, oder auch einzeln (nur nicht zusammenhängend, weil ich eine größere Sammlung herausgeben will) zu drucken; ich wollte, ich hätte eine Stimme von Erz, und könnte sie, vom Harz herab, den Deutschen absingen.

Vorderhand sind wir der Franzosen hier los. Auf die erste Nachricht der Siege, die die Österreicher erfochten, hat Bernadotte sogleich, mit der sächsischen Armee, Dresden verlassen, mit einer Eilfertigkeit, als ob der Feind auf seiner Ferse wäre.

Man hat Kanonen und Munitionswagen zertrümmert, die man nicht fortschaffen konnte. Der Marsch, den das Korps genommen hat, geht auf Altenburg, um sich mit Davoust zu verbinden; doch wenn die Österreicher einige Fortschritte machen, so ist es abgeschnitten. Der König und die Königin haben laut geweint, da sie in den Wagen stiegen. Überhaupt spricht man sehr zweideutig von dieser Abreise. Es sollen die heftigsten Auftritte zwischen dem König und Bernadotte vorgefallen sein, und der König nur, auf die ungeheuersten Drohungen, Dresden verlassen haben.

Jetzt ist alles darauf gespannt, was geschehen wird, wenn die Armee über die Grenze rücken soll. Der König soll entschlossen sein, dies nicht zu tun; und der Geist der Truppen ist in der Tat so, daß es kaum möglich ist. Ob er alsdann, den Franzosen so nahe, noch frei sein wird? – ist eine andere Frage. – Vielleicht erhalten wir einen Pendant zur Geschichte von Spanien. – Wenn nur die Österreicher erst hier wären!

Doch, wie stehts, mein teuerster Freund, mit der Hermannsschlacht? Sie können leicht denken, wie sehr mir die Aufführung dieses Stücks, das einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet war, am Herzen liegt. Schreiben Sie mir bald: es wird gegeben; jede Bedingung ist mir gleichgültig, ich schenke es den Deutschen; machen Sie nur, daß es gegeben wird.

Mit herzlicher Liebe und Hochachtung,

Ihr

Dresden, den 20. April 1809 Heinrich v. Kleist.

Willsche Gasse, Löwenapotheke

N. S. Das sächsische Korps ist auf Wägen plötzlich nach Plauen und von da, wie es heißt, nach Zwickau aufgebrochen. Was dies bedeuten soll, begreift niemand. – Im Preußischen ist, mit der größten Schnelligkeit, alles auf den Kriegsfuß gesetzt worden. den 23. [April 1809]

Chef, ich brauche Tee oder Kaffee – Edda erlöst mich aus dem ungewohnten Status des passiven Zuschauers ihrer Performance.

Nach einer sehr, sehr langen Pause des Nachdenkens fasse ich die bemerkenswerten Ergebnisse der Edda-Wochenend-Recherchen zusammen – kurz und druckreif:

Verstehe ich recht – Grundidee, Konzept und erste Passagen der „Hermannsschlacht“ entwickelte Kleist im Winter 1809/1810 auf der Reise von Dresden nach Wien und tauschte vorläufige Gedanken darüber mit Josias Löffler bei seinem Aufenthalt in Gotha im Januar 1810 aus. Mit Wien verband Kleist die Hoffnung auf den baldigen Ausbruch eines siegreichen Volkskrieges gegen das napoleonische Frankreich, zu dessen „patriotischer“ Vorbereitung er seinen Beitrag leisten wollte. Der Wiener Dichter Heinrich Joseph Collin, dem er in einem Brief aus Gotha das Bühnen-Schicksal des Stückes, das er ihm vor Monaten zugeschickt hatte, nochmals ans Herz legte, ist ihm seit Jahren als Autor auch von den Berliner Theatern bekannt. Die Dringlichkeit seines Anliegens begründet Kleist in mehreren folgenden Briefen mit der politischen Lage, mit der Notwendigkeit, die deutsche Nation unter Führung Österreichs und Preußens moralisch und gefühlsmäßig für den bevorstehenden Krieg gegen Napoleon aufzurüsten. Inwieweit der Theologe Josias Löffler die fanatische, militante Haltung des Dichters Heinrich von Kleist teilte, wird aus den Notizen nicht ersichtlich; aber dass er jene Passagen aus dem Stück, die voller chauvinistischem Hass,  propagandistischem bellizistischem Trommelfeuer, voller taktischer Anweisungen zu „kriegsbedingten“ Lügen, Fälschungen, Kriegsverbrechen, Desinformationen stecken, nicht billigen kann, sollten wir annehmen.
Es waren insbesondere die folgenden Szenen, die wir gemeinsam erlebt haben – leider gibt es keine Quellen, die uns sagen, ob, wann und wie Löffler und sein „Zögling“ Kleist sich darüber ausgetauscht haben.

Vorstellen können wir uns aber, wie in jene Periode der Rückkehr des Theologen Löffler ins ruhigere Berliner Leben, der Monate und Jahre des brieflichen Austauschs mit den Freunden in Neuruppin und Breslau der Wunsch nach einer gesicherten Stellung an einer guten Schule oder gar Universität von ihm Besitz ergreift.

Dieter Weigert, Berlin Prenzlauer Berg 7. August 2023

(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)

Für Interessenten:

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