Folge 14 Guilielmo Gabriele und Alexander
Der Morgen beginnt mit einer unbedeutenden Frage, deren Suche nach einer befriedigenden Antwort aber sich über drei Tage hinzieht. – Liebe Edda, Sie haben doch zwei Bemerkungen, zwar nicht zusammenhängend, auf den ersten Blick auch weit voneinander entfernt, mir in den letzten Wochen auf den Tisch gelegt. Beim Nachdenken und Schreibtisch-Aufräumen gestern abend fand ich die beiden Notizen, bemühte mich um getrennte Wege der Antwort, stieß aber durch Gehirnakrobatik auf eine bisher verschlossene Trenntür, deren goldenes Schlüsselchen wie von Gottes Hand heute morgen vor meiner Nase baumelte, eingraviert ein Name: Guilielmo! Diese Tür sollten wir heute gemeinsam öffnen und zwei getrennte Rätsel um die Frankfurter Periode der Person Josias Löffler in einer einzelnen Aktion lösen. Einverstanden ? Edda stand der Mund offen, sie verstand absolut nichts.
Ich las ihr die beiden kurzen Texte vor, die sie mir vor einiger Zeit communiziert hatte:
Erstens – War Josias Löffler wirklich der Verfasser der folgenden wissenschaftlichen Arbeit : „Marcionem Paulli epistolas et Lucae evangelium adulterasse dubitur. Diss. Auctore D. Iosia Frid. Christi. Loeffler, Traiecti ad Viadrum 1788” ?;
Zweitens – gibt es Belege für homo-erotische Abenteuer des Viadrina-Studenten Alexander von Humboldt im Jahr 1788 ?
Die Überraschung war Edda an der Nasenspitze ablesbar – wie weggeblasen waren diese Fragen aus ihrem Gedächtnis, schien es. Nun aber sollte sie aus dem Nichts mittun an der Lösung, die sich gruppiert um jenen fremdländischen Namen , Guilielmo? – Edda, ich sehe, daß du aus dem Stegreif die Zusammenhänge, die dich damals zu den beiden Fragen geführt haben, heute nicht mehr hervorholen kannst. Ich werde versuchen, meine inzwischen gefundenen Puzzle-Teile auf den Tisch zulegen – durch Hin- und Herschieben kommen wir gewiß der Sache nahe !
Da ist also jener lateinische Titel und die Hintergründe der detaillierten historischen Studien und Publikationen Professor Josias Löfflers zum Neuen Testament, zu den Widersprüchen in den Werken der Kirchenväter, zu den echten und falschen Evangelisten seit seiner Zeit in Halle an der Saale:

Edda kann ihre Blicke nicht von jenem Buch loßreisen – eigentlich mehr ein Büchlein, eingebunden in hellbraunes Leder, das ich in den Händen halte. – Haben Sie etwas dagegen, Edda, wenn wir uns diesem Büchlein in Gänze widmen? – Bester Chef, ein für allemal, Sie sollten mich durchgehend duzen, nicht nur dann und wann, sondern permanent!!! Aber wie ist es Ihnen gelungen, aus den heiligen Beständen unsrere Bibliotheken dieses Exemplar herauszuschmuggeln? Ich hatte weniger Glück! -Edda, du überschätzt meinen Einfluß! So etwas gelingt auch mir nicht in ganz Mitteldeutschland. Die Sache ist einfacher – irgendein vermutlicher finanziell in der Klemme sitzender oder an das Ende seiner irdischen Existenz angelangter Mensch bot das gute Stück bei ebay an, ich schlug zu – über die Summe möchte ich nicht sprechen. Es ist jetzt mein Eigentum !!! Als ich das Angebot entdeckte und im Titelblatt den Namen Löffler und die semantische Nähe zum Thema Ehebruch erkannte, war kein Halten. – Chef, wie kommen Sie auf Ehebruch? – Aber liebe Edda, habe ich versäumt auf meine jugendlichen Träume vom Medizinstudium und die Versuche in Latein hinzuweisen? Daraus ist nichts geworden, sonst säßen wir nicht hier. – Edda blickt verwirrt vom Text hoch – „Wie kommen Sie auf Ehebruch? Auch ich durfte mich vor Jahren am Latein versuchen, vielleicht eine andere Variante als die für angehende Mediziner! Ich muss Sie enttäuschen, das verlockende adulterare steht hier nicht für ehebrechen, sondern für fälschen! Das hat uns die damalige Latein-Lehrerin an lustigen Beispielen eingebleut – Ehebruch sei Betrug und im Wort für Fälschen stecke eben das Betrügen !! – Aber ich liege doch richtig, Edda, wenn ich den Begriff Zweifel entdecke – Aber ja doch, Chef, Ich würde versuchsweise so formulieren: Man bezweifelt daß ein gewisser Marcion die Paulus-Briefe und das Lukas-Evangelium gefälscht habe! – Damit kann ich nichts anfangen, beende ich die kurze Debatte – ich bitte dich jedoch, liebe Edda, angesichts der Brisanz des Textes für das Verständnis der theologischen Positionen Löfflers, daß du dir den gesamten Text vornimmst und eine Rohübersetzung anfertigst – reichen 3 Tage? Ich bin ungeduldig.“
Sie nickte und zog sich in einen stillen Winkel zurück – unterm Arm einen dicken Wälzer, das Latein-Wörterbuch für Theologen.
Pünktlich am Morgen des vierten Tages saß Edda vor mir, rote vielversprechende Ohren, leuchtende Augen, auf dem Stuhl vor Erregung hin- und herrutschend: „Es ist eine Sensation in jeder Hinsicht, Chef! Erstens war Löffler ein Typ, der zuließ, dass studentische Arbeiten unter seinem Namen veröffentlicht wurden! Und zweitens war der Verfasser der Texte ein intimer, möglicherweise schwuler Freund des großen Alexander von Humboldt, ein gewisser Wilhelm Gabriel Wegener. Und drittens liegt da im Buch ein Zettelchen, der belegt, dass sich unser Josias auch mit dem Schicksal meiner sündigen und büßenden Lieblingsheiligen Maria Magdalena beschäftigt hatte. So interessant es wäre, aber ich habe nicht vor, den gesamten Gehalt der Semesterarbeit des von Professor Löffler betreuten Studenten Wegener hier vorzutragen. Es gibt Wichtigeres zu bereden !

Ich spüre fast körperlich, wie die Blitze zwischen meinen kleinen grauen Zellen hin- und hersausen – Edda, hatten wir nicht etwas über Maria Magdalena ? – Aber ja, im Zusammenhang mit der Periode Löfflers in der Residenz Berlin, sein Besuch bei Spalding ! Später könnte man das Thema noch einmal aufgreifen – wie auch die Personalia der Evangelisten, wie ich sie nenne: die „Persönlichen Sekretäre und Vollender“ – Markus und Lukas !

Und da sind die Hinweise bei verschiedenen Germanisten, Heimatforschern, „modernen“ Erotik-Analytikern zu den Männer-Freundschaften des Studenten, Wissenschaftlers und reisenden Naturforschers Alexander von Humboldt, darunter fiel auch der Name Wilhelm Gabriel Wegener aus Frankfurt an der Oder.
Hier ein technisch schlechtes Porträt, es war das einzige Exemplar, das ich auftreiben konnte:


Wilhelm Gabriel Wegener (10.3.1767-16.11.1837) erlebte wie sein älterer Bruder Georg Jacob Ludwig (1757-1840), sein jüngerer Bruder August Daniel (1769-1829), seine Schwestern Georgine Friederike (1754-1784), Dorethea Elisabeth (1759-1817), Sophie Elisabeth (*1763) und seine weiteren drei, früh verstorbenen Geschwister, die Kindheit in Hohenlübbichow in der Neumark (polnisch Lubiechów Górny) im Hause des Pfarrers Balthasar Friedrich Wegener (1731-1800) und dessen Gattin Georgine Marie Catharine, geb. Fröhlich (1728-1793).

Wilhelm Gabriel wurde teils vom Vater, teils von Hauslehrern unterrichtet. Die Pfarrer-Perspektive war vorbestimmt! Ab Oktober 1782 besuchte er dann das Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Drei Jahre später folgte ihm Bruder August Daniel dorthin nach. Beide wohnten beim ältesten der Brüder G.J. Ludwig, der seit 1782 das Amt des Feldpredigers beim Berliner Regiment Gens d’armes innehatte, also Nachfolger des nach Frankfurt an der Oder übergesiedelten Josias Löffler war. lm Herbst 1785 bezog Wilhelm Gabriel die Universität Viadrina, studierte auf Wunsch des Vaters Theologie, sein bedeutendster akademischer Lehrer wurde Professor Josas Löffler. Unter seinen Studienfreunden der engste wurde, wie er in einer Selbstbiographie überliefert hatte, Alexander von Humboldt (1769-1859), mit dem er, wie in dessen Jugendbriefen zu lesen ist, am 13. Februar 1788 den heiligen Bund der Freundschaft schloss. Dieses besondere Kapitel verdient eine längere Darstellung: Beide Humboldt-Brüder wohnten zur Untermiete in Frankfurt im Hause des Professors und Pfarrers bei St. Marien, Josias Löffler, hatten als Adelige (niedere !) keinen besonderen Statur, waren voll integiert in das studentische Leben und in die gemeinschaftliche Lösung der wissenschaftlichen Aufgaben. Die Zeit war knapp und mußte effektiv genutzt werden, deshalb diskutierten die Humboldt-Brüder und der Student Wegener in den Monaten des Frankfurt-Aufenthalts unter Anleitung von Josias Löffler ein Thema, das dem auf ein Stipendium angewiesenen Pfarrerssohn Wilhelm Gabriel für eine dafür ausgesuchte Belegarbeit einschließlich in Latein geführter öffentlicher Disputation angepaßt war: Waren die Fremsprachen, in denen sich die Apostel verständigten, eine besondere Wundergabe oder nicht doch aus dem historiuschen Zusammenhang der damaligen Verhältnisse erklärbar – ohne Offenbarung! Die Arbeit war fast fertiggestellt, als in Berlin im Juli 1788 das berüchtigte Religions-Edict der konservatiben , Aufklärungsfeinde im Umkreis des neuen Königs Friedrich Wilhelm II. erschien und der Wissenschaft scharfe politische Grenzen setzte. Um das Stipendium nicht zu gefährden, mußte die Freunde das Thema wechseln – daher das Ausweichen auf die „ungefährliche“ Marcion-Kritik, auf die ich hier nicht in aller Breite eingehen kann. Wer möchte, kann in der Autobiographie von Wegener die Details nachlesen. Über die Komplikationen von Wilhelm Gabriels Studienabschluss erfahren wir Näheres aus einem mit vielen Abbildungen illustrierten „Familienbuch“, das von dem Vater des Naturforschers Alfred Wegener, Franz Richard Wegener (1843-1917 in seinen letzten Lebensjahren niedergeschrieben wurde: „Nach Absolvierung seines Studiums in Frankfurt verfaßte er eine theologische Dissertations-Schrift, die er am 17. September 1788 öffentlich verteidigte. Sie ist betitelt: ,Marcionem Paulli epistolas et Lucae evangelium adulterasse dubitatur‘ (Es wird bezweifelt, ob Marcion die Briefe des Paulus und das Lukas-Evangelium gefälscht habe). Wir können auf den Inhalt der Schrift, die in lateinischer Sprache verfaßt ist, nicht näher eingehen. In der theologischen Literatur findet man sie zuweilen als eine Löfflersches Schrift bezeichnet. Die Disputation fand unter dem Vorsitz von Johann Friedrich Christian Löffler statt.
Wie aus dem Archiv des Frommann-Verlages hervorgeht, gehörte der Student Wegener zu dem Freundeskreis, die dem scheidenden Professor Löffler im Februar und Oktober 1788 kunstvoll gestaltete mit allen Unterschriften (u.a. der Brüder Humboldt und des aus dem Kleist-Briefwechsel bekannten Christian Ernst Martini) versehenen Abschiedsmappen schenkten. Das ist der Hintergrund der außerordentlich engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Wilhelm „Guilielmo“ Gabriel Wegener und Alexander von Humboldt, deren Intimität auch aus den veröffentlichten Briefen herausgelesen werden kann – erstmals erschienen 1896 in Leipzig unter dem Titel „Jugendbriefe Alexander von Humboldts an Wilhelm Gabriel Wegener“, herausgegeben von Albert Leitzmann, der sich ausgiebig mit den Details der Lebensläufe beider Freunde beschäftigte und damals der neugierigen Leserschaft viele Novitäten bot. Für uns heute liegt die Überraschung dieser Brieftexte weniger in der Intimität der freundschaftlichen Beziehung, sondern im hohen wissenschaftlichen Standard – Griechisch und Latein vorausgesetzt !!!:

Wilhelm Gabriel Wegener wurde nach erfolgreich beendetem Studium 1789 Feldprediger beim Regiment Gens d’armes in Berlin (und somit der Amtsnachfolger seines Bruders G. J. Ludwig) sowie 1795 Superintendent und Oberpfarrer in Züllichau.
Die Humboldt-Episode hatte für Wegener ein politisches Nachspiel. Da Wilhelm Gabriel wie auch seine Brüder und mit ihnen alle preußischen Geistlichen freierer Denkungsart unter dem Woellnerschen Regime auch weiterhin mancherlei Schikanen und Drangsalierungen durch die Königl. Geistliche lmmediat-Examinations-Commission erfahren mussten, war es ihnen, eine besondere Genugtuung, sich eine Abschrift der Ordre des Königs Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) an den Minister Woellner vom 12. Januar 1798 zu verschaffen, die mit den Worten beginnt: „Die Deutung, welche Ihr meiner Ordre vom 23 Nov. v. J. in Eurem unterm 5 Dez. an die Consistoria erlassenen Reskripte gegeben habt, ist sehr willkürlich, indem in meiner Ordre nicht ein Wort vorhanden ist, welches nach gesunder Logic zur Einführung des Religions-Edikts hätte Anlaß geben können“, und in der es weiter heißt: „Ihr seht hieraus, wie gut es sein wird, wenn Ihr bei Euren Verordnungen künftig nicht ohne vorherige Beratschlagung mit den geschäftskundigen und wohlmeynenden Männern, an denen in Eurem Departement kein Mangel ist, zu Werke geht.“
Johann Christoph von Woellner (1732-1800) war 1788, zwei Jahre nach dem Tod von Friedrich ll. (dem Großen, „dem Alten Fritz“; 1712-1786), unter dessen Neffen Friedrich Wilhelm ll. („dem Dicken Wilhelm“; 1744-1797) zum Staats- und Justizminister und Leiter des geistlichen Departements in Preußen aufgestiegen. Dem Religionsedikt vom 9. Juli 1788, das dem Einfluss des Gedankenguts der Aufklärung Einhalt gebieten sollte, folgte am 19. Dezember 1788 das Zensuredikt. Woellner seinerseits war zugleich Mitglied des geheimen Ordens der „Gold- und Rosenkreuzer“.
Zwei Monate später wurde Woellner ohne Pension entlassen. Ein Gemälde, das Woellner im Ornat der Rosenkreuzer zeigt, ist in der Sammlung der Burg Beeskow zu sehen.
Eine Ergänzung zu diesen Darstellungen ist nötig: Verbunden mit der Berufung an die Oder-Universität Frankfurt war traditionell die Ernennung zum Prediger an die Hauptkirche der Stadt, St.Marien (auch als Oberkirche bezeichnet) durch den Magistrat der Stadt. Als Josias Löffler die Bestallungsurkunde zu dieser Stelle erhält, findet er nicht nur gute Bedingungen für die seelsorgerische Tätigkeit, interessante und ihm freundschaftliche gesonnene Kollegen vor, sondern auch eine reichlich ausgestattete wissenschaftliche Bibliothek vor mit einem Bestand von etwa 2400 Büchern, wie der Frankfurter ordentliche Professor für Geschichte und Rektor der Viadrina, Carl Renatus Hausen in seiner „Geschichte der Universität und Stadt Frankfurt an der Oder seit ihrer Stiftung und Erbauung, bis zum Schluß des achtzehnten Jahrhunderts, größtentheils nach Urkunden und Archiv-Nachrichten bearbeitet“ (2. Auflage, Frankfurt/Oder 1806, S.131) schreibt. Diese Bibliothek erfüllt die Rolle einer „Ministerial-Kirchen-Bibliothek“ für die anderen Frankfurter Kirchen, ist also einer der wichtigsten wissenschaftlichen Arbeitsplätze für die Geistlichen, Studenten, Lehrer, Offiziere und kulturell Interessierten der Stadt neben der seit 1516 bestehenden Bibliothek der Universität und anderen Privatbibliotheken.
Dr. Dieter Weigert 20. August 2023 Berlin Prenzlauer Berg
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