Folge 10 Freunde in Neuruppin und Breslau – Nachlese des Kartoffelkrieges – Wien – Kleists Arminius
Für den Theologen Josias Löffler bringt das Jahr 1779 den ersehnten Frieden, die Rückkehr vom „Kartoffelkrieg“, vom Elend der Opfer, von Trauer und Leid, aus Schlesien und Böhmen nach Berlin, aber nicht sofort die Befreiung vom Militärdienst.

Noch ist er Feldprediger im königl.-preuß. Kürassier-Regiment Nr. 10 der Gens d’armes, ich wiederhole die wenigen Worte aus seinem Tagebuch, mit denen er knapp die Zwitterstellung beschreibt, die Unterstellung als Militärgeistlicher und als ziviler Theologe auf der „Warteliste“ des Berliner lutherischen Oberkonsistoriums, doppelt also König Friedich II. verpflichtet:
„Hierauf kehrte er mit dem Regiment 1779 nach Berlin zurück. Hier widmete er sich, bey einem sehr leichten und geschäftsfreyen Amte, bey dem er oft bedauerte, daß es ihm nicht mehr bestimmte Arbeiten auflegte (weil es einem jungen Manne, zumal in der Hauptstadt, zu schwer sey, ohne äußerliche Veranlassungen und Nöthigungen, sich selbst auf eine befriedigende Art zu beschäftigen) theils dem Unterrichte junger Leute in der alten Litteratur, theils der Aufholung dessen, was er während des Jahres, in welchem er von der Litteratur ganz getrennt war, versäumt hatte; theils dem Umgang mit den Studierenden. Und nun kehrte bey ihm der Wunsch zurück, Lehrer der Wissenschaften, wenn möglich auch einer Universität zu seyn.“
Wir sind glücklich, in den nachgelassenen Papieren des Theologen Josias Löffler ein Blatt in seiner eigenen Handschrift gefunden zu haben, die Auskunft geben über seine Stimmung und Gefühle am Ende des Militäreinsatzes genau ein Jahr nach dem Ausmarsch aus Berlin:

Die wichtigsten Passagen, mit kleineren Lücken transkripiert:
Den 21 ten April 1779 „Heute ist es gerade ein Jahr, daß ich meine Reise aus Berlin antrat, um in eine Lebensart zu treten, die voller Unruhe, Zerstreuungen und derjenigen ganz entgegengesetzt war, die ich bisher geführt hatte. So lehrreich dieses Jahr für mich gewesen, so mannigfaltig die Erfahrungen, die ich darin gemacht, so wünschte ich doch einen ruhigeren Zeitpunkt und freue mich zu der Hoffnung des wiederkehrenden Friedens um wieder zu meiner vorigen Lebensart zurückzukehren, und mich wieder auf die Wissenschaften zu legen, die mich zur Führung meines Amtes geschickter und zu einem brauchbaren Menschen machen.
Wenn ich bedenke, daß der Werth des Menschen und die Zufriedenheit mit sich selbst lediglich oder größtentheils aus der regelmäßigen Thätigkeit entspringt, in der er seinen Geist erhält und durch die er der Welt nützlich wird, so wird dieser Wunsch um so lebhafter, je mehr ich bis jetzt in Zerstreuungen lebe, die den Geist allmählich von planvoller Geschäftigkeit entwöhnen, und ihm seine Festigkeit und gleichsam seine Consistenz rauben, daß er gleich dem Waßer über der Oberfläche der Dinge hin und her schwimmt.
Es scheint, daß mich diese Veränderung meiner Lebensart nicht weiter stört, so bald ich meinen Geist zu seiner Thätigkeit wiedergewöhne.
Aber ich muß mich grämen, wenn die Flüchtigkeit und Unruhe ihm eigen bleibt, die ihn bisher hin und her geworfen hat.
Der Honigsucher ist sich nur alsdann nützlich, wenn er gleich der Biene, die von einer Blume zur anderen fliegt, auch jene brauchbaren Säfte fängt und setzt ihrer Leistung und ihrer Lebensart getreu alles in Honig ansammelt – unter seinen Arten herumflattern von Städten zu Städten, und von Menschen zu Menschen, immer Nahrung für seinen Geist, für sein Herz, und für die Kunst sammelt, der sein Werk ist und wodurch er der Welt nützlich werden soll – Ein Tageslauf in dem am Abend des Tages wenn er das was er gesehen, gehört, gedacht hat, alles vor dem Auge seines Geistes vorüberziehen läßt, alle seine Mittel, Zweck und Vorteil nicht zu verlieren, den ihm diese neue Lebensart darbietet. „
Es sind Hilfeschreie, und es sind Reflektionen, die er seinen Freunden aus der Hallischen Zeit, Stuve und Lieberkühn, in Briefen mitteilt. In der Folge 8 dieser Serie erwähnte ich die beiden Freunde aus der Studienzeit, die nun als Pädogogen eine Stelle gefunden hatten, um die Josias Löffler sie beneidete – Philipp in Neuruppin, Johann in Breslau. Aus seiner Sicht waren seine beruflichen Voraussetzungen nicht schlechter als die der Freunde, sie hatten aber mehr Glück. Wir finden in den Papieren des Komvoluts Hinweise darauf, wie modern die pädogogischen Auffassungen der drei Hallischen Ansolvenen waren:
Für die moderne, den sachkundlichen Bedürfnissen des bürgerlichen Berufes der Schüler zugewandte Pädagogik der drei Freunde, spricht auch Löfflers Geschenk an die Schule in Neuruppin (siehe Philipp Julius Lieberkühns, gewesenen Rektor am Elisabethanischen Gymnasium zu Breslau Kleine Schriften …, herausgegeben von Ludwig Friedrich Gottlob Ernst Gedike, Züllichau und Freystadt 1791, S. 55) – „den Köhlerschen Atlas der alten Geographie“ (vermutlich handelte es sich um die wertvolle Edition aus dem Jahre 1720, erschienen bei Christoph Weigel in Nürnberg unter dem Titel „Descriptio orbis antiqui in XLIV tabulis exhibita. Atlas Manualis Scholasticus et itinerarius“)
In einem Begleitschreiben wird Josias geschichtsphilosophisch: der Atlas des Altdorffer Universitätsprofessors Johann David Köhler regt ihn an zum Träumen in globaler oder zumindest europäischer Tragweite.
Dieses Schreiben ist leider nicht erhalten, aber den Dankesbrief von Philipp Julius Lieberkühn und zwei weitere Briefe konnte ich im Archiv von Neuruppin ausfindig machen. Aus ihnen las ich zu meiner Verblüffung heraus, dass es eine weltanschauliche Debatte zwischen Philipp und Josias über das Thema China und Europa gegeben hat.
Es stellt sich heraus, dass Lieberkühn ein glühender Bewunderer Köhlers war, der in seinen letzten 20 Lebensjahren eine Geschichtsprofessur in Göttingen innehatte und in Halle unter den Studenten wegen seiner gediegenen Kenntnisse in der Genealogie, der Heraldik und der Geschichte der Münzen beliebt war. Philipp Lieberkühn bezog sich in seinen Briefen auf die China-Beiträge in dem genannten Atlas, wandte sich aber kritisch gegen Köhler, weil er im populären Bilderatlas mit Hunderten von Kupferstichen zur Geschichte unter dem Titel „Gedächtnis-Hülfliche Bilder-Lust der Merkwürdigsten Welt-Geschichten Aller Zeiten“ von 1726 die asiatischen Länder östlich Persiens und Palästinas nicht behandelte.
Aber dafür finde ich unter den Papieren des Lieberkühn die 11-seitige Schrift: Joseph Moxon, Hamburg 1676, „kurtzer Diskours von Der Schiff-Fahrt bey dem Nord-Pol Nach Japan / China / und so weiter. Durch drey Erfahrungen dargethan und erwiesen/ nebenst Beantwortungen aller Einwürffe/ welche wieder die Fahrt auff diesem Weg können eingewendet worden; Als 1. Durch eine Schiffahrt von Amsterdam in den Nord-Pol. 2. Durch eine Schiffahrt von Japan / nach den Nors-Pol. 3. Durch einen Versuch den der Großfürst in der Moskau thun lassen/ wodurch erscheinet / daß gegen Norden von Nova Zembla eine frey und offene See ist biß nach Japan China und so weiter Sampt einer Land-Charte so alle Länder nechst dem Polo anweiset. Aus dem Englischen ins Hochdeutsche übersetzet.“ (mit Karten) Aber auch dieses schöne Stück der Sammlung zu orientalischen Themen leidet, wie die Freunde meinen, an „Schwindsucht“, wenn es um China geht.
Philipp kennt sich aus, er hatte sich auch intensiv mit Leibniz beschäftigt, seinen Briefwechsel mit den Jesuiten gelesen und war auf den Würzburger Jesuitenpater Kilian Stumpf gestoßen. Philipp war ein Leibnizianer, von den im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts erschienen Novissima Sinica hatte er gehört, sie aber leider nicht zu Gesicht bekommen.
Ich suche verbissen in dem Papierbündel nach weiteren Zeugnissen der Beschäftigung der beiden „Neuruppiner“, wie ich sie nenne, mit der chinesischen Philosophie und Theologie, – aber vergeblich. Keine weiteren Briefe. Aber als ich schon diese Spur verlassen wollte, geriet mir ein zusammengeheftetes dreiblättriges Stück mit verblassten Tintennotizen in die Finger – nach einem Handschriftenvergleich aus der Feder von Philipp Lieberkühn. Es waren nicht abgeschickte Briefentwürfe.
Soweit ich bisher verstand, hatten die drei Freunde zu ihrer Hallenser Zeit auch das Thema China ausführlich diskutiert, Leibniz‘ Briefwechsel mit den Jesuiten entdeckt und mit Bedauern festgestellt, dass es unter den europäischen protestantischen Fürsten kein Interesse gab an der Unterstützung von Missionen nach China. – Sie empfanden diese Haltung kleinkariert, borniert, suchten nach Wegen, wie sie als künftige Akademiker mithelfen könnten, die Überzeugungen der Fürsten zu verändern. Vermutlich stammten die gefundenen Notizen aus dieser Periode. Heute und morgen jedoch ist nicht die Gelegenheit, sich mit diesem anregenden Thema zu beschäftigen, die Aktivitäten unseres Theologen Josias nach seiner Rückkehr aus dem Kriege haben Vorrang.
Edda ist zurück , aus dem freien Vormittag ist eine halbe Woche geworden. Ihr Geschenk für mich: ein Sack voller Fragen und Anregungen, ein großer Umschlag mit Karten, Abbildungen, Zeichnungen. Zu meiner Verblüffung legt sie wortlos ein handgeschriebenes Blatt auf meinen Tisch, das nur eine Zeile enthält:
Wie fühlte er sich, der Propagandist des Krieges?
Wir sind sofort in einer heißen Debatte – war Josias Löffler ein Pazifist? Hat er sich grundsätzlich, philosophisch zu Krieg und Frieden, Gewalt und Toleranz geäußert? Edda bringt Heinrich von Kleist wieder ins Gespräch, auch wenn der Dichter und Leutnant in den Jahren des Kartoffelkrieges noch in den Armen der Amme des Nonnenwinkels lag. Es wäre dennoch von Nutzen, die Reflektionen des Feldpredigers mit den späteren Haltungen des Dramatikers z.B. im Arminius-Stück zu vergleichen.
Ich verberge meine Verwunderung darüber, mit welcher gedanklichen Tiefe, vermutlich durch nächtliches Studium erreicht, Edda aus Ihrer mehrtätigen „Büro-Diaspora“ zurückgekommen ist und versuche, durch geschicktes Fragen diese Hintergründe zu verstehen.
Sie verweist locker auf Wien, auf den Schriftsteller Collin. Den habe sie ohne großes Aufsehen nebenbei in den Tagen vor ihrem Privat-Rückzug in einem Regal entdeckt. Angriffslustig lenkte sie die Unterhaltung auf jene Passagen im Arminius-Stück, in denen Kleist dreißig Jahre nach den Kartoffelkriegs-Erfahrungen des väterlichen Freundes Josias Löffler die Lüge, die Tatsachen-Verdrehungen, die Fälschungen und das gesamte System der Propaganda zum legitimen Instrumentarium des Heerführers und seiner Offiziere erklärt.
– Und was hat jener Collin damit zu schaffen?
– Ohne Collin wäre das Stück nicht in dieser Gestalt entstanden! Edda macht es Freunde, mich auf dem falschen Fuß zu erwischen und tanzen zu lassen.
Ich lasse mich auf ein Gefecht mit den leichten Waffen ein, wähle das Florett, lehne Säbel und Degen ab:
– liebe Edda, darf ich auf jene mustergültige Predigten unseres Josias verweisen, in denen er Texte aus dem Alten und Neuen Testament als Belegstücke für die innere Widersprüchlichkeit der christlichen Religion in diesen Fragen anführt ? Wohin schlägt aus deiner Sicht das Pendel aus ?
Auch ich bin gut vorbereitet: Ich greife wie zufällig in die Buchreihe hinter mir, in den letzten Wochen sogfältig mit Drucken aus der Feder von Josias Löffler gefüllt, bitte Edda, Seite 153 des gut erhaltenen, goldbestückten Exemplars „Predigten Zweyter Band“ aufzuschlagen:

Die darin enthaltene Rede zum Gedächtnis Friedrich II. vom 10. September 1786, S. 153 ff, springt und sofort in die Augen. Obwohl zu ihrem Verständnis eigentlich die Darstellung der professoralen Jahre des Theologen in Frankfurt an der Oder eine wichtige Voraussetzung wären, sollten und müssten wir sie schon heute studieren, d.h. uns den Positionen Löfflers zur christlichen Friedenslehre widmen – sozusagen als Nachlese zu den schmerzlichen Erfahrungen im sogenannten Kartoffelkrieg !
Der Text ist gruppiert um ein Zitat aus dem Alten Testament: 1. Chronik XVII, 8: „Ich habe dir einen Namen gemacht, wie die Großen auf Erden Namen haben“ (S. 157)

Für Josias Löffler ist Friedrichs Name identisch mit der allgemein-menschlichen Friedenssehnsucht: Frieden: „… diese Aufopferung für das allgemeine Beste bewies er aber nicht bloß in diesem oder jenem Theile der Staatsverwaltung, sondern überall; … bey der Beschützung und Vertheidigung seiner Länder, im Kriege nicht minder, als in der Ruhe des Friedens – … (S. 161)

„Er argumentiert mit den Zweiflern: „Es ist wahr, er führte drey Kriege – denn im vierten bewegte Er nur Sein Heer, um den Frieden zu erhalten – … Verheerende Kriege und blutige Schlachten konnten dem guten Könige keine Freude seyn, der so gern sein Land in blühenden Stand setzen und bevölkern wollte … Friede war sein höchster Wunsch, und ihn auf das festeste, selbst für die Zukunft zu gründen, eines der glorreichsten und letzten Geschäfte seine Lebens. Und so nimmt er dieser bewunderte König auch den Ruhm mit in das Grab, daß Er der große Beschützer und Vertheidiger seiner Länder, daß Er der Friedensstifter unseres ganzen deutschen Vaterlandes war.“ (162)

Das Resumé: „Nur unter dem gesegneten Einflusse des Friedens konnte Er sein angenehmstes Geschäft betreiben, und den erhabensten Zweck seiner Regierung erreichen, konnte er seine Länder beglücken und ihren Wohlstand mehren.“ (S. 163)

Ich schlage den Band zu, bin stolz auf die in meiner Regie – aber mit öffentlichen Geldern – erworbene Predigtsammlung des Josias Löffler, herausgegeben vom ehrwürdigen Frommann in Züllichau:

Darin findet sich – zu unserem aktuellen Thema passend – auch die Abschiedspredigt Regiment Berlin 16. Oktober 1782: (S. 1 ff), wobei ich schon wieder dem Gang der Gedanken vorauseile, mitgerissen vom goldbedruckten ledernen Buchrücken aus Züllichau.

Was packt mich sofort? In den meisten der abgedruckten und von Josias selbst ausgewählten Predigten die theologisch verpackte Friedenssehnsucht: an erster Stelle jene Predigt im Bd. 3 aus dem Jahre 1793, (S. 397 ff) zu einer Stelle im Lukasevangelium (II, 22-32), der er den Titel gibt „Von der Verbindung der Vaterlandsliebe und der allgemeinen Menschenliebe“ – Josias Löffler propagiert den Zuhörern in Gotha seine Version des bekannten Lukas-Berichtes der Darbringung des Säuglings Jesus im Tempel:„Simeon, der sich bei der Darstellung Jesu im Tempel einfand, erscheint uns von Seiten seines Verstandes und seines Herzens gleich ehrwürdig. Gleich jedem jüdischen Patrioten jenes Zeitalters wartete auch er auf den Trost, den Erretter und Heiland Israels; aber er hatte von ihm nicht die verkehrten Begriffe der Menge; … Aber, was ihn weit ehrwürdiger zu machen verdient, das ist das gute wohlwollende Herz, welches aus jedem Zuge seiner Aeußerungen hervorleuchtet, …
Er freuete sich des Ruhms seiner Nation, aber auch der Erleuchtung der heidnischen Welt; und so zeigte er die wärmste Vaterlandsliebe, die nicht unempfindlich gegen das Glück und den Ruhm des Vaterlandes ist, mit der reinsten, über alle Vorurteile erhabenen Menschenliebe, die kein Volk von ihrem Wohlwollen und von ihrer Teilnahme ausschließet.“ S. 402/03
Löffler predigt, „daß die Verbindung beyder nicht nur möglich, sondern selbst pflichtmäßig und leicht, sey.“ S. 403 und er definiert: „Dieses sind die Züge der Vaterlandsliebe: Gerechtigkeit gegen jedermann; Gehorsam gegen die Gesetze; Ehrfurcht gegen den Regenten; weise Regierung des Hauses, und Erziehung der Kinder; gewissenhafte Verwaltung anvertrauter Geschäfte; und Bereitwilligkeit, jede Anstalt zu unterstützen, wodurch Ruhe und Sicherheit, Wohlstand und Ordnung, Sittlichkeit und Tugend, befördert wird.“ (412)
„Menschenliebe– heiliger, ehrwürdiger oft entweiheter aber doch ehrwürdiger Name – Was ist sie? Der Name sagt; Sie ist die einfachste verständlichste Sache; Sie ist Liebe der Menschen, aber der Menschen als Menschen ohne Rücksicht des Hauses des Standes, des Volkes, der Religion, des Welttheils; sie ist Liebe jedes Hauses, jedes Standes jedes Volkes kurz des ganzen Geschlechts; sie ist der Wunsch, daß es allen Mitgliedern derselben wohlgehe, daß sie alle erleuchtet und sittlich werden; sie ist endlich das streben zu diesem Zwecke nach dem Vermögen dass Gott darreicht selbst beyzutragen.“ (413)
„So der fromme Simeon. Er freuete sich nicht bloß des Glücks und des Ruhms seines Volks, sondern auch der Erleuchtung der Heiden …
So verband er Liebe seines Volks und Liebe für unser Geschlecht, und zeigte dadurch die Möglichkeit, beydes zu verbinden.“ (415)
Edda zieht mich zurück in die gegenwärtigen Aufgaben, ich sträube mich – die alten Texte haben etwa Verführerisches ! Nochmals greife ich in das Regal hinter mir, fasse blind den Nachdruck der ersten Luther-Bibel, halte Edda die Seite mit dem Beginn des Lukas-Evangeliums vors Gesicht:

Edda schafft es, mich in die nüchterne Gegenwart zurück zu ziehen, denn ich bin auch etwas ermüdet von den Gedankenspielen über Leben und Tod auf den Schlachtfeldern Böhmens, Sachsens, Schlesiens. Um die chose zu Ende zu bringen, blättere ich die restlichen ungeordneten Zettel und Briefe durch, die sich in dem Umschlag „Feldzug 78/79“ befinden – und stutze. „Edda, ich habe Sie in den letzten Tagen kaum behelligt. Nun aber frage ich die Kennerin – wann ist denn die Textfassung der Kleistschen ‚Hermannsschlacht‘ in öffentlicher Form erschienen? Noch zu Lebzeiten des Dichters oder auch noch zu Lebzeiten Löfflers? Abgesehen von seinen eigenen kurzen Gefechtserfahrungen gegen die Truppen der französischen Republik konnte sich Leutnant a.D. Heinrich von Kleist beim Feldprediger a.D. Josias Löffler doch interessante Ratschläge für die Gestaltung des Felzuges des Cheruskers Arminius gegen die Römer einholen!“
Mein wandelndes Lexikon muss nicht lange nachdenken – „Erst lange nach dem Tode beider !“ – Ich hake nach – „Wieso aber gibt es hier eine handschriftliche Notiz Löfflers zur Thematik von ‚Lug und Trug‘, von Aufheizung der Völker in Kriegszeiten durch Zeitungen und Theaterstücken, die sich auf mehrere Passagen in Kleists Hermannsschlacht bezieht und in der Löffler den Namen Collin nennt?“- „Collin?“ zieht Edda nachdenklich am Pferdeschwanz, „war das nicht jener Mensch mit Adelstitel, der für das Wiener Burgtheater schmalzige Lieder und Postillen aus dem antiken Rom für den Tagesgebrauch schrieb, unverdauliches Zeug? Die Kitschprodukte brachten nichts ein, aber dafür den hoch dotierten Posten als Dramaturg!“ Vergnüglich spende ich der lieben Edda Beifall, auf meine fragenden Blicke setzte sie hinzu: „mein Zweitfach an der Uni war deutsche Literaturgeschichte, der Assistent beschäftigte uns zwei Jahre lang mit Brechts Vorliebe für das alte Rom, da ist etwas hängen geblieben, zum Beispiel der unvergessliche Coriolanus auf den deutschsprachigen Bühnen zu Klassiker Goethes Zeiten!“ – Ich bohre weiter: „wie aber kommt Löffler an einen Text von Kleist, der noch nicht veröffentlicht war?“
Edda vertröstet mich auf den Montag, sie wolle sich in ihren Nachschriften von damals umsehen, ob da nicht etwas über den Burgtheater-Menschen Collin zu finden sei, vielleicht über den Umweg Varus im Teutoburger Wald und somit über Kleists Germanischen Helden Hermann! Den geheimnisumwitterten Notizzettel kopiert sie schon mal für das ruhige Weekend.
Am Montagmorgen ist großes Spectaculum angesagt – Edda bepflastert die Holzverkleidung meiner Fensterwand (sehr helle Zirbelkiefer mit lustigen kleinen Astzeichnungen) mit bunten Zettelchen und einigen Porträts und Theaterpapieren. Darüber befestigt sie ein Banner mit dem barock verzierten Schriftzug: Eddas Tableau! Burgtheater Wien und Kgl. Preuß. Schauspielhaus Berlin kann ich von meinem Platz in der ersten Zuschauerreihe erkennen. Edda hat eine Schwäche für graphische Darstellungen, für geometrische Figuren – also ist das Ganze kreisförmig angeordnet: im Zentrum ein einzelnes Blatt, von dort strahlen farbige Fäden in die vier Himmelsrichtungen. Zwischen dem Tableau und dem Kreis klebt sie nun eine Holzleiste mit einer Zahlenreihe, vor die Wand platziert sie ein Stehpult, darauf das Heft mit dem Text der Hermannschlacht: „Druck und Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1920; „Reclams Universal-Bibliothek“ Nr. 348; „Rosenranken-Umschlag“).
Auf einen Wink der Gestalterin trete ich näher, ihr rechter Zeigefinger weist auf drei rot unterlegten Zeilen des Blattes im Zentrum:
„erhalten Sie ferner Ihr Wohlwollen demjenigen,
der sich nennt Ihr ergebenster
Gotha, den 28.Jan. 1810 Heinrich v. Kleist.“
Mein Blick muss Verständnislosigkeit ausstrahlen – Edda versucht es mit Stichworten: „Gotha?, Löffler?, der Kamerad aus Potsdam? Der Selbstmord-Versuch? Immer noch nichts ?“ Sie führt mich zu dem zugehörigen Brieftext in der unteren rechten Ecke ihres Tableaus und zitiert genüsslich die ersten Sätze, dann den gesamten Brief:
157.Heinrich von Kleist an Heinrich Joseph von Collin
Teuerster Herr von Collin,
Kurz vor dem Ausbruch des Krieges erhielt ich ein Schreiben von Ihnen, worin Sie mir sagten, daß Sie das Drama: die Hermannsschlacht, das ich Ihnen zugeschickt hatte, der K. K. Theaterdirektion, zur Prüfung und höheren Entscheidung, vorgelegt hätten. Natürlich machten die Vorfälle, die bald darauf eintraten, unmöglich, daß es aufgeführt werden konnte. Jetzt aber, da sich die Verhältnisse wieder glücklich geändert haben, interessiert es mich, zu wissen: ob sich das Manuskript noch vorfindet ? ob daran zu denken ist, es auf die Bühne zu bringen? und wenn nicht, ob ich es nicht nach Berlin zurück erhalten kann? – Ebenso lebhaft interessiert mich das Käthchen von Heilbronn, das Sie die Güte hatten, für die Bühne zu bearbeiten. In demselben, schon erwähnten Briefe schrieben Sie: die Rollen seien ausgeteilt, und alles zur Aufführung bereit. Ist es aufgeführte Oder nicht? Und wird es noch werden? – Alle diese Fragen, die mir, wie Sie begreifen, nahe gehen, bitte ich, in einem freien Augenblick, wenn Sie ihn Ihren Geschäften abmüßigen können, freundschaftlich zu beantworten. – Wie herzlich haben uns Ihre schönen Kriegslieder erfreut; und wie herzlich erfreut uns der Dank, den der Kaiser, Ihr Herr, Ihnen kürzlich öffentlich dafür ausgedrückt hat! Nehmen Sie die Versicherung meiner innigsten Liebe und Hochachtung an, und erhalten Sie ferner Ihr Wohlwollen demjenigen,
der sich nennt Ihr ergebenster
Gotha, den 28.Jan. 1810 Heinrich v. Kleist.
N. S. Ich war nur auf kurze Zeit hier, und gehe morgen nach Berlin zurück, Wohin ich poste restante zu antworten bitte.“
Ich muss mich wieder setzen! Der Blitz hat eingeschlagen: „Edda, das ist die Antwort auf unsere Frage vom Freitag! Kleist hatte bei dem Besuch seines ehemaligen Potsdamer Regimentskameraden von Schlotheim selbstverständlich bei Löffler ‚vorbeigeschaut‘ und mit ihm über die Theatervorhaben, also auch über die ‚Hermannsschlacht‘ geplaudert, also über Themen, die – wie im Brief an Collin beschrieben – ‚mir nahe gehen‘. Ganz gewiß hatte er auch eine Arbeitskopie des bisher unveröffentlichten Stückes im Reisegepäck, daher die Textauszüge, die sich Löffler selbst anfertigte oder von einem der herzoglichen Schreiber anfertigen ließ. Das ist des Pudels Kern, wie Goethe formulieren würde. Und beim Schlotheim junior war er aufgekreuzt wegen der finanziellen Verbindungen, über die wir schon gesprochen haben!“
Edda hält das Heftchen hoch und nimmt die klassische Deklamierstellung ein – schon muss ich unterbrechen: -„Was hat es mit der hölzernen Zahlenleiste dort auf sich ?“ – „Das sind die Zeilen-Nummern einer modernen Ausgabe der ‚Hermannsschlacht‘, wo wir Bezüge zu unserer Ausgangsfrage – Propaganda in Kriegszeiten, Fanatismus und nationalistischer Haß, Massenmanipulation in zweitausend Jahren – finden! Ich komme darauf zurück, Chef.“
Ich notiere schon mal die Zahlen für mein geplantes nochmaliges Lesen des Textes am Abend: 894 – 955, 1473 – 1527, 1570 – 1627, 1720 – 1750, 2200 – 2225.
Aber Edda meint, wir sollten jetzt schon uns an den Kleistschen Text wagen und zu versuchen, uns der Kriegsstimmung und dem Propagandafeldzug, der „Lug- und- Trug“- Taktik zu stellen. Sie nimmt das Heftchen und deklamiert:
Akt III Zweiter Auftritt
Drei Hauptleute treten eilig nach einander auf. – Die Vorigen.
DER ERSTE HAUPTMANN indem er auftritt.
Mein Fürst, die ungeheueren (894)
Unordnungen, die sich dies Römerheer erlaubt,
Beim Himmel! übersteigen allen Glauben.
Drei deiner blühndsten Plätze sind geplündert,
Entflohn die Horden, alle Hütten und Gezelte –
Die unerhörte Tat! – den Flammen preisgegeben!
HERMANN heimlich und freudig.
Geh, geh, Siegrest! Spreng aus, es wären sieben! (900)
DER ERSTE HAUPTMANN.
Was? – Was gebeut mein König?
EGINHARDT. Hermann sagt –
Er nimmt ihn beiseite.
DER ERSTE ÄLTESTE. Dort kommt ein neuer Unglücksbote schon!
DER ZWEITE HAUPTMANN tritt auf.
Mein Fürst, man schickt von Herthakon mich her,
Dir eine gräßliche Begebenheit zu melden!
Ein Römer ist, in diesem armen Ort,
Mit einer Wöchnerin in Streit geraten,
Und hat, da sie den Vater rufen wollte,
Das Kind, das sie am Busen trug, ergriffen,
Des Kindes Schädel, die Hyäne, rasend
An seiner Mutter Schädel eingeschlagen. (910)
Die Feldherrn, denen man die Greueltat gemeldet,
Die Achseln haben sie gezuckt, die Leichen
In eine Grube heimlich werfen lassen.
HERMANN ebenso. Geh! Fleuch! Verbreit es in dem Platz, Govin!
Versichere von mir, den Vater hätten sie
Lebendig, weil er zürnte, nachgeworfen!
DER ZWEITE HAUPTMANN.
Wie ? Mein erlauchter Herr!
EGINHARDT nimmt ihn beim Arm. Ich will dir sagen –
Er spricht heimlich mit ihm.
ERSTER ÄLTESTER. Beim Himmel! Da erscheint der dritte schon!
DER DRITTE HAUPTMANN tritt auf.
Mein Fürst, du mußt, wenn du die Gnade haben willst,
920 Verzuglos dich nach Helakon verfügen.
Die Römer fällten dort, man sagt mir, aus Versehen,
Der tausendjährgen Eichen eine,
Dem Wodan, in dem Hain der Zukunft, heilig.
Ganz Helakon hierauf, Thuiskon, Herthakon,
Und alles, was den Kreis bewohnt,
Mit Spieß und Schwert stand auf, die Götter zu verteidgen.
Den Aufruhr rasch zu dämpfen, steckten
Die Römer plötzlich alle Läger an:
¬ Das Volk, so schwer bestraft, zerstreute jammernd sich,
930 Und heult jetzt um die Asche seiner Hütten. –
Komm, bitt ich dich, und steure der Verwirrung.
HERMANN. Gleich, gleich! – Man hat mir hier gesagt,
Die Römer hätten die Gefangenen gezwungen,
Zeus, ihrem Greulgott, in den Staub zu knien ?
DER DRITTE HAUPTMANN.
Nein, mein Gebieter, davon weiß ich nichts.
HERMANN. Nicht ? Nicht ? – Ich hab es von dir selbst gehört!
DER DRITTE HAUPTMANN.
Wie ? Was ?
HERMANN in den Bart.
Wie! Was! Die deutschen Uren!
– Bedeut ihm, was die List sei, Eginhardt.
EGINHARDT. Versteh, Freund Ottokar! Der König meint –
Er nimmt ihn beim Arm und spricht heimlich mit ihm.
ERSTER ÄLTESTER.
940 Nun solche Zügellosigkeit, beim hohen Himmel,
In Freundes Land noch obenein,
Ward doch, seitdem die Welt steht, nicht erlebt!
ZWEITER ÄLTESTER.
Schickt Männer aus, zu löschen!
HERMANN der wieder in die Ferne gesehn. Hör, Eginhardt!
Was ich dir sagen wollte –
EGINHARDT. Mein Gebieter!
HERMANN heimlich. Hast du ein Häuflein wackrer Leute wohl,
Die man zu einer List gebrauchen könnte?
EGINHARDT. Mein Fürst, die War‘ ist selten, wie du weißt.
– Was wünschest du, sag an ?
HERMANN. Was ? Hast du sie ?
Nun hör, schick sie dem Varus, Freund,
Wenn er zur Weser morgen weiter rückt, 950
Schick sie in Römerkleidern doch vermummt ihm nach.
Laß sie, ich bitte dich, auf allen Straßen,
Die sie durchwandern, sengen, brennen, plündern:
Wenn sies geschickt vollziehn, will ich sie lohnen!
EGINHARDT. Du sollst die Leute haben. Laß mich machen.
Er mischt sich unter die Hauptleute.
Akt VI Dritter Auftritt
Hermann und Eginhaırdt treten auf.
HERMANN. Tod Verderben, sag ich, Eginhardt! 1473
Woher die Ruh, Woher die Stille,
In diesem Standplatz römscher Kriegerhaufen ?
EGINHARDT. Mein bester Fürst, du weißt, Quintilius Varus zog
Heut mit des Heeres Masse ab.
Er ließ, zum Schutz in diesem Platz,
Nicht mehr, als drei Kohorten nur, zurück.
Die hält man ehr in Zaum, als so viel Legionen, 1480
Zumal, wenn sie so wohlgewählt, wie die.
HERMANN. Ich aber rechnete, bei allen Rachegöttern,
Auf Feuer, Raub, Gewalt und Mord,
Und alle Greul des fessellosen Krieges!
Was brauch ich Latier, die mir Gutes tun ?
Kann ich den Römerhaß, eh ich den Platz verlasse,
In der Cherusker Herzen nicht
Daß er durch ganz Germanien schlägt, entflammen:
So scheitert meine ganze Unternehmung!
EGINHARDT
1490 Du hättest Wolf, dünkt mich, und Thuskar und den andern
Doch dein Geheimnis wohl entdecken sollen.
Sie haben, als die Römer kamen,
Mit Flüchen, gleich die Teutoburg verlassen.
Wie gut, Wenn deine Sache siegt,
Hättst du in Deutschland sie gebrauchen können.
HERMANN. Die Schwätzer, die! Ich bitte dich;
Laß sie zu Hause gehn. –
Die schreiben, Deutschland zu befreien,
Mit Chiffern, schicken, mit Gefahr des Lebens,
1500 Einander Boten, die die Römer hängen,
Versammeln sich um Zwielicht – essen, trinken,
Und schlafen, kommt die Nacht, bei ihren Frauen. –
Wolf ist der einzge, der es redlich meint.
EGINHARDT. So Wirst du doch den Flambert mindestens,
Den Torst und Alarich und Singar,
Die Fürsten an des Maines Ufer,
Von deinem Wagstück staatsklug unterrichten?
HERMANN. Nichts, Liebster! Nenne mir die Namen nicht!
Meinst du, die ließen sich bewegen,
1510 Auf meinem Flug mir munter nachzuschwingen ?
Eh das von meinem Maultier würd ich hoffen.
Die Hoffnung: morgen stirbt Augustus!
Lockt sie, bedeckt mit Schmach und Schande,
Von einer Woche in die andere. –
Es braucht der Tat, nicht der Verschwörungen.
Den Widder laß sich zeigen, mit der Glocke,
So folgen, glaub mir, alle anderen.
EGINHARDT. So mög der Himmel dein Beginnen krönen!
HERMANN.
Horch! Still!
EGINHARDT. Was gibts?
HERMANN. Rief man nicht dort Gewalt ?
EGINHARDT. Nein, mein erlauchter Herr! Ich hörte nichts, 1520
Es war die Wache, die die Stunden rief.
HERMANN. Verflucht sei diese Zucht mir der Kohorten!
Ich stecke, Wenn sich niemand rührt,
Die ganze Teutoburg an allen Ecken an!
EGINHARDT. Nun, nun! Es wird sich wohl ein Frevel finden.
HERMANN. Komm, laß uns heimlich durch die Gassen schleichen,
Und sehn ob uns der Zufall etwas beut.
Beide ab.
Akt IV Fünfter Autritt
… DER ZWEITE VETTER.
1565 Wer die Person ist, fragt ihr ?
Er nimmt eine Fackel und beleuchtet ihre Füße.
TEUTHOLD. Gott im Himmel!
Hally, mein Einziges, was widerfuhr dir ?
Der Greis führt ihn auf die Seite und sagt ihm etwas ins Ohr.
Teuthold steht, wie vom Donner gerührt. Die Vettern, die ihm gefolgt waren,
erstarren gleichfalls. Pause.
DER ZWEITE CHERUSKER.
Genug! Die Fackeln weg! Führt sie ins Haus!
Ihr aber eilt den Hermann herzurufen!
TEUTHOLD indem er sich plötzlich wendet.
Halt dort!
DER ERSTE CHERUSKER.
Was gibts?
TEUTHOLD. Halt, sag ich, ihr Cherusker!
Ich will sie führen, Wo sie hingehört. Er zieht den Dolch.
– Kommt, meine Vettern, folgt mir!
DER ZWEITE CHERUSKER. Mann, was denkst du? 1570
TEUTHOLD zu den Vettern.
Rudolf, du nimmst die Rechte, Ralf, die Linke!
– Seid ihr bereit, sagt an ?
DIE VETTERN indem sie die Dolche ziehn.
Wir sinds! Brich auf!
TEUTHOLD bohrt sie nieder.
Stirb! Werde Staub! Und über deiner Gruft
Schlag ewige Vergessenheit zusammen!
Sie fällt, mit einem kurzen Laut, übern Haufen.
Das Volk. Ihr Götter!
DER ERSTE CHERUSKER fällt ihm in den Arm.
Ungeheuer! Was beginnst du ?
EINE STIMME aus dem Hintergrunde.
Was ist geschehn ?
EINE ANDERE. Sprecht!
EINE DRITTE. Was erschrickt das Volk ?
DAS VOLK durcheinander.
Weh! Weh! Der eigne Vater hat, mit Dolchen,
Die eignen Vettern, sie in Staub geworfen!
TEUTHOLD indem er sich über die Leiche wirft.
Hally! Mein Einzges! Hab ichs recht gemacht?
Sechster Auftritt
Hermann und Eginhardt treten auf. Die Vorigen.
DER ZWEITE CHERUSKER.
1580 Komm her, mein Fürst, schau diese Greuel an!
HERMANN.
Was gibts?
DER ERSTE CHERUSKER.
Was! Fragst du noch? Du weißt von nichts?
HERMANN. Nichts, meine Freund! ich komm aus meinem Zelte
EGINHART. Sagt, was erschreckt euch?
DER ZWEITE CHERUsKER halblaut. Eine ganze Meute
Von geilen Römern, die den Platz durchschweifte,
Hat bei der Dämmrung schamlos eben jetzt –
HERMANN indem er ihn vorführt.
Still, Selmar, still! Die Luft, du weißt, hat Ohren.
– Ein Römerhaufen ?
EGINHARDT. Ha! Was wird das werden?
Sie sprechen heimlich zusammen. Pause.
HERMANN mit Wehmut, halblaut.
Hally ? Was sagst du mir! Die junge Hally ?
DER ZWEITE CHERUSKER.
Hally, Teutholds, des Schmieds der Waffen, Tochter!
– Da liegt sie jetzt, schau her, mein Fürst, 1590
Von ihrem eignen Vater hingeopfert!
EGINHARDT vor der Leiche.
Ihr großen, heiligen und ewgen Götter!
DER ERSTE CHERUSKER.
Was wirst du nun, o Herr, darauf beschließen?
HERMANN zum Volke.
Kommt, ihr Cherusker! Kommt, ihr Wodankinder!
Kommt, sammelt euch um mich und hört mich an!
Das Volk umringt ihn ; er tritt vor Teuthold.
Teuthold, steh auf!
TEUTHOLD am Boden. Laß mich!
HERMANN. Steh auf, sag ich!
TEUTHOLD. Hinwegl Des Todes ist, wer sich mir naht.
HERMANN. – Hebt ihn empor, und sagt ihm, wer ich sei.
DER ZWEITE CHERUSKER. Steh auf, unsel’ger Alter!
DER ERSTE CHERUSKER. Fasse dich!
DER ZWEITE CHERUSKER.
Hermann, dein Rächer ists, der vor dir steht. 1600
Sie heben ihn empor.
TEUTHOLD. Hermann, mein Rächer, sagt ihr ? – Kann er Rom,
Das Drachennest, vom Erdenrund vertilgen ?
HERMANN. Ich kanns und wills! Hör an, was ich dir sage.
TEUTHOLD sieht ihn an.
Was für ein Laut des Himmels traf mein Ohr?
DIE BEIDEN VETTERN.
Du kannsts und willsts ?
TEUTHOLD. Gebeut! Sprich! Red, o Herr!
Was muß geschehn ? Wo muß die Keule fallen ?
HERMANN. Das hör jetzt, und erwidre nichts. –
Brich, Rabenvater, auf, und trage, mit den Vettern,
Die Jungfrau, die geschändete,
In einen Winkel deines Hauses hin! 1610
Wir zählen funfzehn Stämme der Germaner;
In funfzehn Stücke, mit des Schwertes Schärfe,
Teil ihren Leib, und schick mit funfzehn Boten,
Ich will dir funfzehn Pferde dazu geben,
Den funfzehn Stämmen ihn Germaniens zu.
Der wird in Deutschland, dir zur Rache,
Bis auf die toten Elemente werben:
Der Sturmwind wird, die Waldungen durchsausend,
Empörung! rufen, und die See,
1620 Des Landes Ribben schlagend, Freiheit! brüllen.
DAS VOLK. Empörung! Rache! Freiheit!
TEUTHOLD. Auf! Greift an!
Bringt sie ins Haus, zerlegt in Stücken sie!
Sie tragen die Leiche fort.
HERMANN. Komm, Eginhardt! Jetzt hab ich nichts mehr
An diesem Ort zu tun! Germanien lodert:
Laß uns den Varus jetzt, den Stifter dieser Greuel,
Im Teutoburger Walde suchen!
Alle ab.
Akt IV, Neunter Auftritt
… THUSNELDA mit steigender Angst.
Du Unbarmherzger! Ungeheuerster!
– So hätt auch der Centurio, 1709
Der, bei dem Brande in Thuiskon jüngst
Die Heldentat getan, dir kein Gefühl entlockt ?
HERMANN. Nein – Was für ein Centurio ?
THUSNELDA. Nicht ? Nicht ?
Der junge Held, der, mit Gefahr des Lebens,
Das Kind, auf seiner Mutter Ruf,
Dem Tod der Flammen mutig jüngst entrissene –
Er hätte kein Gefühl der Liebe dir entlockte
HERMANN glühend. Er sei verflucht, wemı er mir das getan!
Er hat, auf einen Augenblick,
Mein Herz veruntreut, zum Verräter 1720
An Deutschlands großer Sache mich gemacht!
Warum setzt‘ er Thuiskon mir in Brand?
Ich will die höhnische Dämonenbrut nicht lieben!
So lang sie in Germanien trotzt,
Ist Haß mein Amt und meine Tugend Rache!
THUSNELDA weinend. Mehı liebster, bester Herzens-Hermann,
Ich bitte dich um des Ventidius Leben!
Das eine Haupt nimmst du von deiner Rache aus!
Laß, ich beschwöre dich, laß mich ihm heimlich melden,
Was über Varus du verhängt: 1730
Mag er ins Land der Väter rasch sich retten!
HERMANN. Ventidius? Nun gut. – Ventidius Carboa
Nun denn, es sei! – Weil es mein Thuschen ist,
Die für ihn bittet, mag er fliehn:
Sein Haupt soll meinem Schwert, so wahr ich lebe,
Um dieser schönen Regung heilig sein!
THUSNELDA sie küßt seine Hand.
O Hermann! Ist es wirklich wahr ? O Hermann!
Du schenkst sein Leben mir ?
HERMANN. Du hörst. Ich schenks ihm.
Sobald der Morgen angebrochen,
1740 Steckst du zwei Wort ihm heimlich zu,
Er möchte gleich sich übern Rheinstrom retten;
Du kannst ihm Pferd aus meinen Ställen schicken,
Daß er den Tagesstrahl nicht mehr erschaut.
THUSNELDA. O Liebster mein! Wie rührst du mich! O Liebster!
HERMANN. Doch eher nicht, hörst du, das bitt ich sehr,
Als bis der Morgen angebrochen!
Eh auch mit Mienen nicht verrätst du dich!
Denn alle andern müssen unerbittlich,
Die schändlichen Tyrannenknechte, sterben:
1750 Der Anschlag darf nicht etwa durch ihn scheitern!
Akt V, Dreizehnter Auftritt
… SEPTIMIUS. (2195) So ist es wahr ? Arminius spielte falsch ?
Verriet die Freunde, die ihn schützen wollten?
HERMANN. Verriet euch, ja; was soll ich mit dir streiten ?
Wir sind verknüpft, Marbod und ich,
Und werden, wenn der Morgen tagt,
Den Varus, hier im Walde, überfallen. 2200
SEPTIMIUS. Die Götter werden ihre Söhne schützen!
– Hier ist mein Schwert!
HERMANN indem er das Schwert wieder weggibt.
Führt ihn hinweg,
Und laßt sein Blut, das erste, gleich
Des Vaterlandes dürren Boden trinken!
Zwei Cherusker ergreifen ihn.
SEPTIMIUS. Wie, du Barbar! Mein Blut ? Das wirst du nicht -!
HERMANN. Warum nicht ?
SEPTIMIUS mit Würde. – Weil ich dein Gefangner bin!
An deine Siegerpflicht erinnr‘ ich dich!
HERMANN auf sein Schwert gestützt.
An Pflicht und Recht! Sieh da, so wahr ich lebe!
Er hat das Buch vom Cicero gelesen.
Was müßt ich tun, sag an, nach diesem Werke 2210
SEPTIMIUS. Nach diesem Werke Armsel’ger Spötter, du!
Mein Haupt, das wehrlos vor dir steht,
Soll deiner Rache heilig sein;
Also gebeut dir das Gefühl des Rechts,
In deines Busens Blättern aufgeschrieben!
HERMANN indem er auf ihn einschreitet.
Du weißt was Recht ist, du verfluchter Bube,
Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt,
Um uns zu unterdrücken ?
Nehmt eine Keule doppelten Gewichts,
Und schlagt ihn tot! 2220
SEPTIMUS. Führt mich hinweg! – hier unterlieg ich,
Weil ich mit Helden würdig nicht zu tun!
Der das Geschlecht der königlichen Menschen
Besiegt, in Ost und West, der ward 2223
Von Hunden in Germanien zerrissen:
Das wird die Inschrift meines Grabmals sein!
Er geht ab; Wache folgt ihm.
DAS HEER in der Ferne. Hurrah! Hurrah! Der Nornentag bricht an!“
Erschöpft, aber glücklich sinkt Edda in den Stuhl zurück. – Ich nehme ihr das Reclam-Heft aus der Hand und lege es auf das Pult zurück: „Bewunderswert, wie du an einem Wochenende nur diesen sperrigen Text auseinander reißen konntest ! Hermann steht so nackt vor mir wie die Think Tanks der Gegenwart. Aber eine Frage bleibt : ob Josias Löffler wohl vor zweihundert Jahren diese Zusammenhänge verstanden hat?“ – „Warum hat er dann, liebe Edda, unser braver Theologe und gelegentlich auch Feldprediger, diese Zeugnisse von Lug und Trug der Herrscher in einer Zeit der europäischen Kriege aufbewahrt ? Gibt es denn in dem Briefwechsel Kleists mit dem Wiener Heinrich von Collin Anzeichen und Gründe dafür?“
„Gut Chef, dann zum zweiten Teil meiner Ergebnisse der Weekend-Studien: mit Collin war Kleist mindestens seit dem Jahre 1804 in Kontakt. Aber die Leidenschaft für das Hermann-Varus-Thema können wir bei Kleist bis auf die Jahre 1801/1802 zurückverfolgen, ohne dass wir dafür theatergeschichtliche schriftliche Belege finden: Klopstock, Arndt, Karl Heinz Venturini, Johannes von Müller … Ich fand aber im Briefwechsel mit Adolfine von Werdeck, der späteren Frau von dem Knesebeck, einen interessanten Bezug zum Teutoburger Wald – schon aus dem Jahre 1801: „An Adolfine von Werdeck [Paris und Frankfurt am Main, November 1801]
– Also an dem Arminiusberge standen Sie, an jener Wiege der deutschen Freiheit, die nun ihr Grab gefunden hat? Ach, wie ungleich sind zwei Augenblicke, die ein Jahrtausend trennt! Ordentlich ist heute die Welt; sagen Sie mir, ist sie noch schön ? Die armen lechzenden Herzen! Schönes und Großes möchten sie tun, aber niemand bedarf ihrer, alles geschieht jetzt ohne ihr Zutun. Denn seitdem man die Ordnung erfunden hat, sind alle großen Tugenden unnötig geworden. Wenn uns ein Armer um eine Gabe anspricht, so befiehlt uns ein Polizeiedikt, daß wir ihn in ein Arbeitshaus abliefern sollen. Wenn ein Ungeduldiger den Greis, der an dem Fenster eines brennenden Hauses um Hilfe schreit, retten will, so weiset ihn die Wache, die am Eingange steht, zurück, und bedeutet ihn, daß die gehörigen Verfügungen bereits getroffen sind. Wenn ein Jüngling gegen den Feind, der sein Vaterland bedroht, mutig zu denWaffen greifen will, so belehrt man ihn, daß der König ein Heer besolde, welches für Geld den Staat beschützt. – Wohl dem Arminius, daß er einen großen Augenblick fand. Denn was bliebe ihm heutzutage übrig, als etwa Lieutenant zu werden in einem preußischen Regiment ?.“
Edda scheint gerührt. Ich wende mich wieder dem Tableau und der ihrer Erklärung zu – „Die Briefe Kleists an Collin habe ich in Richtung Südosten postiert – dort, wo Wien liegt. Gehen wir davon aus, dass sich Kleist sporadisch ab 1801, dann systematisch ab 1808 mit dem Thema beschäftigt, kommen folgende Briefe in Betracht: Dresden 14. Februar 1808, Dresden, 2. Oktober 1808, Dresden, 8. Dezember 1808, Dresden, 1. Januar 1809, Dresden. 22. Februar 1809, Dresden, 20. und 23. April 1809. Hier nun chronologisch die Belegstellen – beginnen wir mit dem Februar 1808, als sich Kleist nach seiner Rückkehr aus der französischen Gefangenschaft nun in Dresden aufhält und weitgefaßte Pläne schmiedet:
An Heinrich Joseph von Collin
EW. Wohlgeboren
uns, mit so vieler Herzlichkeit gegebene, Versicherung, unser Kunstjournal, einer eignen Unternehmung gleich, zu unterstützen, hat mir sowohl, als H. Adam Müller, die größte Freude gemacht. Es geschieht, Ihnen einen Beweis zu geben, wie sehr wir jetzt auf Sie rechnen, daß wir unser Gesuch, uns mit einem Beitrag zu beschenken, gleich nach Empfang Ihres Schreibens noch einmal wiederholen. Es könnte uns, bei dem Ziel, das wir uns gesteckt haben, keine Verbindung lieber sein, als mit Ihnen, und so wenig es uns an Manuskripten fehlt: es liegt uns daran, daß Ihr Name bald im Phöbus erscheine. Da das Institut vorzüglich auch dazu bestimmt ist, von großen dramatischen Arbeiten, die unter der Feder sind, Proben zu geben, so würden uns Szenen aus Werken, die unter der Ihrigen sind, ganz vorzüglich willkommen sein. Doch auch für alles andere, was Sie uns geben wollen, werden wir dankbar sein; schicken Sie es nur gradezu an die hiesige Kaisl. Königl. Gesandtschaft, welche alle unsere wechselseitige Mitteilungen zu besorgen die Güte haben wird. Ich bin, außer der Penthesilea, von welcher ein Fragment im ersten Hefte steht, im Besitz noch zweier Tragödien, von deren einen Sie eine Probe im dritten oder vierten Heft sehen werden. Diese Bestrebungen, ernsthaft gemeint, müssen dem Phöbus seinen Charakter geben, und auf der Welt ist niemand, der in diese Idee eingreifen kann, als Sie. Das erste Werk, womit ich wieder auftreten werde, ist Robert Guiskard, Herzog der Normänner. Der Stoff ist, mit den Leuten zu reden, noch ungeheurer; doch in der Kunst kommt es überall auf die Form an, und alles, was eine Gestalt hat, ist meine Sache. Außerdem habe ich noch ein Lustspiel liegen, wovon ich Ihnen eine, zum Behuf einer hiesigen Privatvorstellung (aus der nichts ward) genommene Abschrift schicke. H. v. Goethe läßt es in Weimar einstudieren. Ob es für das Wiener Publikum sein wird? weiß ich nicht; wenn der Erfolg nicht gewiß ist (wahrscheinlich, wir verstehen uns) so erbitte ich es mir lieber wieder zurück. Es ist durch den Baron v. Buol K. Chargé d’Affaires) der es sehr in Affektion genommen hatte, mehreremal dem H. Grafen v. Palfy empfohlen worden (nicht zugeschickt), – aber niemals darauf eine entscheidende Antwort erfolgt. – Von der Penthesilea, die im Druck ist, sollen Sie ein Exemplar haben, sobald sie fertig sein wird. – Sagen Sie mir, ums Himmelswillen, ist denn das I. Phöbusheft bei Ihnen noch nicht erschienene und wenn nicht, warum nicht? Wir sind sehr betreten darüber, von dem Industriecomptoir in Wien, dem wir es in Kommission gegeben haben, gar nichts, diesen Gegenstand betreffend, erfahren zu haben. Würden Sie wohl einmal gelegentlich die Gefälligkeit haben, sich danach zu erkundigen? Das zweite Heft ist fertig; und noch nicht einmal die Ankündigung ist in Wien erschienen! –
Ich hätte noch dies und das andere, das ich Ihnen schreiben, und worum ich Sie bitten möchte, doch man muß seine Freunde nicht zu sehr quälen, leben Sie also wohl, und überzeugen Sie sich von der Liebe und Verehrung dessen, der sich nennt
Dresden, den 14. Feb. 1808 Ihr H. v. Kleist. Pirnsche Vorstadt, Nr. 123
An Heinrich Joseph von Collin
EW. Hochwohlgeboren
habe ich die Ehre, hiermit die Penthesilea, als ein Zeichen meiner innigsten und herzlichsten Verehrung, zu überschicken, und damit ein Versprechen zu lösen, das ich Denenselben zu Anfange des laufenden Jahres gegeben habe.
Herr Hofrat Müller sowohl, als ich, wiederholen die Bitte uns, wenn die öffentlichen Verhältnisse ruhig bleiben sollten, gefälligst mit einem Beitrag für den Phöbus zu versehen.
Das Käthchen von Heilbronn, das ich für die Bühne bearbeitet habe, lege ich Ew. Hochwohlgeb. hiermit ergebenst, zur Durchsicht und Prüfung, ob es zu diesem Zweck tauglich sei, bei.
Indem ich noch bitte, mir, wenn es Ihren Beifall haben, und die Bühne es an sich zu bringen wünschen sollte, diesen Umstand gefälligst bald anzuzeigen, damit mit dem Druck, in Tübingen bei Cotta, der das Werk in Verlag nimmt, nicht vorgegangen werde, habe ich die Ehre mit der vorzüglichsten Hochachtung zu sein,
EW. Hochwohlgeboren ergebenster
Dresden, den 2. Okt. 1808 Heinrich v. Kleist. Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123
An Herrn Heinrich von Collin Hochwohlgeboren zu Wien.
Teuerster Herr von Collin,
Das Käthchen von Heilbronn, das, wie ich selbst einsehe, notwendig verkürzt werden muß, konnte unter keine Hände fallen, denen ich dies Geschäft lieber anvertraute, als den Ihrigen. Verfahren Sie ganz damit, wie es der Zweck Ihrer Bühne erheischt.
Auch die Berliner Bühne, die es aufführt, verkürzt es; und ich selbst werde vielleicht noch, für andere Bühnen, ein Gleiches damit vornehmen. – Wie gern hätte ich das Wort von Ihnen gehört, das Ihnen, die Penthesilea betreffend, auf der Zunge zu schweben schien! Wäre es auch gleich ein Wenig streng gewesen!
Denn wer das Käthchen liebt, dem kann die Penthesilea nicht ganz unbegreiflich sein, sie gehören ja wie das + und – der Algebra zusammen, und sind ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht. – Sagen Sie mir dreist, wenn Sie Zeit und Lust haben, was Sie darüber denken; gewiß! es kann mir nicht anders, als lehrreich und angenehm sein. – Hier erfolgt zugleich die Quittung an die K. K. Theaterkasse. Ich schicke sieIhnen, teuerster Herr von Collin, weil es mir an Bekanntschaften in Wien fehlt, und die Güte, die Sie für mich zeigen, mich zu dieser Freiheit aufmuntert. Besorgen Sie gefälligst die Einziehung des Honorars, umd senden Sie es mir, da es Papiere sind, nur mit der Post zu, wenn sich keine andre sichre und prompte Gelegenheit findet. – Schlagen Sie es doch in ein Kuvert ein, an den Baron v. Buol, hiesigen K. K. Chargé d’affaire, so ersparen wir das Postgeld. – Ich verharre mit der innigsten Hochachtung, Herr von Collin,
Ihr ergebenster
Dresden, den 8. Dezmbr. 1808 Heinrich von Kleist.
Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123
An Heinrich Joseph von Collin
An den H. von Collin Hochwohlgeb. zu Wien.
Verehrungswürdigster Herr von Collin,
Sie erhalten, in der Anlage, ein neues Drama, betitelt: die Hermannsschlacht, von dem ich wünsche, daß es Ihnen gleichfalls, wie das Käthchen von Heilbronn, ein wenig gefallen möge.
Schlagen Sie es gefälligst der K. K. Theaterdirektion zur Aufführung vor. Wenn dieselbe es annehmen sollte, so wünsche ich fast (falls dies nochmöglich wäre) daß es früher auf die Bühne käme, als das Käthchen; es ist um nichts besser, und doch scheint es mir seines Erfolges sichrer zu sein.
Ich hoffe, daß Sie den, das Käthchen betreffenden, Brief, in welchem auch die Quittung enthalten war, durch Hr. v. Gentz, der ihn, von Prag aus, dem Hr. Pr[inzen] von Rohan nach Wien
mitgegeben hat, empfangen haben werden.
ln Erwartung einer gütigen Antwort verharre ich mit der in-
nigsten und lebhaftesten Hochachtung,
Herr von Collin Ihr ergebenster
Dresden, den I. Januar 1809 Heinrich v. Kleist.
Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123
An Heinrich Joseph von Collin
An Herrn Heinrich von Collin, Hochwohlgeboren zu Wien, fr.
EW. Hochwohlgeboren
habe ich, zu Anfang Dezembrs. v. Jahres, durch eine Gelegenheit, die Quittung über die bewußten 300 Guld. Banknoten, für das Manuskript: das Käthchen von Heilbronn und bald darauf die Abschrift eines zweiten Dramas: die Hermannsschlacht, durch eine andere Gelegenheit, ergebenst zugesandt. Da ich nicht das Glückgehabt habe, seitdem mit einer Zuschrift EW. Hochwohlgeb. beehrt zu werden, so bitte ich Dieselben inständigst, mir, wenn es sein kann, mit nächster Post, gefälligst anzuzeigen, ob diese beiden Adressen richtig in Ihre Hände gekommen sind ? Es würde mir, besonders um dieser letzten willen, leid tun, wenn die Überlieferung derselben, durch irgend ein Versehn, vernachlässigt worden wäre, indem dies Stück mehr, als irgend ein anderes, für den Augenblick berechnet war, und ich fast wünschen muß, es ganz und gar wieder zurückzunelhmen, wenn die Verhältnisse, wie leicht möglich ist, nicht gestatten sollten, es im Laufe dieser Zeit aufzuführen.
Ich habe die Ehre, mit der vorzüglichsten Hochachtung zu sein,
EW. Hochwohlgeb. ergebenster
Dresden, den 22. Feb. 1809 Heinrich V. Kleist.
Rammsche Gasse, Pirnsche Vorst. Nr. 12.3
An Heinrich Joseph von Collin
Teuerster Herr von Collin,
Die 300 fl. Banknoten sind in Berlin angekommen. Ich habe sie zwar noch nicht erhalten; doch kann ich Ihnen die Quittung darüber, nebst meinem ergebensten Dank, zustellen.
Ihre mutigen Lieder östr. Wehrmänner haben wir auch hier gelesen. Meine Freude darüber, Ihren Namen auf dem Titel zu sehen (der Verleger hat es nicht gewagt, sich zu nennen), war unbeschreiblich. Ich auch finde, man muß sich mit seinem ganzen Gewicht, so schwer oder leicht es sein mag, in die Waage der Zeit werfen; Sie werden inliegend mein Scherflein dazu finden. Geben Sie die Gedichte, wenn sie Ihnen gefallen, Degen oder wem Sie Wollen, in öffentliche Blätter zu rücken, oder auch einzeln (nur nicht zusammenhängend, weil ich eine größere Sammlung herausgeben will) zu drucken; ich wollte, ich hätte eine Stimme von Erz, und könnte sie, vom Harz herab, den Deutschen absingen.
Vorderhand sind wir der Franzosen hier los. Auf die erste Nachricht der Siege, die die Österreicher erfochten, hat Bernadotte sogleich, mit der sächsischen Armee, Dresden verlassen, mit einer Eilfertigkeit, als ob der Feind auf seiner Ferse wäre.
Man hat Kanonen und Munitionswagen zertrümmert, die man nicht fortschaffen konnte. Der Marsch, den das Korps genommen hat, geht auf Altenburg, um sich mit Davoust zu verbinden; doch wenn die Österreicher einige Fortschritte machen, so ist es abgeschnitten. Der König und die Königin haben laut geweint, da sie in den Wagen stiegen. Überhaupt spricht man sehr zweideutig von dieser Abreise. Es sollen die heftigsten Auftritte zwischen dem König und Bernadotte vorgefallen sein, und der König nur, auf die ungeheuersten Drohungen, Dresden verlassen haben.
Jetzt ist alles darauf gespannt, was geschehen wird, wenn die Armee über die Grenze rücken soll. Der König soll entschlossen sein, dies nicht zu tun; und der Geist der Truppen ist in der Tat so, daß es kaum möglich ist. Ob er alsdann, den Franzosen so nahe, noch frei sein wird? – ist eine andere Frage. – Vielleicht erhalten wir einen Pendant zur Geschichte von Spanien. – Wenn nur die Österreicher erst hier wären!
Doch, wie stehts, mein teuerster Freund, mit der Hermannsschlacht? Sie können leicht denken, wie sehr mir die Aufführung dieses Stücks, das einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet war, am Herzen liegt. Schreiben Sie mir bald: es wird gegeben; jede Bedingung ist mir gleichgültig, ich schenke es den Deutschen; machen Sie nur, daß es gegeben wird.
Mit herzlicher Liebe und Hochachtung,
Ihr
Dresden, den 20. April 1809 Heinrich v. Kleist.
Willsche Gasse, Löwenapotheke
N. S. Das sächsische Korps ist auf Wägen plötzlich nach Plauen und von da, wie es heißt, nach Zwickau aufgebrochen. Was dies bedeuten soll, begreift niemand. – Im Preußischen ist, mit der größten Schnelligkeit, alles auf den Kriegsfuß gesetzt worden. den 23. [April 1809]
Chef, ich brauche Tee oder Kaffee – Edda erlöst mich aus dem ungewohnten Status des passiven Zuschauers ihrer Performance.
Nach einer sehr, sehr langen Pause des Nachdenkens fasse ich die bemerkenswerten Ergebnisse der Edda-Wochenend-Recherchen zusammen – kurz und druckreif:
Verstehe ich recht – Grundidee, Konzept und erste Passagen der „Hermannsschlacht“ entwickelte Kleist im Winter 1809/1810 auf der Reise von Dresden nach Wien und tauschte vorläufige Gedanken darüber mit Josias Löffler bei seinem Aufenthalt in Gotha im Januar 1810 aus. Mit Wien verband Kleist die Hoffnung auf den baldigen Ausbruch eines siegreichen Volkskrieges gegen das napoleonische Frankreich, zu dessen „patriotischer“ Vorbereitung er seinen Beitrag leisten wollte. Der Wiener Dichter Heinrich Joseph Collin, dem er in einem Brief aus Gotha das Bühnen-Schicksal des Stückes, das er ihm vor Monaten zugeschickt hatte, nochmals ans Herz legte, ist ihm seit Jahren als Autor auch von den Berliner Theatern bekannt. Die Dringlichkeit seines Anliegens begründet Kleist in mehreren folgenden Briefen mit der politischen Lage, mit der Notwendigkeit, die deutsche Nation unter Führung Österreichs und Preußens moralisch und gefühlsmäßig für den bevorstehenden Krieg gegen Napoleon aufzurüsten. Inwieweit der Theologe Josias Löffler die fanatische, militante Haltung des Dichters Heinrich von Kleist teilte, wird aus den Notizen nicht ersichtlich; aber dass er jene Passagen aus dem Stück, die voller chauvinistischem Hass, propagandistischem bellizistischem Trommelfeuer, voller taktischer Anweisungen zu „kriegsbedingten“ Lügen, Fälschungen, Kriegsverbrechen, Desinformationen stecken, nicht billigen kann, sollten wir annehmen.
Es waren insbesondere die folgenden Szenen, die wir gemeinsam erlebt haben – leider gibt es keine Quellen, die uns sagen, ob, wann und wie Löffler und sein „Zögling“ Kleist sich darüber ausgetauscht haben.
Vorstellen können wir uns aber, wie in jene Periode der Rückkehr des Theologen Löffler ins ruhigere Berliner Leben, der Monate und Jahre des brieflichen Austauschs mit den Freunden in Neuruppin und Breslau der Wunsch nach einer gesicherten Stellung an einer guten Schule oder gar Universität von ihm Besitz ergreift.

Vorstellen können wir uns auch, wie Josias die Fühler ausstreckt – Frankfurt an der Oder? Göttingen ? Hamburg ?
Dieter Weigert, Berlin Prenzlauer Berg 7. August 2023
(Eine weitere Folge der Erinnerungen des Saalfelder Stadarchivars zu Heinrich von Kleist und Josias Löffler erscheint demnächst an dieser Stelle)
Für Interessenten:
LINK zu Folge 1: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33663
LINK zu Folge 2: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/33899
LINK zu Folge 3: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34059
LINK zu Folge 4: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34245
LINK zu Folge 5: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34672
LINK zu Folge 6: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34720
LINK zu Folge 7: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/34571
LINK zu Folge 8: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/35034
LINK zu Folge 9: http://wordpress.com/post/fobililienstern.blog/35090