Ein Wehrdienstverweigerer vor 222 Jahren 

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Vor den Toren Berlins wurde dem Charlottenburger Bürgermeister Otto Ferdinand Sydow und dessen Ehefrau Karoline Sophie Henriette geb. Müncheberg am 23. November 1800 ein Sohn geboren und in der Berliner Nikolaikirche  getauft. Als Geburtsort ist nicht Charlottenburg, sondern Berlin angegeben, weil die Mutter – obwohl sehr königstreu und voller Verehrung für Königin Luise – ihre fünf Knaben in Berlin bei ihren Eltern zur Welt brachte, um sie wegen der „Kantonfreiheit“ der Residenz Berlin dem preußischen Militärdienst zu entziehen. Schon als Kind kam Sydow in enge Berührung zum preußischen Offizierskorps, wurden doch seine Schwestern gemeinsam mit der Tochter des preußischen Stadtkommandanten, General von L ‚Estocq, erzogen. Durch Privatlehrer gut vorbereitet, konnte der Knabe Adolph ab 1812 das bekannte „Gymnasium zum Grauen Kloster“ in Berlin besuchen. Ein Stipendium versetzte ihn in die Lage, an der Berliner Universität bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Theologie zu studieren. Wegen der Teilnahme an burschenschaftlichen Aktivitäten wurde er 1819 verhört, durfte aber das Studium fortsetzen.  Schon während des dritten Studienjahres war der  Chef des Berliner Kadettenkorps, General von Brause,  auf Sydow aufmerksam geworden und hatte ihm auf  Empfehlung der Lehrer vom Gymnasium zum Grauen  Kloster das Angebot einer Repetentenstelle, eine Art  Hilfsprediger, an der Kadettenanstalt gemacht. General von Brause gehörte zum engeren Kreis der Offiziere um Scharnhorst und Boyen, die sich nach 1806 energisch um die Reformierung der preußischen Armee, um die Qualifizierung des Offizierskorps bemühten. Es ist daher nicht zufällig, dass er den durch beste Studienleistungen aufgefallenen Sydow für die Tätigkeit im reformierten Kadettenkorps ausgewählt hatte.  Mit 21 Jahren trat Sydow damit in den Staatsdienst, studierte nachts und legte seine Abschlussprüfungen an der Universität erst im Jahre 1827 ab – mit vorzüglichem Erfolg, was ihm die zweite theologische Prüfung ersparte. Diese Zeit an der Kadettenanstalt brachte ihn in engen Kontakt zu jungen Offizieren, die später bekannte Generale der preußischen Armee wurden – von Roon und von Scheliha.

Die ausgezeichneten Prüfungsergebnisse und die Protektion durch General von Brause bewogen das Konsistorium, dem jungen Sydow schon 1828 eine reguläre Predigerstelle an der Kadettenanstalt zu übertragen. Bis 1837 hat er diese Stelle ausgefüllt, geschätzt von den Kollegen, beliebt bei den Militärschülern und stets im Blickfeld des Königs. König Friedrich Wilhelm III. hatte 1836 beim Besuch einer seiner Predigten in der Berliner Garnisonkirche den Entschluss gefasst, ihn an die Garnisonkirche von Potsdam zu versetzen – eine Rangerhöhung im militärischen Sinn und eine Auszeichnung auch unter kirchenpolitischen Gesichtspunkten. Seine Probepredigt hielt er am 6. November 1836 in der Berliner Garnisonkirche. Sie fiel positiv aus, und der anwesende Prinz Wilhelm schrieb die positive Beurteilung als Kommandeur der Gardedivision an das Königliche Konsistorium. Er bezeichnete die Anstellung Sydows als „einen wahren Gewinn für die Militärgemeinde“.  Sydow war der Abschied von Berlin nicht leicht gefallen, musste er doch einen Freundeskreis und eine in den Jahren gewachsene Personalgemeinde zurücklassen.  In Potsdam gelang es Sydow relativ schnell, enge Kontakte zu führenden zivilen und militärischen Persönlichkeiten aufzubauen, aber auch seelsorgerische Aufgaben in den unteren Schichten der Gesellschaft zu erfüllen. 1840/41 erreicht er durch eine öffentliche Vortragsreihe zu theologischen und kulturellen Themen einen breiten Kreis von literarisch und philosophisch Interessierten.

Dem Regierungsantritt König Friedrich Wilhelms IV. sah Sydow wie viele seiner Zeitgenossen hoffnungsvoll entgegen, die ersten Kontakte und Diskussionen mit dem König bestätigten seine Erwartungen. Sydow erhielt in diesen Jahren den Auftrag, die anglikanischen Kirchenverhältnisse in England zu studieren, um den König in der Frage zu beraten, inwieweit Möglichkeiten der Übertragung dieser Verhältnisse auf Preußen bestünden. Der ablehnende Bericht Sydows 1844 nach  eineinhalb Jahren Vor-Ort-Untersuchung enttäuschte  den König ebenso wie Sydows kritisches Auftreten in  der Provinzialsynode von 1846, das wesentlich dazu  beitrug, Friedrich Wilhelms IV Projekt einer konservativen Kirchenreform in Preußen zu Fall zu bringen.  1846 wird Sydow Pfarrer an der Neuen Kirche in Berlin, dabei in die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen des Vormärz hineingerissen – und entwickelt sich zu einem ihrer führenden Akteure.  Doch gehen wir zurück in das Frühjahr 1840, Friedrich Wilhelm, der preußische Kronprinz, verfasste ein Konzept für die Erneuerung der Kirche – eine apostolische Kirche sollte es sein, vom patriarchalischen Verständnis über Staat und Gesellschaft ausgehend, ohne Rationalismus und Pantheismus. Gott sei nicht rational erklärbar, Gott sei nicht nach menschlichen Vorstellungen messbar.  Es ging dem späteren König Friedrich Wilhelm IV.  um die Wiederherstellung der reinen Verfassung der primitiven Kirche, angepasst an die Zustände des christlichen Staates des 19. Jahrhunderts. So wie die Apostel neue Kirchen gestiftet hatten, sollte nun in Preußen eine neue apostolische Kirche gestiftet werden. An der  Spitze des kirchlichen Systems sollte ein König von  Gottes Gnaden stehen, ihm untergeben ein Erzbischof  nach dem Vorbild der anglikanischen Kirche in England  – eine katholische Struktur mit evangelischen Lehren.  Der König ist 45 Jahre, das Konzept ist das eines poetischen Charakters, illusionär, romantisch – aber es schließt Toleranz gegenüber anderen Strömungen ein – aber außerhalb der Kirche. Die Kirche soll rein bleiben.  1845/46 trägt der nunmehrige König seine Vorstellungen einer Kirchenreform in zwei Aufsätzen noch-mals vor – mit Änderungen in der Struktur der Kirchenleitung. Eine letzte Niederschrift stammt von der Jahreswende 1847/48, schon pessimistisch gehalten, das Scheitern dieser Ideen war offensichtlich.  Der Ablauf der auf Weisung des Königs seit 1840 einberufenen Synoden zeigte, dass sich die evangelischen Pfarrer Preußens mit den Ideen Friedrich Wilhelms IV nicht anfreunden konnten und wollten. Die liberalen, weltoffenen Pfarrer hatten besonders in der Provinz Brandenburg die Mehrheit. Auf der Brandenburgischen Provinzialsynode vom 8. November 1844 wurde eine vom Staat unabhängige Kirchenverfassung gefordert. Der Bericht der Verfassungskommission verwarf explizit alle Ideen einer Ordination oder Weihe der Pfarrer im Sinne einer ununterbrochenen Abfolge seit den Aposteln, also genau der Lieblingsidee des Königs. Als führender Kopf der liberalen Mehrheit trat in Berlin der Pfarrer an der Nikolaikirche, Ludwig Jonas (1797-1859), Anhänger und später Herausgeber des Nachlasses Schleiermachers, hervor. Seit 1845 hatte er gemeinsam mit Sydow die „Zeitschrift für die unirte evangelische Kirche“ herausgegeben, das publizistische Zentrum der evangelischen Linken. Jonas war 1844 Mitbegründer des großen Berliner Handwerker- Vereins, wurde 1848 in die Verfassungsgebende Preußische Versammlung gewählt, gehörte ihr bis November 1848 an, war 1858/59 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.  Auf der konservativen Seite heißen die Führer Otto  von Gerlach, Pfarrer mit großem sozialen Engagement,  ab 1833 im Berliner Vogtland (Elisabethkirche in der  Invalidenstraße) und Ernst Wilhelm Hengstenberg,  Theologie-Professor an der Berliner Universität, der ab  1827 die Evangelische Kirchenzeitung herausgab.  Scheitelpunkt der Auseinandersetzungen war die vom König einberufene Pfingstsynode der evangelischen Kirche Preußens, die so genannte Generalsynode von 1846. Sie setzte sich aus geistlichen und weltlichen Würdenträgern zusammen, Vorsitzender war Kultusminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn, Stellvertreter der von der Synode gewählte Bischof  Daniel Amadeus Neander.  Auch in dieser Versammlung dominierten die Liberalen der Schleiermacher-Richtung (59 von 75 Mitgliedern), der führende Kopf der Linken innerhalb der  Liberalen war Adolph Sydow. Obwohl die Synode in einem Gesamtkompromiss bezüglich der Kirchenverfassung endete, war sie doch eine Niederlage für den König und die Konservativen. Sie wurde am 29. August 1846 vertagt und nicht wieder einberufen.Die wichtigste Erkenntnis: Die Synode hatte gezeigt, dass die Kirche ebenso wie die gesamte Gesellschaft im Vormärz politisiert und polarisiert war.

In diese explosive Situation fliegen die Funken des März 1848.  Am Nachmittag, Abend und in der Nacht des 18.  März (Samstag) liegt die Garnisonkirche unmittelbar im Frontbereich. Sie wird zwar noch vom Militär verteidigt, ist aber ringsum von Demokraten belagert; Barrikaden stehen an der Herkulesbrücke, der Spandauer Brücke, in der nördlichen Burgstraße zwischen Herkulesbrücke und Neuer Friedrichstraße.  Weiterhin haben die Aufständischen Barrikaden am Hackeschen Markt, an den Zugängen zum Schloss Monbijou, innerhalb der Neuen Friedrichstraße an der Kreuzung Klosterstraße errichtet. Das Militär in Bataillonsstärke hat Posten gefasst in der Nähe der Marienkirche und in der Klosterstraße, an der Kreuzung Königstraße.  Garnisonpfarrer Ziehe ist einer der Verteidiger der Kirche, wie uns Georg Goens berichtet: „Und in der That, einen königstreueren Mann hat’s wohl gegeben.  Als die Flut revolutionärer Gedanken und Thaten im Jahre 1848 auch durch Berlin rauschten, da stand der alte Ziehe mit dem Volke in Waffen, wie eine Säule zu dem ,Königthum von Gottes Gnaden‘. In unmittelbarer Nähe der Garnisonkirche, an der Ecke der Spandauer Straße, hatten die Aufrührer eine Barrikade gebaut, und da Droschken und Fässer nicht mehr zur Stelle  waren, machte man sich daran, die Kirche zu erbrechen, um mit den Bänken die Lücken auszufüllen. Da  eilte der Pfarrer mit seinem Töchterchen hinab auf die  Straße und deckte mit seinem Leibe die Kirchenthür,  und das Bild des hünenhaften, greisen Geistlichen und  neben ihm das des tapferen jungen Mädchens machte  auf den Pöbel einen solchen Eindruck, daß sie die  Kirche beschämt verließen.“  Das Militär wird zurückgezogen, auf beiden Seiten wird die Bilanz aufgemacht und es werden die Toten bestattet – mit und ohne militärischen Ehren, aber mit religiöser Feier.

Die Aufbahrung der Toten erfolgt in Sydows Neuer Kirche. Nach einem feierlichen Marsch durch die Stadt erfolgt die Beisetzung der 183 Barrikadenkämpfer am 22. März 1848 im Friedrichshain, an der auf Befehl des  Königs die gesamte Berliner Geistlichkeit im Ornat teilzunehmen hatte!  Die Leichenpredigt an den Gräbern  hält Adolph Sydow für die Evangelischen. Der Eindruck der Rede ist so gewaltig, dass Sydow zur Kandidatur für die Wahlen zur Preußischen Verfassungsgebenden Versammlung gedrängt und im Mai 1848 für den 5.  Berliner Bezirk im ersten Wahlgang zum Mitglied gewählt wird. Adolph Sydow ist einer von den 50 Geistlichen, die eines der 395 Abgeordnetenmandate erringen?  In den parlamentarischen Sitzungen zeigte sich bald, dass Sydow kein Revolutionär war. In wichtigen Fragen stimmte der königstreue Prediger mit den Konservativen, so dass er auf dem Platz vor dem Parlament im  „Kastanienwäldchen“ am 9. Juni 1848 durch aufgebrachte Demonstranten aus Enttäuschung und Wut vor  der Tür der Tagungsstätte beschimpft, bedroht und tätlich angegriffen wurde.

Die konservative Haltung Sydows zeigte sich auch im Juni 1848 während des Zeughaussturms und im November 1848, als er und Jonas der Aufforderung des Königs folgen, nach Verkündung des Ausnahmezustandes nach Brandenburg zu ziehen, während die revolutionäre Minderheit des Parlaments dem König die  Stirn bietet und in Berlin bleibt. Das Kapitel Revolution ist abgeschlossen. Sydows parlamentarisches Mandat war erloschen, um ein neues hat er sich – trotz mehrfacher Aufforderung – nicht beworben.

Noch zweimal gerät er in politische Turbulenzen. Im Jahre 1859 begeht Berlin den 100. Geburtstag Friedrich Schillers. Der Magistrat beauftragt Sydow mit einer Gedenkrede zur Grundsteinlegung eines Denkmals auf dem Gendarmenmarkt. Die konservative Hofpartei und persönlich Wilhelm I., Prinzregent, später preußischer König und deutscher Kaiser, haben das Denkmal zu Ehren des Dichters der „Räuber“ nicht verhindern können, nun aber wollen sie wenigstens die Feierlichkeiten in ihrer Wirkung begrenzen. Wenn schon der populäre Sydow Redner sein soll, dann aber in „Zivil“, nicht im Talar eines Pfarrers der Landeskirche, an deren Spitze eben der Regent stand. Sydow  antwortet auf die Provokation mit den Worten: „Sagen Sie Sr. Königlichen Hoheit, der Talar sei meine Uniform, und er würde doch keinem Offizier eine Handlung zu vollziehen gestatten, zu der er genöthigt sei,  seines Königs Rock vorher auszuziehen.“°  Wie Menzels Zeichnung dokumentiert, hat Sydow  seine Rede im Talar gehalten. Wilhelm, der Prinzregent, zog es vor, in Abänderung des vereinbarten Programms, sich nicht öffentlich zu zeigen. Hinter den Gardinen eines Gebäudes mit Sicht auf den Gendarmenmarkt (Preußische Seehandlung) hat er die Zeremonie beobachtet.

Der zweite Anlass, der ihn nochmals in Widerspruch zum Hof bringt, ist ein öffentlicher Vortrag am 12.  Januar 1872 zum Thema „Die wunderbare Geburt Jesu“ in einer Veranstaltungsreihe des Berliner Unionsvereins. Sydow weist nach, dass die jüdische Vorstellung der Gottessohnschaft oder Messianität eine andere gewesen sei als die später aufgekommene christliche Lehre. Er lässt die Quellen des Neuen Testaments sprechen, die Jesus als den Sohn Josephs bezeichnen?  Der Vortrag erregte Aufsehen, die Zeitungen berichteten darüber – das Königliche Konsistorium der Provinz Brandenburg forderte Sydow zur Stellungnahme auf – es habe Proteste gegeben. Angesichts des öffentlichen Interesses der Debatte in den Berliner Zeitungen und der starken Unterstützung für Sydow in der Stadt bis zum Magistrat und zur Stadtverordnetenversammlung statuierte die Kirchenleitung auf Druck des Hofes ein Exempel: Sydow wurde des Amtes enthoben. Als der Druck der Öffentlichkeit zunahm, wandelte das Konsistorium die Strafe in einen scharfen Verweis um.  Schließlich ergeht es Adolph Sydow wie Johann Friedrich Walther und anderen historischen Gestalten – sie sind entweder vergessen oder nur den Experten mit einer Seite ihres Wirkens bekannt. Im Biographisch- Bibliographischen Kirchenlexikon von 1969 ist er zwar als Theologe mit einer Doppelspalte vertreten – aber ohne Bezug zu seinen politischen Aktivitäten 1848 – und natürlich auch ohne Bezug zu den besonderen Umständen von Geburt und Taufe.  Ebenfalls gibt es keinen Bezug im der Gedenktafel an Sydow Kirche am Gendarmenmarkt  zu seiner Person – leider!

Dieter Weigert, Berlin , überarbeitet im Juli 2022

Autor: Sternberlin

Dr. phil. habil.(Philosophie und politische Wissenschaften) , inzwischen Pensionär - aktiv in Denkmalschutz und Denkmalpflege, besonders Kirchen und historische Friedhöfe in Berlin an Wochenenden - unter der Woche in unregelmäßigen Abständen engagiert in Lehrerfortbildung (Geschichte, Architektur, Literatur und Theater,Bildende Kunst)

29 Kommentare zu „Ein Wehrdienstverweigerer vor 222 Jahren “

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